Der Präsident der Schweizer Kinderpsychologen, Philipp Ramming, warnt
vor den Folgen, wenn die Familien auf sich alleine gestellt sind.
Schulpsychologe: «Die Schulen müssen als Schutzort dienen», NZZaS, 22.3. von René Donzé
NZZ am Sonntag: Die Schulen bleiben für Wochen, wenn nicht Monate
geschlossen, das müsste für die Schüler doch ein Traum sein.
Philipp Ramming: Unter normalen Umständen wäre das so - aber nicht
unter Corona-Konditionen.
Wie meinen Sie das?
Die Kinder sind jetzt quasi zu Hause eingesperrt. Sie haben viel weniger
Gelegenheiten zum Ausgleich und zur Entspannung, viel weniger direkte soziale
Kontakte mit Gleichaltrigen und weniger Bewegung. Zudem sind sie rund um die
Uhr ihren Eltern ausgesetzt. Das kann zu Reibereien führen. Dabei ist die
psychische Gesundheit jetzt besonders wichtig, weil sie auch das Immunsystem
stärkt.
Welche Familien sind im Moment besonders gefährdet?
Schwierig ist es, wenn die Eltern psychisch nicht belastbar sind, selber
grosse Probleme haben und wenig Energie für ihre Kinder aufbringen. Für sie war
die Schule eine Entlastung, die nun wegfällt. Überfordert sein können auch
Eltern, die beide berufstätig sind und normalerweise die Kinderbetreuung
weitgehend den Schulen und Horten delegieren: Jetzt müssen sie sich selber um
sie kümmern und vielleicht daneben noch im Home-Office arbeiten. Oder Paare mit
klassischer Rollenteilung: Plötzlich sitzt der Mann die ganze Zeit zu Hause,
will sich in die Erziehung einmischen. Im dümmsten Fall entladen sich all diese
Spannungen am Kind.
Was muss passieren, damit die Situation für Eltern und Kinder nicht zum
Albtraum wird?
Es braucht Entlastung, Entlastung und nochmals Entlastung.
Das heisst?
Es ist wichtig, dass die Lehrer den Eltern mithelfen, den Tagesablauf
der Kinder zu strukturieren. Sie brauchen vor allem Halt und klare Regeln. Und
Anregungen. Es muss nicht alles pädagogisch wertvoll sein, was sie tun. Es kann
auch einfach lustvolles Entdecken sein. Die Eltern sollten auch nicht zu viel
von den Kindern erwarten. Den Stoff können sie später nachholen. Sehr wichtig
ist auch, dass die Lehrer die Beziehung zu den Schülern aufrechterhalten,
regelmässig anrufen, mailen oder chatten. Ich sehe, dass die meisten
Lehrerinnen und Lehrer in dieser schwierigen Zeit diesbezüglich tolle Arbeit
leisten.
Das nützt Kindern in belasteten Familien kaum etwas. Sie haben ganz
andere Probleme, wenn ihre Eltern die Nerven verlieren.
Gerade deshalb ist der Kontakt der Lehrer zu den Kindern so wichtig. So
können sie belastete Situationen erkennen und wenn nötig Fachleute wie den
Schulpsychologischen Dienst oder die Schulsozialarbeit einschalten. Zudem
sollte jede Schule ein Betreuungsangebot aufrechterhalten. Wir dürfen die
Schulhäuser nicht komplett schliessen. Schulen müssen den Kindern als Schutzort
dienen, wenn die Situation zu Hause unerträglich wird.
Die Schulschliessungen waren also ein Fehler?
Aus epidemiologischer Sicht war das sicher richtig. Aber aus
psychologischer Sicht braucht es Ventile, damit nicht andere Schäden verursacht
werden.
Werden nun die schulpsychologischen Beratungen zunehmen?
Ich glaube, dass die Zunahme erst dann erfolgt, wenn die Krise
überstanden ist. Im Moment reduzieren die Schulpsychologischen Dienste die
Kontakte ebenfalls auf das Allernötigste. Aber wenn der Regelbetrieb wieder
aufgenommen wird, gibt es für uns - das heisst für viele Kinder - wohl einiges aufzuarbeiten.
Und einige müssen sich wieder an einen klar geregelten und strukturierten
Schulbetrieb gewöhnen.
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