Es gibt Kinder, die in diesen Monaten nicht viel von ihrer Kindheit haben. Hobbys, Freundinnen, Faulenzen, das alles hat zweite Priorität. Stattdessen wird gelernt. In jeder freien Minute. Entweder mit der Hilfe eines privaten Lerninstituts oder eines Elternteils, das zeitlich und fachlich die Möglichkeit dazu hat.
So ungerecht ist unser Bildungssystem, Sonntagszeitung, 16.2. von Rico Bandle
Spricht
man mit gewissen Eltern, so hat man das Gefühl, nicht ihr Kind, sondern sie
selber stünden vor der alles entscheidenden Prüfung, dermassen sind sie
involviert. Andere lagern die Arbeit aus und bezahlen viel Geld für
Vorbereitungskurse.
Im
Kanton Zürich, wo viele Eltern ihre Kinder ins Gymnasium drängen, ist die
Aufnahmeprüfung ein Riesengeschäft geworden. Unzählige Firmen umwerben Schüler
und zahlungswillige Eltern für ihre Kurse, die zum Teil mehrere Tausend Franken
kosten.
In
anderen Kantonen kennt man dies kaum. Entweder weil es gar keine Prüfung gibt –
dort zählen die Zeugnisnoten oder die Empfehlung des Lehrers – oder weil dieser
Bildungsweg nicht denselben Stellenwert geniesst.
Die
Matura, so heisst das Abschlussdiplom am Gymnasium, ist die Eintrittskarte zur
Universität. Sie ermöglicht freien Zugang zu allen Studiengängen in der
Schweiz, ausser zur Medizin, wo ein zusätzlicher Eignungstest verlangt wird.
Entsprechend begehrt ist dieser Ausbildungsgang.
Dass
die Zulassungskriterien zu den Gymnasien von Kanton zu Kanton zum Teil enorm
abweichen, erachten viele Eltern als ungerecht. Dies nicht zu Unrecht. Die
sechs stossendsten Punkte im Überblick.
1.
In Genf ist es am einfachsten
Im
Kanton Genf gehen rund 45 Prozent aller Schüler ans Gymnasium, im Kanton
Schaffhausen nur 15 Prozent. Grundsätzlich gilt: In der Westschweiz und im
Tessin drängen mehr Kinder ans Gymi als in der Deutschschweiz, in städtischen
Gebieten mehr als in ländlichen.
Der
Grund liegt nicht nur darin, dass in diesen Kantonen der gymnasiale Bildungsweg
einen höheren Stellenwert geniesst, auch die Eintrittshürden sind bedeutend
tiefer, wie Bildungsökonom Stefan Wolter festgestellt hat.
Trotzdem
lohnt sich für ehrgeizige Eltern ein Umzug in einen anderen Landesteil kaum. In
Kantonen mit einem hohen Anteil an Kindern am Gymnasium ist die Ausfallquote
während der Schulzeit deutlich höher. Und auch danach, im Studium, sind die
Schüler im Durchschnitt weniger erfolgreich (siehe Punkt 6).
2.
Nicht alle müssen eine Prüfung machen
In
gewissen Kantonen entscheidet allein die Aufnahmeprüfung darüber, ob ein Kind
ans Gymnasium darf, in anderen sind die Zeugnisnoten oder die Empfehlung des
Lehrers massgebend. Auch Kombinationen sind verbreitet. Etwa, dass die letzten
Schulnoten und die Prüfung zählen.
In
den meisten Kantonen mit hoher Gymnasialquote gibt es keine Prüfung. Dies nährt
den Verdacht, dass Lehrpersonen Schülern mit Ambitionen eher gute Noten
erteilen oder sie fürs Gymnasium empfehlen, um nicht in Konflikt mit
ehrgeizigen Eltern zu geraten.
3.
Reiche sind im Vorteil
Wo
eine Aufnahmeprüfung verlangt wird, spielt die richtige Vorbereitung eine
grosse Rolle. Zumal dort auch Stoff abgefragt wird, der in der Schule noch gar
nicht durchgenommen wurde. Wer keine Hilfe hat, sei es von den Eltern oder von
bezahlten Pädagogen, hat einen Nachteil.
In
Zürich ist daraus eine ganze Industrie für Vorbereitungskurse entstanden.
Einwöchige Ferienkurse kosten zwischen 500 und 1000 Franken. Langfristige
Vorbereitungen auf die Gymi-Prüfung sind deutlich teurer. Ein bekanntes
Lerninstitut bietet zum Beispiel einen mehrere Monate dauernden Kurs mit 22
Terminen zum Preis von 3960 Franken an. Laut Eigenwerbung beträgt die
Erfolgsquote der Teilnehmer 89 Prozent.
In
Ostschweizer Kantonen wie Thurgau oder St. Gallen sind solche Kurse kaum
verbreitet, obschon es auch dort eine Aufnahmeprüfung gibt. Das Gymnasium
geniesst nicht denselben Stellenwert wie in Zürich. Entsprechend gibt es
weniger Eltern, die ihre Kinder auf Teufel komm raus auf diese Schulen schicken
wollen. Der Druck des Umfelds – dass man das eigene Kind in einen
Vorbereitungskurs schickt, weil das die anderen auch tun – ist viel geringer.
Entsprechend kleiner ist der Aufwand, der für die Prüfungsvorbereitung
betrieben wird.
4.
Migranten und Buben haben es schwerer
Oft
wird moniert, das Zürcher System sei besonders ungerecht, weil Kinder von
finanzschwachen und bildungsfernen Eltern an der Prüfung geringere Chancen
hätten. Dies ist zwar korrekt, allerdings lässt sich nicht nachweisen, dass bei
prüfungsfreien Übertritten eine gerechtere Selektion erfolgt.
Entscheiden
allein die Schulnoten oder die Empfehlung der Lehrpersonen, so sind die
Schülerinnen und Schüler viel mehr der Willkür ausgesetzt. Nicht jede Lehrerin
benotet gleich, und Empfehlungen sind immer subjektiv. Kinder von
privilegierten Eltern werden laut Studien tendenziell bevorzugt – bewusst oder
unbewusst.
Um
die Chancengleichheit bei der Prüfung zu erhöhen, bieten in Zürich die öffentlichen
Schulen seit einiger Zeit kostenlose Vorbereitungskurse an. Wer es sich leisten
kann, wählt in der Regel trotzdem ein privates Angebot. Kritiker monieren, dass
allein schon die Struktur der Prüfung Kinder mit Sprachproblemen benachteilige.
Wer in Mathematik hochbegabt sei, aber Mühe mit der deutschen Sprache habe,
könne die Prüfung kaum bestehen. Denn viele Mathematikaufgaben sind
Textaufgaben voller sprachlicher Spitzfindigkeiten.
Die
Sprachlastigkeit ist nicht nur für Migranten ein Nachteil, auch die Buben, die
tendenziell eher den mathematischen Fächern zugeneigt sind, haben damit zu
kämpfen. Mädchen sind an den Schweizer Gymnasien mittlerweile klar in der
Überzahl.
Welches
Aufnahmeverfahren wäre das gerechteste? Die bekannte ETH-Intelligenzforscherin
Elisabeth Stern sorgte vor einigen Jahren für Aufsehen, als sie nachwies, dass
40 Prozent der Schweizer Gymischüler gemäss ihrer Intelligenz am falschen Ort
sind. Ihre Lösung für die Selektion wäre «eine Kombination aus Intelligenztest
und Lehrerurteil», wie sie auf Anfrage sagt. Vor allem Kindern, die in
Mathematik gut sind und die nur wegen der sprachlichen Fächer scheitern, sollte
man ihrer Meinung nach via Intelligenztest einen Zugang ermöglichen.
5.
Grosse Unterschiede bei den Fächern
Welche
Schwerpunktfächer von den Schülerinnen und Schülern an den Gymnasien gewählt
werden, hängt stark vom Kanton ab. In Zürich entscheiden sich nur knapp 20
Prozent für ein zukunftsträchtiges Mint-Fach (Mathematik, Informatik,
Naturwissenschaft, Technik). In den Kantonen Zug und Waadt ist der Anteil mit
40 Prozent doppelt so hoch.
Den
Schwerpunkt Wirtschaft und Recht wählen in Schaffhausen nur 13 Prozent der
Schüler, in St.Gallen hingegen über 30 Prozent. Gemäss Fachleuten sind die
grossen Unterschiede hauptsächlich mit dem Fächerangebot der jeweiligen Kantone
zu erklären. Dies kann weitreichende Folgen haben. Das absolvierte
Schwerpunktfach hat beträchtlichen Einfluss auf die Wahl des Studiums.
6.
Basler scheitern eher an der Uni
Grundsätzlich
gilt: je höher der Maturanden-Anteil in einem Kanton, desto grösser der Anteil
der Studierenden, die an der Hochschule scheitern. In Genf macht rund ein
Drittel aller Schüler die Matura, doch 16 Prozent von ihnen schaffen es nicht
bis zu einem Studienabschluss. Auch wenn man nur die Deutschschweiz betrachtet,
hat der Kanton Basel-Stadt einerseits die höchste Gymnasialquote (29,6 Prozent)
und anderseits den höchsten Anteil an Studienabbrechern (11,5 Prozent).
Das
Gegenbeispiel ist Schaffhausen. Dort beträgt die Maturitätsquote 14 Prozent,
die Abbruchquote im Studium bescheidene 5,5Prozent. In anderen Kantonen mit
hohen Eintrittshürden ist das Verhältnis ähnlich. Dies deutet darauf hin, dass
die Selektion nicht so schlecht funktioniert.
Das
Schweizer System ist ein Flickenteppich – und es gibt keine Anzeichen dafür,
dass sich dies bald ändern wird. Immerhin gibt es in vielen Kantonen
Bestrebungen, gewisse Ungerechtigkeiten zu vermindern. In Luzern wird über die
Abschaffung des Langzeitgymnasiums diskutiert, in der Ostschweiz sorgt man sich
über den immer kleineren Anteil Buben am Gymnasium, vielerorts fördert man
Migranten und versucht, Mädchen für mathematische und technische Fächer zu
begeistern.
Die
Kinder, die kurz vor der Aufnahmeprüfung stehen, kümmern diese Diskussionen
allerdings wenig. Für sie gilt zurzeit nur: lernen, lernen, lernen.
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