Die Stühle stehen auf den Pulten, darauf liegen Finken. Lea sitzt als
einziges Kind im Zimmer und liest. Ab und zu blickt sie rüber zur Lehrerin und
zum Lehrer, die vor ihren Laptops sitzen und diskutieren. «Nicht so cool», sagt
die Zweitklässlerin auf die Frage, wie es denn sei, so alleine im Schulzimmer
zu sitzen. Es ist Montagmorgen, 9 Uhr. Normalerweise würden im Zimmer von
Primarlehrer Christian Hugi im Zürcher Schulhaus «Am Wasser» 17 Mädchen und
Knaben ihre Aufgaben lösen.
Wenn die Schule wegen Corona geschlossen bleibt, NZZaS, 22.3. von René Donzé
Doch heute ist nichts normal. Es ist Tag eins der landesweiten
Schulschliessung. Gut zwanzig Lehrerinnen und Lehrer haben sich um 8 Uhr im
Lehrerzimmer «Am Wasser» versammelt, nachdem sie übers Wochenende Elternbriefe
verschickt haben, Telefone beantwortet. Schulleiter Martin Grossenbacher sagt:
«Die Situation ist schwierig für alle Beteiligten.» Und er legt die Prioritäten
fest: «Am wichtigsten ist die Gesundheit, haltet euch an die Regeln, bleibt zu
Hause, wenn ihr Symptome habt. Zweitens müssen wir sicherstellen, dass alle
Kinder betreut sind. Erst an dritter Stelle kommen schulische Aspekte.»
Angst um benachteiligte Kinder
Montag, 10 Uhr. Christian Hugi telefoniert: «Grüezi, ich wollte nur
sichergehen, dass Sie meine Mitteilung erhalten haben» ... «Sie müssen sich
nicht entschuldigen, Sie haben jetzt ja genug um die Ohren.» ... «Nein, es gibt
noch keine konkreten Aufträge.» ... Die Parallelklassen-Lehrerin kommt zur
Besprechung. Auf der Unterstufe stellen sich tausend Fragen. «Tage des Chaos»
hatte Bildungsdirektorin Silvia Steiner am Freitag, dem 13. März, vorausgesagt,
als sie die Schulschliessung bekanntgab.
«Am Wasser» herrscht Betriebsamkeit. Welche Aufträge geben wir den
Kindern? Wie kommen sie zu ihrem Material? Wie stellt man sicher, dass sie auch
basteln, sich bewegen? Lehrerinnen zeigen digital weniger bewanderten Kollegen
geeignete Programme.
11 Uhr. Zweite Teamsitzung. Jemand legt einen ausgeklappten Zollstock
auf den Tisch. «Das sind zwei Meter», sagt er. Die Lehrer rücken auseinander.
Der Schulleiter sagt, dass von den rund 300 Kindern an diesem Morgen nur 3 eine
Notbetreuung brauchten. Auch für die kommenden Tage sind nur wenige
angekündigt. Betreut werden auf Weisung der Stadt nur Kinder von Eltern, die in
systemrelevanten Bereichen - etwa dem Gesundheitswesen - arbeiten und die keine
private Lösung gefunden haben. Ein paar hundert werden es sein in der ganzen
Stadt.
Doch sind das wirklich die einzigen in Notlage? Montag, 13 Uhr. Kurt
Albermann, Chefarzt und Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums am
Kantonsspital Winterthur, ruft den Journalisten an und warnt: «Wir müssen uns
unbedingt besser um die Kinder kümmern, die zu Hause in schwierigen Situationen
leben», sagt er.
Kinder etwa von psychisch oder suchtkranken Eltern, Kinder von
überforderten Eltern und solchen, die unsere Sprache nicht verstehen. «Sie
drohen zu den grossen Verlierern dieser Krise zu werden», sagt der Fachmann.
Das sind nicht wenige. Die Forschung geht davon aus, dass in der Schweiz etwa
jedes zehnte Kind in einer bildungsfernen oder belasteten Familie aufwächst.
Heilpädagogik-Professor Andrea Lanfranchi ist Spezialist, wenn es um
kindliche Entwicklung geht. «Das seit je bestehende Problem der ungleich
verteilten Bildungschancen wird krass zunehmen», warnt er. Privilegierte Eltern
nutzten nun die Chance, mit ihren Kindern Dinge zu tun, die sie weiterbringen.
Wenig Privilegierte waren schon vorher nicht gewöhnt, sich mit ihren Kindern
bei Schulsachen zu beschäftigen. Der oberste Kinder- und Jugendpsychologe der
Schweiz, Philipp Ramming, will darum die Schule als Zufluchtsort offen halten.
Der erste Corona-Fall im Schulhaus
Solche Probleme kennt man im Schulhaus «Am Wasser» kaum. Mittwoch, 8 Uhr
30. Vor der Tür steht ein Lehrer und lässt Eltern nur einzeln ins Schulhaus. Im
ersten Stock hat eine Lehrerin ihr Pult in den Gang gestellt, auf der
Garderobenbank liegen die Beigen mit Schulmaterial bereit zum Abholen. Bei den
5. und 6. Klassen ist ein Tablet dabei. Christian Hugi sitzt im Zimmer, liest
all die Mails der Schulleitung, der Behörden, der Eltern. In einem steht, dass
sich ein Mitglied des Schulteams mit dem Virus infiziert hat. Der erste Fall im
Schulhaus ist eingetreten.
Eine Mutter holt Schulmaterial für den Sohn ab. «Welche Kompetenzziele
muss Hans bis nach den Frühlingsferien erreicht haben?», fragt sie. «Und kann
ich noch mehr Matheblätter haben? Er ist mit Nummer 4 bald durch.» Das
Schulhaus liegt in Zürich Höngg, wo überdurchschnittlich viele Akademiker
wohnen. Als Präsident des Zürcher Lehrerverbands teilt Hugi die Sorgen der
Pädiater, Heilpädagogen und Psychologen. «Doch hier müssen wir eher aufpassen,
dass die Eltern ihre Kinder nicht überfordern.»
In der Pause um 10 Uhr versammelt sich nur noch eine Handvoll
Lehrerinnen. Eine bedient die Kaffeemaschinen mit Plastikhandschuhen. Für viele
ist es die letzte Zusammenkunft für eine lange Zeit. Niemand weiss, wie es nach
den Frühlingsferien weitergeht.
Digitaler Schub für die Schulen
Freitag, 17 Uhr 30. Christian Hugi sitzt zu Hause am Telefon. Nur wer
wirklich muss, geht noch ins Schulhaus. Als Verbandspräsident hat er sich mit
vielen Lehrern ausgetauscht. «Es ist erstaunlich, was in dieser kurzen Zeit
alles entstanden ist an den Schulen», sagt er. Die Digitalisierung der Schule
werde einen Schub erhalten.
«Auf der Mittel- und Oberstufe wird in Zukunft sicher mehr online
gearbeitet.» Was sich aber auch zeigte: Viele Schüler vermissten ihre Lehrer
jetzt schon sehr. Hugi hat allen Eltern telefoniert und sich erkundigt, wie es
laufe. Oft wollten auch die Kinder mit ihm sprechen. «Die Schüler haben in
diesen ersten Tagen ziemlich Gas gegeben», sagt er. Nun gehe es darum, Mass zu
finden und Routine zu entwickeln, um über die kommenden Wochen und Monate zu
kommen.
Namen der Kinder geändert.
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