16. Februar 2020

Einfluss des Wohnkantons auf die Bildungschancen


Es gibt Kinder, die in diesen Monaten nicht viel von ihrer Kindheit haben. Hobbys, Freundinnen, Faulenzen, das alles hat zweite Priorität. Stattdessen wird gelernt. In jeder freien Minute. Entweder mit der Hilfe eines privaten Lerninstituts oder eines Elternteils, das zeitlich und fachlich die Möglichkeit dazu hat. 


So ungerecht ist unser Bildungssystem, Sonntagszeitung, 16.2. von Rico Bandle

Spricht man mit gewissen Eltern, so hat man das Gefühl, nicht ihr Kind, sondern sie selber stünden vor der alles entscheidenden Prüfung, dermassen sind sie involviert. Andere lagern die Arbeit aus und bezahlen viel Geld für Vorbereitungskurse.

Im Kanton Zürich, wo viele Eltern ihre Kinder ins Gymnasium drängen, ist die Aufnahmeprüfung ein Riesengeschäft geworden. Unzählige Firmen umwerben Schüler und zahlungswillige Eltern für ihre Kurse, die zum Teil mehrere Tausend Franken kosten.
In anderen Kantonen kennt man dies kaum. Entweder weil es gar keine Prüfung gibt – dort zählen die Zeugnisnoten oder die Empfehlung des Lehrers – oder weil dieser Bildungsweg nicht denselben Stellenwert geniesst. 

Die Matura, so heisst das Abschlussdiplom am Gymnasium, ist die Eintrittskarte zur Universität. Sie ermöglicht freien Zugang zu allen Studiengängen in der Schweiz, ausser zur Medizin, wo ein zusätzlicher Eignungstest verlangt wird. Entsprechend begehrt ist dieser Ausbildungsgang. 

Dass die Zulassungskriterien zu den Gymnasien von Kanton zu Kanton zum Teil enorm abweichen, erachten viele Eltern als ungerecht. Dies nicht zu Unrecht. Die sechs stossendsten Punkte im Überblick. 

1. In Genf ist es am einfachsten

Im Kanton Genf gehen rund 45 Prozent aller Schüler ans Gymnasium, im Kanton Schaffhausen nur 15 Prozent. Grundsätzlich gilt: In der Westschweiz und im Tessin drängen mehr Kinder ans Gymi als in der Deutschschweiz, in städtischen Gebieten mehr als in ländlichen. 

Der Grund liegt nicht nur darin, dass in diesen Kantonen der gymnasiale Bildungsweg einen höheren Stellenwert geniesst, auch die Eintrittshürden sind bedeutend tiefer, wie Bildungsökonom Stefan Wolter festgestellt hat. 

Trotzdem lohnt sich für ehrgeizige Eltern ein Umzug in einen anderen Landesteil kaum. In Kantonen mit einem hohen Anteil an Kindern am Gymnasium ist die Ausfallquote während der Schulzeit deutlich höher. Und auch danach, im Studium, sind die Schüler im Durchschnitt weniger erfolgreich (siehe Punkt 6). 

2. Nicht alle müssen eine Prüfung machen

In gewissen Kantonen entscheidet allein die Aufnahmeprüfung darüber, ob ein Kind ans Gymnasium darf, in anderen sind die Zeugnisnoten oder die Empfehlung des Lehrers massgebend. Auch Kombinationen sind verbreitet. Etwa, dass die letzten Schulnoten und die Prüfung zählen. 

In den meisten Kantonen mit hoher Gymnasialquote gibt es keine Prüfung. Dies nährt den Verdacht, dass Lehrpersonen Schülern mit Ambitionen eher gute Noten erteilen oder sie fürs Gymnasium empfehlen, um nicht in Konflikt mit ehrgeizigen Eltern zu geraten.

3. Reiche sind im Vorteil

Wo eine Aufnahmeprüfung verlangt wird, spielt die richtige Vorbereitung eine grosse Rolle. Zumal dort auch Stoff abgefragt wird, der in der Schule noch gar nicht durchgenommen wurde. Wer keine Hilfe hat, sei es von den Eltern oder von bezahlten Pädagogen, hat einen Nachteil. 

In Zürich ist daraus eine ganze Industrie für Vorbereitungskurse entstanden. Einwöchige Ferienkurse kosten zwischen 500 und 1000 Franken. Langfristige Vorbereitungen auf die Gymi-Prüfung sind deutlich teurer. Ein bekanntes Lerninstitut bietet zum Beispiel einen mehrere Monate dauernden Kurs mit 22 Terminen zum Preis von 3960 Franken an. Laut Eigenwerbung beträgt die Erfolgsquote der Teilnehmer 89 Prozent.

In Ostschweizer Kantonen wie Thurgau oder St. Gallen sind solche Kurse kaum verbreitet, obschon es auch dort eine Aufnahmeprüfung gibt. Das Gymnasium geniesst nicht denselben Stellenwert wie in Zürich. Entsprechend gibt es weniger Eltern, die ihre Kinder auf Teufel komm raus auf diese Schulen schicken wollen. Der Druck des Umfelds – dass man das eigene Kind in einen Vorbereitungskurs schickt, weil das die anderen auch tun – ist viel geringer. Entsprechend kleiner ist der Aufwand, der für die Prüfungsvorbereitung betrieben wird.

4. Migranten und Buben haben es schwerer

Oft wird moniert, das Zürcher System sei besonders ungerecht, weil Kinder von finanzschwachen und bildungsfernen Eltern an der Prüfung geringere Chancen hätten. Dies ist zwar korrekt, allerdings lässt sich nicht nachweisen, dass bei prüfungsfreien Übertritten eine gerechtere Selektion erfolgt. 

Entscheiden allein die Schulnoten oder die Empfehlung der Lehrpersonen, so sind die Schülerinnen und Schüler viel mehr der Willkür ausgesetzt. Nicht jede Lehrerin benotet gleich, und Empfehlungen sind immer subjektiv. Kinder von privilegierten Eltern werden laut Studien tendenziell bevorzugt – bewusst oder unbewusst.

Um die Chancengleichheit bei der Prüfung zu erhöhen, bieten in Zürich die öffentlichen Schulen seit einiger Zeit kostenlose Vorbereitungskurse an. Wer es sich leisten kann, wählt in der Regel trotzdem ein privates Angebot. Kritiker monieren, dass allein schon die Struktur der Prüfung Kinder mit Sprachproblemen benachteilige. Wer in Mathematik hochbegabt sei, aber Mühe mit der deutschen Sprache habe, könne die Prüfung kaum bestehen. Denn viele Mathematikaufgaben sind Textaufgaben voller sprachlicher Spitzfindigkeiten. 

Die Sprachlastigkeit ist nicht nur für Migranten ein Nachteil, auch die Buben, die tendenziell eher den mathematischen Fächern zugeneigt sind, haben damit zu kämpfen. Mädchen sind an den Schweizer Gymnasien mittlerweile klar in der Überzahl.

Welches Aufnahmeverfahren wäre das gerechteste? Die bekannte ETH-Intelligenzforscherin Elisabeth Stern sorgte vor einigen Jahren für Aufsehen, als sie nachwies, dass 40 Prozent der Schweizer Gymischüler gemäss ihrer Intelligenz am falschen Ort sind. Ihre Lösung für die Selektion wäre «eine Kombination aus Intelligenztest und Lehrerurteil», wie sie auf Anfrage sagt. Vor allem Kindern, die in Mathematik gut sind und die nur wegen der sprachlichen Fächer scheitern, sollte man ihrer Meinung nach via Intelligenztest einen Zugang ermöglichen. 

5. Grosse Unterschiede bei den Fächern

Welche Schwerpunktfächer von den Schülerinnen und Schülern an den Gymnasien gewählt werden, hängt stark vom Kanton ab. In Zürich entscheiden sich nur knapp 20 Prozent für ein zukunftsträchtiges Mint-Fach (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik). In den Kantonen Zug und Waadt ist der Anteil mit 40 Prozent doppelt so hoch. 

Den Schwerpunkt Wirtschaft und Recht wählen in Schaffhausen nur 13 Prozent der Schüler, in St.Gallen hingegen über 30 Prozent. Gemäss Fachleuten sind die grossen Unterschiede hauptsächlich mit dem Fächerangebot der jeweiligen Kantone zu erklären. Dies kann weitreichende Folgen haben. Das absolvierte Schwerpunktfach hat beträchtlichen Einfluss auf die Wahl des Studiums.

6. Basler scheitern eher an der Uni

Grundsätzlich gilt: je höher der Maturanden-Anteil in einem Kanton, desto grösser der Anteil der Studierenden, die an der Hochschule scheitern. In Genf macht rund ein Drittel aller Schüler die Matura, doch 16 Prozent von ihnen schaffen es nicht bis zu einem Studienabschluss. Auch wenn man nur die Deutschschweiz betrachtet, hat der Kanton Basel-Stadt einerseits die höchste Gymnasialquote (29,6 Prozent) und anderseits den höchsten Anteil an Studienabbrechern (11,5 Prozent). 

Das Gegenbeispiel ist Schaffhausen. Dort beträgt die Maturitätsquote 14 Prozent, die Abbruchquote im Studium bescheidene 5,5Prozent. In anderen Kantonen mit hohen Eintrittshürden ist das Verhältnis ähnlich. Dies deutet darauf hin, dass die Selektion nicht so schlecht funktioniert.

Das Schweizer System ist ein Flickenteppich – und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dies bald ändern wird. Immerhin gibt es in vielen Kantonen Bestrebungen, gewisse Ungerechtigkeiten zu vermindern. In Luzern wird über die Abschaffung des Langzeitgymnasiums diskutiert, in der Ostschweiz sorgt man sich über den immer kleineren Anteil Buben am Gymnasium, vielerorts fördert man Migranten und versucht, Mädchen für mathematische und technische Fächer zu begeistern. 

Die Kinder, die kurz vor der Aufnahmeprüfung stehen, kümmern diese Diskussionen allerdings wenig. Für sie gilt zurzeit nur: lernen, lernen, lernen.


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