Laut Schätzungen machen die Unschooler etwa einen Viertel aller Homeschooler aus, Bild: Screenshot SRF
Unterricht ist für diese Kinder ein Fremdwort, 20 Minuten, 10.11. von J. Büchi
Nalin,
Olivia und Sara Gantenbein (10, 11, 15) müssen nie Mathe büffeln, wenn sie
lieber draussen spielen wollen. Sie mussten sich auch noch nie auf dem
Pausenplatz mit fiesen Klassenkameraden herumschlagen. Die Gantenbeins aus dem
ausserrhodischen Herisau sind sogenannte «Unschooler». In der SRF-Sendung
«Reporter» stellte die Familie am Sonntagabend ihr Lebensmodell vor.
Während
«Homeschooler» ihre Kinder zuhause unterrichten statt sie in die Schule zu
schicken, gehen «Unschooler» noch einen Schritt weiter: In ihrem Haus gibt es
keinerlei schulische Strukturen. Die Kinder lernen, was sie wollen – und wann
sie wollen. «Auch Spielen ist Lernen», sind die Eltern Doris und Bruno
Gantenbein überzeugt. Die beiden Veganer wollen ihre Kinder vor den negativen
Einflüssen der Volksschule – von «Mobbing» und «Leistungsdruck» ist die Rede –
schützen.
«Neue
Bewegung»
Schätzungen
zufolge werden in der Schweiz mindestens 500 Kinder zuhause unterrichtet. Wie
viele davon das «Unschooling»-Modell leben, ist unklar. «Das ist eine relativ
neue Bewegung, die in den letzten fünf Jahren entstanden ist», sagt Marcel
Hanhart, Vorstandsmitglied des Vereins «Bildung zu Hause Schweiz». Er geht
davon aus, dass die «Unschooler» etwa einen Viertel der Fälle ausmachen.
Welche
Voraussetzungen Eltern erfüllen müssen, damit ihre Kinder zu Hause lernen
dürfen, ist von Kanton zu Kanton verschieden. Während das Schulsystem in
Appenzell Ausserrhoden, im Aargau und in Bern relativ liberal ist, sind die
Auflagen etwa im Kanton Graubünden oder in St. Gallen sehr streng. Gewisse
Kantone erlauben häuslichen Unterricht nur, wenn ein Elternteil eine Lehrerausbildung
hat.
Brauchen
Kinder andere Kinder?
Kritiker
bemängeln, «Unschooling»-Kinder hätten zu wenig soziale Kontakte und würden
ungenügend auf das Berufsleben vorbereitet. Auch Beat Zemp, Präsident des
Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer, hat Vorbehalte: «Es ist
wichtig, dass Kinder mit verschiedenen Wertesystemen und Rollenbildern in
Kontakt kommen.» Beim häuslichen Unterricht könnten die Eltern ihren Nachwuchs
von anderen Weltanschauungen fernhalten.
Besonders
sauer stiess dem Lehrerpräsident ein Satz auf, den Mutter Doris Gantenbein in
der Sendung gesagt hat: Sie sei überzeugt, dass «Kinder keine anderen Kinder
brauchen». Zemp betont: «Es ist essenziell, dass Kinder den Umgang mit
Gleichaltrigen pflegen und auch lernen, Konflikte auszutragen.» Wer keine
Frustrationstoleranz aufbauen könne, sei später auch im Berufsleben
überfordert. «Zudem fehlen solchen Kindern entscheidende Gruppen-Erlebnisse wie
Klassenlager oder Schulreisen.»
Unangemeldete
Kontrollen gefordert
Die ehemalige
CVP-Sprecherin Marianne Binder hat im Aargauer Grossen Rat vor einem Jahr einen
Vorstoss eingereicht, in dem sie bessere Qualitätskontrollen für den häuslichen
Unterricht verlangte: Die Eltern müssten einen Grundlagenkurs in Didaktik
absolvieren und die Kinder regelmässig obligatorische Leistungschecks
absolvieren, verlangte sie. Zudem müsse pro Semester ein unangemeldeter Besuch
des Schulinspektorats stattfinden. Der Vorstoss wurde abgelehnt.
«Ich bin nicht
grundsätzlich gegen privaten Unterricht. Leider wurde mir aber mitgeteilt, dass
diese Erziehungsform oft in fundamentalistischen Familien praktiziert wird»,
sagt sie. Schulpfleger hätten ihr von Fällen berichtet, in denen die Kinder von
morgens bis abends hinter geschlossenen Fensterläden lebten. «Wenn jemand nichts
zu verbergen hat, dann sollte er sich auch nicht gegen bessere
Qualitätskontrollen und unangemeldete Besuche wehren», findet Binder.
«Keine
Erfahrungswerte»
Marcel Hanhart
vom Verein «Bildung zu Hause» hat seine sechs Kinder im «Homeschooling»-Modell
geschult. Die Kritik am «Unschooling» kann er teilweise nachvollziehen. «Es
braucht sicher eine lernfördernde Umgebung, damit das funktionieren kann.» Die
Kinder einfach «in den Tag hinein leben zu lassen», sei keine Lösung und
entspreche auch nicht den Leitgedanken des «Unschoolings». Ob solche Kinder
später auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben, werde sich zeigen. Aus seiner
Sicht bestehe kein Grund, daran zu zweifeln. «Weil die Bewegung in der Schweiz
noch sehr jung ist, fehlen heute verlässliche Erfahrungswerte aber noch.»
Im Kanton
Appenzell Ausserrhoden müssen die Kinder zur Standortbestimmung einmal im Jahr
standardisierte Tests absolvieren. Eines der Gantenbein-Mädchen schrieb zu
Beginn nur 3er, konnte sich später aber steigern. «Das Vorgehen bei konstant
schlechten Leistungen ist dasselbe wie in der Volksschule», sagt Alexandra
Schubert vom zuständigen Bildungsdepartement. Zunächst würden die Ursachen
festgestellt, dann würden gestützt darauf geeignete Massnahmen getroffen – etwa
eine gezielte Förderung und Unterstützung oder eine Anpassung der Lernziele.
Reichen die Massnahmen nicht aus, um das Kind im Rahmen von häuslichem
Unterricht adäquat fördern zu können, kann es sein, dass die Bewilligung für
den häuslichen Unterricht nicht verlängert wird.
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