26. Oktober 2015

"Es gibt keine digitale Bildung"

Wie digital muss Bildung sein - und wann wird's zu viel? Im Interview erklärt der Medienwissenschafter Ralf Lankau, warum Bildung nie digital sein kann und die Kreidetafel längst nicht ausgedient hat.















Lankau:"Viele Kinder werden zu früh und zu lange mit audiovisuellen Medien versorgt und alleine gelassen", Bild: dpa
Wie viel Digitalisierung verträgt der Schulunterricht, Badische Zeitung, 20.10. von Christine Storck


Schlagwörter wie "Smartphone-Zombies" oder "Digitaler Burnout" zeigen es – der kritische Blick auf die Medialisierung der Gesellschaft etabliert sich. Die Hochschule Offenburg und die Gesellschaft für Bildung und Wissen veranstalten deshalb am 24. Oktober eine Tagung zum Thema "Digitale Medien und Unterricht".

BZ: Wieso veranstaltet eine Medienhochschule wie Offenburg eine medienkritische Tagung?
Lankau: Hochschulen haben den Auftrag, gesellschaftliche, technische oder mediale Entwicklungen wissenschaftlich zu begleiten und bei Studierenden das Reflektionsvermögen über ihr Tun und dessen Folgen zu entwickeln. Medien ermöglichen Kommunikation und informieren, sie beeinflussen, aber sie manipulieren auch. Und die Geschichte lehrt, dass derart mächtige Instrumente ge- und missbraucht werden können.

BZ: Wie digital sind Unterricht und Lehre heute? Ist die Kreidetafel im Klassenzimmer reif fürs Museum?
Lankau: Hard- und Softwareanbieter haben ein Interesse an der Technisierung der Klassenräume und des Unterrichts. Das sollte aber kein Argument für den Einsatz von Technik sein. Sie ist ein Mittel, das ich didaktisch sinnvoll einsetzen kann. Bestimmte Dinge lassen sich – Beispiel Animation in Biologie oder Erdkunde – besser projizieren. Anderes entwickelt man besser im Dialog an der Tafel. Dabei kommt es darauf an, ob ich als Lehrer in der Lage bin, etwas im Diskurs zu entwickeln, statt fertige Folien aufzulegen.
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BZ: Geht es heute überhaupt noch ohne digitale Medien?
Lankau: Aber ja, warum denn nicht? Verstehen und Verständnis ist nicht an Medien gebunden, sondern ans Mitdenken. Kein Mensch lernt digital. Digital sind Lehrmedien und Distributionskanäle. Es gibt keinen digitalen Unterricht, weil Unterrichten immer Beziehungsarbeit zwischen Lehrenden und Lernenden ist. Und es gibt keine digitale Bildung. Bildung ist immer an eine Person gebunden, nicht an Medien oder Technik.

BZ: Wie hat Digitalisierung in Schule und Uni das Bildungswesen verändert?
Lankau: In erster Linie hat sich der Medienkonsum verändert. Die vermeintliche Schnelligkeit und Leichtigkeit von Visualisierungen verdrängt, dass man zum Verstehen eigene Bildvorstellungen haben muss. Beim Lesen aus abstrakten Buchstaben und Worten eine eigene Vorstellung zu entwickeln, ist ein nicht ersetzbarer Lernprozess. Je visueller unsere Gesellschaft wird, desto geringer wird die Konzentrationsspanne und Aufmerksamkeit für das einzelne Bild. Daher ist das größte Problem des Lernens der Verlust des konzentrierten, nicht unterbrochenen Lesens, aus dem das eigenständige Denken entsteht – und dem anschließenden Diskurs über die Lektüre.

BZ: Hat sich aus Ihrer Sicht dadurch etwas in den Köpfen der Kinder und Jugendlichen gewandelt? Ticken sie heute anders als früher?
Lankau: Wenn ich früh lese, schreibe, male, werke, entwickle ich mich anders als beim Zuschauen von Videos oder dem Wischen auf einem Touchscreen. Viele Kinder werden zu früh und zu lange mit audiovisuellen Medien versorgt und alleine gelassen. Die dadurch entstehende Überreizung schraubt den Erwartungspegel an permanentem Input so hoch, dass diese Kinder in den Schulen medial unterfordert sind und "stören". Der hohe Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom und ADHS-Störungen korrespondiert – zufällig? – mit der immer intensiveren Nutzung digitaler Medien schon in frühen Jahren.

BZ: Ist der (digitale) Unterricht der Zukunft eher "Horrorszenario" oder "Lernparadies"?
Lankau: Das Horrorszenario ist eine automatisch gesteuerte, digitale Lernfabrik: Software stellt die Lerninhalte für jeden Einzelnen zusammen. Schüler lernen tagsüber an Lernstationen und machen abends Online-Tests, aus denen die Software das nächste Tagespensum berechnet. Der digital entmündigte Mensch wartet auf Anweisung von der Maschine. Im Lernparadies werden junge Menschen betreut und für die Selbständigkeit erzogen. Das geht immer nur im Sozialverbund von Familie, Gemeinde, Schule oder Verein. Dazu werden natürlich auch Lernmedien eingesetzt, aber nicht die technische Codierung ist entscheidend, sondern die Qualität der Inhalte und die persönliche Begleitung.

BZ: Wann sollten Kinder den Umgang mit digitalen Medien lernen?
Lankau: In der Sekundarstufe Eins mit etwa zwölf Jahren kann man beginnen, IT zu vermitteln, aber nicht die Bedienung von Software, sondern den Aufbau von Rechnern, Betriebssystemen, Datennetzen oder Verschlüsselung. Damit kann man lokale Netzwerke, lokale Webserver und eigene Websites aufbauen oder sich mit Nachbarschulen vernetzen, immer aber in geschlossenen Netzen und mit verschlüsseltem Datentransfer. In der Oberstufe kann man Medienprojekte entwickeln, aber da sollte die Technik bereits Werkzeug geworden sein und nicht Selbstzweck.


Prof. Dr. Ralf Lankau, Jahrgang 1961, wurde in Lübeck geboren und hat in Frankfurt/Main klassische Philologie und Kunstwissenschaften, Germanistik, Philosophie und Kulturanthropologie studiert. Er ist seit 2002 Professor für Mediengestaltung und -theorie an der Hochschule Offenburg.

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