23. März 2020

Chronologie einer aussergewöhnlichen Woche


Die Stühle stehen auf den Pulten, darauf liegen Finken. Lea sitzt als einziges Kind im Zimmer und liest. Ab und zu blickt sie rüber zur Lehrerin und zum Lehrer, die vor ihren Laptops sitzen und diskutieren. «Nicht so cool», sagt die Zweitklässlerin auf die Frage, wie es denn sei, so alleine im Schulzimmer zu sitzen. Es ist Montagmorgen, 9 Uhr. Normalerweise würden im Zimmer von Primarlehrer Christian Hugi im Zürcher Schulhaus «Am Wasser» 17 Mädchen und Knaben ihre Aufgaben lösen.
Wenn die Schule wegen Corona geschlossen bleibt, NZZaS, 22.3. von René Donzé

Doch heute ist nichts normal. Es ist Tag eins der landesweiten Schulschliessung. Gut zwanzig Lehrerinnen und Lehrer haben sich um 8 Uhr im Lehrerzimmer «Am Wasser» versammelt, nachdem sie übers Wochenende Elternbriefe verschickt haben, Telefone beantwortet. Schulleiter Martin Grossenbacher sagt: «Die Situation ist schwierig für alle Beteiligten.» Und er legt die Prioritäten fest: «Am wichtigsten ist die Gesundheit, haltet euch an die Regeln, bleibt zu Hause, wenn ihr Symptome habt. Zweitens müssen wir sicherstellen, dass alle Kinder betreut sind. Erst an dritter Stelle kommen schulische Aspekte.»

Angst um benachteiligte Kinder
Montag, 10 Uhr. Christian Hugi telefoniert: «Grüezi, ich wollte nur sichergehen, dass Sie meine Mitteilung erhalten haben» ... «Sie müssen sich nicht entschuldigen, Sie haben jetzt ja genug um die Ohren.» ... «Nein, es gibt noch keine konkreten Aufträge.» ... Die Parallelklassen-Lehrerin kommt zur Besprechung. Auf der Unterstufe stellen sich tausend Fragen. «Tage des Chaos» hatte Bildungsdirektorin Silvia Steiner am Freitag, dem 13. März, vorausgesagt, als sie die Schulschliessung bekanntgab.

«Am Wasser» herrscht Betriebsamkeit. Welche Aufträge geben wir den Kindern? Wie kommen sie zu ihrem Material? Wie stellt man sicher, dass sie auch basteln, sich bewegen? Lehrerinnen zeigen digital weniger bewanderten Kollegen geeignete Programme.
11 Uhr. Zweite Teamsitzung. Jemand legt einen ausgeklappten Zollstock auf den Tisch. «Das sind zwei Meter», sagt er. Die Lehrer rücken auseinander. Der Schulleiter sagt, dass von den rund 300 Kindern an diesem Morgen nur 3 eine Notbetreuung brauchten. Auch für die kommenden Tage sind nur wenige angekündigt. Betreut werden auf Weisung der Stadt nur Kinder von Eltern, die in systemrelevanten Bereichen - etwa dem Gesundheitswesen - arbeiten und die keine private Lösung gefunden haben. Ein paar hundert werden es sein in der ganzen Stadt.

Doch sind das wirklich die einzigen in Notlage? Montag, 13 Uhr. Kurt Albermann, Chefarzt und Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums am Kantonsspital Winterthur, ruft den Journalisten an und warnt: «Wir müssen uns unbedingt besser um die Kinder kümmern, die zu Hause in schwierigen Situationen leben», sagt er.

Kinder etwa von psychisch oder suchtkranken Eltern, Kinder von überforderten Eltern und solchen, die unsere Sprache nicht verstehen. «Sie drohen zu den grossen Verlierern dieser Krise zu werden», sagt der Fachmann. Das sind nicht wenige. Die Forschung geht davon aus, dass in der Schweiz etwa jedes zehnte Kind in einer bildungsfernen oder belasteten Familie aufwächst.

Heilpädagogik-Professor Andrea Lanfranchi ist Spezialist, wenn es um kindliche Entwicklung geht. «Das seit je bestehende Problem der ungleich verteilten Bildungschancen wird krass zunehmen», warnt er. Privilegierte Eltern nutzten nun die Chance, mit ihren Kindern Dinge zu tun, die sie weiterbringen. Wenig Privilegierte waren schon vorher nicht gewöhnt, sich mit ihren Kindern bei Schulsachen zu beschäftigen. Der oberste Kinder- und Jugendpsychologe der Schweiz, Philipp Ramming, will darum die Schule als Zufluchtsort offen halten.

Der erste Corona-Fall im Schulhaus
Solche Probleme kennt man im Schulhaus «Am Wasser» kaum. Mittwoch, 8 Uhr 30. Vor der Tür steht ein Lehrer und lässt Eltern nur einzeln ins Schulhaus. Im ersten Stock hat eine Lehrerin ihr Pult in den Gang gestellt, auf der Garderobenbank liegen die Beigen mit Schulmaterial bereit zum Abholen. Bei den 5. und 6. Klassen ist ein Tablet dabei. Christian Hugi sitzt im Zimmer, liest all die Mails der Schulleitung, der Behörden, der Eltern. In einem steht, dass sich ein Mitglied des Schulteams mit dem Virus infiziert hat. Der erste Fall im Schulhaus ist eingetreten.

Eine Mutter holt Schulmaterial für den Sohn ab. «Welche Kompetenzziele muss Hans bis nach den Frühlingsferien erreicht haben?», fragt sie. «Und kann ich noch mehr Matheblätter haben? Er ist mit Nummer 4 bald durch.» Das Schulhaus liegt in Zürich Höngg, wo überdurchschnittlich viele Akademiker wohnen. Als Präsident des Zürcher Lehrerverbands teilt Hugi die Sorgen der Pädiater, Heilpädagogen und Psychologen. «Doch hier müssen wir eher aufpassen, dass die Eltern ihre Kinder nicht überfordern.»

In der Pause um 10 Uhr versammelt sich nur noch eine Handvoll Lehrerinnen. Eine bedient die Kaffeemaschinen mit Plastikhandschuhen. Für viele ist es die letzte Zusammenkunft für eine lange Zeit. Niemand weiss, wie es nach den Frühlingsferien weitergeht.

Digitaler Schub für die Schulen
Freitag, 17 Uhr 30. Christian Hugi sitzt zu Hause am Telefon. Nur wer wirklich muss, geht noch ins Schulhaus. Als Verbandspräsident hat er sich mit vielen Lehrern ausgetauscht. «Es ist erstaunlich, was in dieser kurzen Zeit alles entstanden ist an den Schulen», sagt er. Die Digitalisierung der Schule werde einen Schub erhalten.

«Auf der Mittel- und Oberstufe wird in Zukunft sicher mehr online gearbeitet.» Was sich aber auch zeigte: Viele Schüler vermissten ihre Lehrer jetzt schon sehr. Hugi hat allen Eltern telefoniert und sich erkundigt, wie es laufe. Oft wollten auch die Kinder mit ihm sprechen. «Die Schüler haben in diesen ersten Tagen ziemlich Gas gegeben», sagt er. Nun gehe es darum, Mass zu finden und Routine zu entwickeln, um über die kommenden Wochen und Monate zu kommen.

Namen der Kinder geändert.


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