Auch
in der jüngsten Pisastudie zum weltweiten Schulvergleich sind die Werte der
Schweiz gesunken, besonders im Lesen und vor allem in der Gruppe der
schulschwachen 15-Jährigen. Dieser Trend wird aber noch viel problematischer,
wenn man eine Sonderauswertung von Pisa berücksichtigt: Während in Deutschland
der Anteil von Schulkindern mit guten Leistungen trotz sozial benachteiligtem
Elternhaus von 25 auf 32 Prozent erfreulich gestiegen ist, hat sich dieser
Anteil in der Schweiz von 30 auf 27 Prozent verringert.
Förderung der Kinder kann gar nicht früh genug beginnen, NZZaS, 16.2. von Andrea Lanfranchi
Der
Weg zu mehr Chancengerechtigkeit bleibt hierzulande also steil und steinig. Aus
Forschung und Praxis wissen wir heute jedoch, dass er geebnet werden kann – mit
präventiven Massnahmen der Frühförderung. Alle reden davon und vieles wurde in
den letzten Jahren realisiert. Warum nur kommen wir dennoch nicht vom Fleck?
Warum sehen wir in der Schule keine nachhaltige Wirkung?
Erstens,
weil nur wenige Massnahmen so früh und intensiv eingesetzt werden, dass sie
sich nachhaltig auswirken können. Zum Beispiel kommt eine Spielgruppe für
dreijährige Kinder aus belasteten Verhältnissen zu spät, und ihre Dauer ist zu
kurz. Das Hausbesuchsprogramm PAT hingegen wird ab Geburt eingesetzt und geht
über drei Jahre. Zweitens, weil heute nur wenige Massnahmen so aufgebaut sind,
dass sie Eltern in Risikosituationen tatsächlich erreichen, das sind geschätzte
10 Prozent aller Familien. Diese Familien müssen angesichts beschränkter Mittel
im Fokus der öffentlich finanzierten Frühförderung sein. Bei ihnen gibt es pro
investierten Franken die grössten Erfolge, also gewissermassen die beste
Rendite.
Eine
kohärente Politik der frühen Kindheit bei Bund, Kantonen und Gemeinden ist in
der Schweiz dringender denn je. Dank laufenden parlamentarischen Vorstössen
unter anderem von Matthias Aebischer und Christoph Eymann liegt ein Durchbruch
in greifbarer Nähe. Die Unesco-Kommission hat zusammen mit der Kampagne Ready
eine nationale Strategie lanciert. Es besteht ein parteiübergreifender Konsens
darüber, dass in der Altersspanne 0 bis 4 investiert werden muss. Es geht dabei
keineswegs nur um Kindertagesstätten und auch nicht um den Trend zu
Sprachförderkursen in einigen Kantonen. Es geht vielmehr um familiäre
Bedingungen und um Lernorte, die geschaffen werden müssen, damit für jedes
Kind gerechte Chancen auf eine bestmögliche Entwicklung gewährleistet sind. Je
nach Situation und ganz besonders bei sozial benachteiligten Familien braucht
es eine gezielte und intensive Unterstützung der Eltern. Auf die Stärkung ihrer
Erziehungskompetenz kommt es an, weil die Eltern Angelpunkt der Entwicklung
ihrer Kinder sind.
Sind
die Eltern nicht übermässig belastet, in ihrem Wohnumfeld vernetzt und von
Anfang an in feinfühliger Interaktion mit ihrem Kind, sind die Chancen für eine
gesunde und erfolgreiche Entwicklung intakt. Was hingegen, wenn die Eltern arm
und sozial isoliert sind? Bei Belastungen kommt es vor, dass Eltern nur wenig
mit dem Kind sprechen und vorwiegend nach Wörtern fragen («Was ist das?») oder
Befehle erteilen («Lass das!»). Dann ist der Erziehungsalltag wenig
förderlich, manchmal sogar vernachlässigend. Nach einer Studie der
amerikanischen Psychologen Betty Hart und Todd R. Risley haben Kinder von
Eltern, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, im Alter von drei Jahren 30 Millionen
Wörter weniger gehört als die Kinder von wohlhabenden Eltern. Diese Lücke hat
direkte Auswirkungen auf ihren Wortschatz: Die Dreijährigen aus armen Familien
beherrschten durchschnittlich 525 Wörter, die Kinder aus begüterten
Verhältnissen dagegen 1116.
Welche
konkreten Schritte lassen sich daraus ableiten? Mit besonderem Augenmerk auf
Familien in Risikosituationen braucht es zuerst einmal die Früherkennung. Wenn
wir an die heute bestehenden Strukturen anknüpfen, so wird dabei die Mütter-
und Väterberatung eine zentrale Rolle spielen. Ein flächendeckender Zugang zu
allen Familien wäre hingegen erst mit obligatorischen kinderärztlichen
Untersuchungen möglich. Ein solcher Eingriff in die Privatsphäre ist in
Anbetracht des Kindeswohls und des öffentlichen Interesses aber durchaus
vertretbar. Heute sind von Gesetzes wegen drei schulärztliche Untersuchungen
vorgeschrieben. Dazu kämen neu drei vorschulische Untersuchungen rund um den
ersten, zweiten und dritten Geburtstag. Solche Untersuchungen würden ein
frühzeitiges Handeln in Form massgeschneiderter Massnahmen möglich machen, von
der heilpädagogischen Früherziehung bei Behinderungen bis hin zu Hausbesuchen
mit einem Förderprogramm bei hoher familiärer Belastung oder frühe Sprachförderung
bei geringen Risiken.
Andrea Lanfranchi ist Professor an der HfH Zürich
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