Turkawka schaltet und waltet, Bild: Michele Limina
Die Revolution von Niederhasli, Sonntagszeitung, 25.10. von Simone Luchetta
Von aussen sieht das Sekundarschulhaus
Seehalde im zürcherischen Niederhasli aus wie jedes andere. Nichts verrät, dass
sich in seinem Innern explosiv Innovatives abspielt. Den Zündstoff liefert
Schulleiter Gregory Turkawka, der das Schulsystem total umkrempelt und dabei
keinen Stein auf dem andern lässt. Selbstorganisiertes Lernen lautet seine
Parole, die er mit seinem Team umsetzt. So zügig, radikal und konsequent, wie
man sich das in der hiesigen Bildungslandschaft nicht gewohnt ist. «Unsere
Vision ist es, unsere Schülerinnen und Schüler zu Experten für ihr eigenes
Lernen zu machen. Wenn uns das gelingt, haben wir den Job richtig gemacht»,
sagt er. Kein Wunder, eckt der Mann an.
An der Seehalde gibt es keine herkömmlichen
Klassen mehr, sondern altersdurchmischte «Homebases», und Lehrpersonen treten
nur noch in relativ kurzen Fachinputs als Wissensvermittler auf. Die meiste
Zeit verbringen die Jugendlichen im «Office», einem Grossraum, wo sie
selbstständig arbeiten, eng begleitet von Lerncoachs. Wer Hilfe braucht, muss
vorher einen Termin abmachen. Alle Schüler besitzen ein iPad und lernen
Programmieren.
Das alles erregt Aufsehen. Zumal in einer
Zeit, in der der künftige Lehrplan 21 landauf, landab die Gemüter am Stammtisch
erhitzt und sich am pädagogischen Schlagwort vom selbstorganisierten Lernen,
kurz SOL, so manche Debatte entzündet. Lernen unsere Kinder besser, wenn ein
allwissender Lehrer ihnen in Monologen die Welt erklärt, oder werden sie in
ebendiesem herkömmlichem Unterricht zu wenig zum selbstständigen Arbeiten
angeleitet? Das ist die Frage, um die sich alles dreht.
Niederhasli ist mit seinem alternativen
Schulkonzept indes nicht allein. Immer mehr Schulen suchen angesichts der
zunehmenden Heterogenität der Gesellschaft nach alternativen Wegen, um dem
einzelnen Schüler gerecht zu werden und Wissen zu vermitteln und Wege
aufzuzeigen, wie man sich dieses in Eigenregie aneignen kann.
Doch so konsequent wie Turkawka, nämlich in
allen Fächern ausser Zeichnen, Turnen und Handarbeit, setzt SOL keiner um, was
ihm im Sommer prompt einen Auftritt an der jährlichen SFIB-Fachtagung von
Educa.ch in Bern einbrachte, dem Schweizer Medieninstitut für Bildung und
Kultur. Und Anfang Jahr verlieh die ETH Zürich der Schule die Ehrenmedaille
«für ausgezeichnete Förderung im Fach Informatik».
Unterrichtsmaterial wird digital aufbereitet
und angepasst
Was so radikal mit der Tradition bricht,
macht aber auch Angst und gerät in die Kritik, besonders auch bei Lehrern. Im
Sommer 2014 verliessen 12 von 30 Lehrpersonen die zweite Sekundarschule im
Schulkreis, das Schulhaus Eichi in Niederglatt. Gemäss Medienberichten war das
neue Schulmodell der Grund für den Exodus, das die Schulpflege dort auf Sommer
2016 ebenfalls einführen will. Schulpflegepräsident Philippe Chappuis widerspricht.
Nur drei Abgänge seien auf den geplanten Systemwechsel zurückzuführen: «Die
restlichen waren altersbedingt oder personeller Natur.»
Sicher ist, dass das selbstorganisierte
Lernen, will man die Jugendlichen nicht einfach sich selbst überlassen, neue
Anforderungen an die Lehrkräfte stellt. «Man muss Kontrolle abgeben und ist
nicht mehr Herr über eine Klasse», sagt Mathemathik-Lehrer Matthias Lang. Zudem
müssen die Lehrer als Team funktionieren. «Vieles wie Prüfungen oder
Stundenpläne müssen wir jetzt miteinander absprechen», sagt die Deutsch-,
Französisch- und Hauswirtschaftslehrerin Deborah Flückiger. Zudem seien sie
gezwungen, das Unterrichtsmaterial für selbstorganisiertes Lernen
umzustrukturieren und digital aufzubereiten. Dennoch würde die 31-Jährige trotz
Mehrbelastung nicht ins alte System zurück wollen: «Zu sehen, dass die Schüler
wirklich Spass am Lernen haben, ist den Aufwand wert.»
Aber individualisierte Lernformen sind
umstritten. «Studien haben gezeigt, dass gute Schüler vom Modell profitieren, während
schwächere Gefahr laufen unterzugehen», sagt Urs Moser, Leiter des Instituts
für Bildungsevaluation an der Uni Zürich. Schwache würden oft zu wenig
angeleitet. Er hält SOL für eine wichtige Unterrichtsform, aber nicht die
einzig richtige: «Es ist die Abwechslung, die den Unterricht interessant macht.
Und guter Frontalunterricht ist immer noch etwas vom effektivsten.»
Eine Entzauberung erfuhren moderne
Lehrmethoden kürzlich auch durch eine viel beachtete Studie über das finnische
Schulsystem. Sie besagt, dass die früheren hohen Pisa-Werte der
Volksschulkinder nicht wie bisher angenommen mit den offenen Lehrmethoden zu
tun haben, sondern Spätfolgen eines traditionellen autoritären Schulsystems
sind. Für den beherzten Schulleiter indes kein Grund zurückzukrebsen: «Drill
ist tatsächlich ein funktionierendes Prinzip. Aber die Frage ist doch, wollen
wir das?»
Wir finden Turkawka an diesem Septembermorgen
in seinem Büro. Statt des obligaten Schreibpults gibt es einen Mini-Stehtisch
mit MacRechner und iPad, den Sitzungstisch ersetzt eine gemütliche Sofaecke.
Der 45-jährige Quereinsteiger flog als Jugendlicher von allen Schulen,
arbeitete dann ohne Abschluss 16 Jahre in der Medienbranche «immer auf der
kommerziellen Seite» und baute nebenbei den Kurier-Dienst Veloblitz auf. Mit 34
Jahren machte er schliesslich einen KV-Abschluss, um sich nach der
Aufnahmeprüfung an der Pädagogischen Hochschule Zürich zum Lehrer ausbilden
lassen zu können. Ein ideales Wirkungsfeld für den quirligen Macher: «Schule
wird nie langweilig, weil sie nie fertig entwickelt ist.»
Das gilt auch für sein Schulmodell. Eine
Gruppe von Leuten aus der Schulpflege und Lehrern hat es «auf der grünen Wiese»
entwickelt. Die gefundenen Bausteine wurden zu einem Konzept zusammen- und
zügig umgesetzt. Unterstützung holte man sich unter anderem bei der Firma
SOL-Institut aus Ulm, die die Schule auch heute noch berät.
Wir nehmen einen Augenschein in einem
Gross-Office, wo um die 50 Schüler an ihren mit Sichtschutz versehenen
Arbeitsplätzen sitzen. Ein paar lümmeln mit iPads in der Sofaecke, sie machen
Pause. Auch drei Lehrer sind da und helfen einzelnen Schülern, ein Problem zu
lösen. Im Raum ist es erstaunlich leise.
Die 14-jährige Patrizia brauchte ein paar
Monate, um sich an den neuen Unterricht zu gewöhnen: «Ich fand es anfangs
mühsam, extra einen Termin beim Lehrer abzumachen, wenn ich eine Frage zum
Stoff hatte», sagt sie. Ihre Freundin Leonie, die neben ihr lernt, wäre nach
dem Übertritt am liebsten wieder in die 6. Klasse zurück: «Zu Beginn war es
schwierig hier, weil wir nicht wussten, was wir machen sollten», sagt sie.
Heute gehen aber beide gern zur Schule und schätzen es, dass die Lehrer sogar
mehr Zeit für sie haben als früher.
Schüchterne Schüler können Probleme bekommen
Auch der 15-jährige Sämi findet es eine «gute
Erfahrung», dass er hier üben kann, was er später braucht: Termine einhalten,
selbständig arbeiten. Schwierigkeiten sieht er aber für Schüchterne: «Weil sie
sich nicht trauen, die Lehrer zu fragen.» Dieser Problematik ist man sich an
der Seehalde bewusst. Deshalb teile man die Lernenden in die Stufen Basis,
Fortgeschrittene oder Experten ein und unterstütze die Basis-Lerner
entsprechend, so Turkawka. Sechs Jahre unterrichtete er selber hier, bevor er
2012 zum Schulleiter gewählt wurde. Für ihn ist klar: «Wenn wir Jugendliche für
das 21. Jahrhundert fit machen, müssen wir die Schule auch an ihre Lebenswelten
anpassen.»
Man könne nicht länger ignorieren, dass sie
in einer digitalisierten Welt aufwachsen und früh mit interaktiven Geräten,
Youtube und durchs Internet lernen würden: «Sonst wird die Schule zum surrealen
Disneyland. Das können wir nicht wollen.»
Die Revolution von Niederhasli und der Lehrplan 21
AntwortenLöschenRevolution ist eine treffende Bezeichnung für den radikalen Umbau der Volkschule in Niederhasli. Revolutionen sind meist doktrinär, unwissenschaftlich, handstreichartig, verstossen gegen Demokratie und gültiges Recht und haben immer wieder viele unschuldige Opfer gefordert. Dabei macht der Quereinsteiger in Niederhasli, nichts anderes, als was die Pädagogischen Hochschulen schweizweit im Sinne der Grundlagen des Einheitslehrplans 21 den Junglehrern vermitteln: Die „konstruktivistische“ Lehrmethode („Unterricht ohne zu unterrichten“) soll als die allein richtige (!) am Volk vorbei zementiert werden, was die faktische Abschaffung der Methodenwahl bedeutet. Der Lehrer darf nicht mehr in einem kreativen, motivierenden Klassenunterricht den Schülern Wissen gemeinsam beibringen, sondern jeder Schüler bestimmt selber („selbstorganisiert“), was wie wann und ob er lernen will. Der Lehrer wird zum „Lerncoach“, der Arbeitsblätter verteilt und „Lernumgebungen“ schafft. Der Schüler wird zum Einzelkämpfer, der sich das Wissen selber beibringen muss, in dem er Arbeitsblätter abarbeitet. Es findet eine „stille Selektion“ bereits ab der 1. Primarklasse statt, die Chancengleichheit wird ausgehebelt und die Weichen zur neoliberalen Zweiklassengesellschaft gestellt.
Neben den englischen Wirtschaftsbegriffen wie „Homebases“, „Office“, „Lerncoach“, „Job“ usw. zeigt vor allem die „Kompetenzorientierung“ (Reduktion des Lehrstoffes auf das „Messbare“) des Lehrplans 21, dass es sich um eine neoliberale Revolution gemäss den Vorgaben von ausländischen Wirtschaftsorganisationen handelt. Der Paradigmenwechsel („Die Schule neu erfinden“), von der Wissensvermittlung mit Lernzielen zum „selbstorganisierten“ Lernen mit Kompetenzmessung („Output“-/Profitorientierung) wurde mit dem PISA-Ranking der neoliberalen Wirtschaftsorganisation OECD eingeleitet. Wie Studien verschiedener Universitäten zeigen, sind die mittleren und schwachen Schüler mit dem "selbstorganisierten Lernen“ („offene Lernformen") überfordert und allein gelassen, die Stofflücken werden immer grösser und die Chancen einen Beruf erlernen zu können, immer kleiner.
Kann ich nur bestätigen, praktisch unterlegt!
LöschenHab jetzt das 2.Kind auf einer "SOL-Gesamtschule", beide jeweils mit sehr guten Noten aus der Grundschule entlassen und beide innert weniger Monate deutlich zurückgefallen. Aussagen der Lehrer hierzu sind kurz gefasst zu interpretieren als "Friss oder stirb". SOL ist das Letzte!