10. November 2015

Es muss mehr getobt werden

Die deutsche Lehrerin Birgit Gegier Steiner findet, dass still sitzen nix sei für Jungs. Es müsse im Unterricht mehr getobt werden. Die Buben wollten durch Berühren lernen, durch Technik und Handeln.











"Unsere Bildungspläne sind sehr schreib- und sprachlastig geworden", Bild: Entertainment Pictures/Eyevine
"Unsere Schule schadet den Jungs", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.11. Interview mit Birgit Gegier Steiner von Lydia Rosenfelder


Frau Steiner, Sie schreiben, dass die Erziehung heute nicht mehr jungengerecht ist. Warum?
Eine junge Pädagogin brachte mich darauf. Sie machte im Unterricht ein Wörterwettspiel zwischen Jungen und Mädchen. Die Mädchen blieben auf ihren Stühlen sitzen, tauschten sich aus und reichten die Information an ihre Vertreterin weiter. Aber die Jungs hielt es nicht auf den Stühlen. Einer kletterte auf den Tisch und engagierte sich lautstark, einer lag bäuchlings auf dem Tisch und streckte den Arm wie einen Pfeil nach vorne. Die Mädchen suchten den kommunikativen Austausch, um ans Ziel zu kommen. Die Jungen wollten schneller und besser sein, wollten den Wettbewerb. Im Moment ist aber das personifizierte, individuelle Lernen in Mode. Die Schüler sitzen fast nur über ihren Arbeitsblättern. Sie sollen über sich selbst reflektieren und herausfinden: Wie werde ich besser? Aber Jungs wollen durch Berühren lernen, durch Technik und Handeln. Sie erkunden ihre Umwelt mit allen Sinnen. Das unterbinden wir in der Schule. Unsere Bildungspläne sind sehr schreib- und sprachlastig geworden, alles läuft über Literatur und Textverständnis. Die Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften, das Experimentieren und Ausprobieren kommen zu kurz. Das ist zum Schaden der Jungs.
Sie meinen, dass wir seit 1968 vor allem die Mädchen fördern. War die konservative Erziehung davor denn mehr im Sinne der Jungen?
Ja. Es herrschte ein anderer Charakter von Disziplin. Ich selbst saß noch in einem Klassenzimmer mit vierzig Kindern. Da war Ruhe. Die Inhalte waren in Grundschulbereich kaum anders als heute. Aber es gab klare Strukturen, Regeln wurden stringenter durchgehalten. Und die Männer als Lehrer waren präsenter.
Ist es entscheidend, ob die Lehrer männlich oder weiblich sind?
Wenn wir Frauen uns in einen Jungen hineinversetzen, ihn so akzeptieren, wie er ist, dann können wir ihn genauso gut unterstützen wie ein Mann.
Ich höre an Ihrer Antwort heraus, dass Sie meinen, dass viele Frauen Jungs nicht akzeptieren.
Ich beobachte an anderen Frauen und auch an mir selbst eine Tendenz, das Gegenüber verändern zu wollen. Eigene Werte und Einstellungen auf den anderen überzustülpen. Auch bei ganz banalen Dingen im Haushalt ertappe ich mich selber dabei. Ich versuche, meinem Mann vorzuschreiben, wie er den Keller einzuräumen hat oder wo die Schuhe hinzustellen sind. Umgekehrt habe ich noch nie den Versuch gespürt, dass ein Mann mich verändern will. Man hat mich so akzeptiert.
Wie erklären Sie sich das?
Wir Frauen waren biologisch schon immer dafür da, die erste Erziehungsarbeit zu übernehmen. Das weibliche Wesen hat den Nesthocker noch bei sich und muss ihn auf die Welt vorbereiten. Das ist so in uns drin, dass wir es auf andere Menschen übertragen wollen.
Sie leiten eine Grundschule im Kreis Konstanz. Was erleben Sie dort?
Ich habe mit jungen Kolleginnen zu tun, die vielfältige Methoden anwenden und die Jungen dabei auch im Blick behalten. Allerdings reagieren die Mütter häufig sehr ängstlich und bilden eine Schutzhaube über ihre Jungs. Wir kommen dann gar nicht beim Kind an. Aber wir brauchen Angebote speziell für Jungen. Wenn zum Beispiel Frauen Geschichten für Schulbücher schreiben, dann sind die immer sehr nett. Es fehlen die Piraten, die Räuber.
Star Wars.
Das interessiert Jungs. Wir haben eine Experimentierwerkstatt, wo besonders die Jungen begeistert Experimente machen, mit weißen Kitteln und Schutzbrillen. Das darf auch ein bisschen gefährlich wirken. Gestern haben sie sich den Versuch mit dem Teebeutel gewünscht. Kennen Sie den? Sie nehmen einen Teebeutel, unten geöffnet und geleert. Das ergibt dann eine lange, schlauchartige Hülle, und wenn Sie die unten anzünden, geht der Teebeutel nach oben wie eine Rakete. Er verbrennt in der Luft. Als die Stunde zu Ende war, musste ich drei Jungen regelrecht nach draußen tragen, weil sie gar nicht mehr aufhören wollten.
Aber im normalen Unterricht müssen doch auch die wilden Kerle stillsitzen.
Es gibt Stehpulte, breite Fensterbänke und Sitzbälle, auf denen sich die Kinder sitzend bewegen können. Kinder arbeiten gerne mal am Boden, auf dem Bauch liegend. Wenn die Schrift dabei nicht furchtbar wird, warum sollten sie das nicht tun? Als ich noch Lehrerin war, hatte ich immer eine Liege-Ecke.
Das klingt jetzt doch wieder sehr nach 1968.
Man kann es durchaus so organisieren, dass im Klassenzimmer kein Chaos ausbricht: Grundsätzlich haben alle Kinder ihren Arbeitsplatz am Tisch. Für die Alternativangebote gibt es begrenzte „Eintrittskarten“ und klar definierte Zeitfenster, wie lange in dieser anderen Position gearbeitet werden darf.
Eine Kollegin von Ihnen stellt sich einen Wecker, der alle fünfzehn Minuten klingelt. Dann schickt sie ihren ADHS-Schüler los und lässt ihn zweimal um das Schulgebäude rennen. Danach setzt er sich wieder hin und arbeitet weiter. Das finde ich toll.
Und es ist so einfach. Wenn Jungen ihren Bewegungsdrang ausleben dürften, hätten wir weniger ADHS-Diagnosen. Und physische Aktivität ist eng mit dem Lernerfolg verknüpft.
Sie berufen sich auf Untersuchungen, dass Jungen auf dem Pausenhof einen viel größeren Erkundungsradius haben. Mädchen erlauben sich seltener Ausbrüche. Woran liegt das?
Wieder an der Biologie. Das Testosteron hat einen starken Einfluss auf Aktivität und Verhalten, auf Wettstreitlust und Risikobereitschaft. Es ist ein Aktivator, der die Jungs vorantreibt. Auf den Pausenhöfen haben sie ihren Freiraum, wo sie Gas geben können. Und dann tun sie es auch. Sie laufen um die Wette, sie machen Fangspiele.
Spätestens seit Pippi Langstrumpf gibt es aber doch auch das Ideal des wilden, jungenhaften Mädchens.
Auch Mädchen haben Testosteron in sich, auf unterschiedlich hohem Niveau. Es gab Untersuchungen, dass Mädchen, die durchaus wild oder fitte Sportlerinnen sind, einen höheren weiblichen Testosteronspiegel haben.
Sie sagen, Jungen brauchen einerseits mehr Freiraum und andererseits starke Führung. Ist das nicht ein Widerspruch?
Es wäre gefährlich für einen Jungen, wenn er grundsätzlich Grenzen überschreiten und jedes Risiko eingehen darf. Also verlangt er intuitiv danach, dass es jemanden gibt, der ihm Grenzen setzt. Wenn jemand sagt, stopp, dann stoppt der Knabe auch.
Sie plädieren für einen fußballdidaktischen Ansatz. Was ist das?
Man muss respektieren, dass Jungs einen hohen Bewegungsdrang haben, aber klare Strukturen brauchen. Und dass die meisten Jungs Teamplayer sind. Jeder hat seine Stellung. Mein fußballdidaktischer Ansatz bedeutet, dass jeder seine Individualität ausleben darf und wachsen kann, aber trotzdem eine Zugehörigkeit verspürt. Das sind die Werte aus dem Fußball: körperliche Anstrengung und Freiheit einerseits, Regeln und Rituale, die Stabilität geben andererseits. Schiedsrichter und Trainer, die Führung personifizieren. Respekt voreinander und vor dem Gegner. Und hinterher erntet man Anerkennung.
Wie passt das mit in unserer postautoritären Gesellschaft zusammen?
Es passt nicht mehr zusammen. Seit dem Ende der Sechziger hat sich ein starker Liberalismus entwickelt, in allen Bereichen, auch in der Politik. Was ja auch gut ist. Ich bin für einen liberalen Staat. Aber diese Dinge spiegeln sich auch in der Erziehung wider. Eltern neigen dazu, Kinder auf dieselbe Stufe zu stellen wie sich. Als Partner auf Augenhöhe. Und Dinge mit ihnen auszudiskutieren, so wie das unter Erwachsenen funktioniert. Dass sie ihre Kinder dabei psychisch komplett überfordern, wissen sie meist nicht.
Haben Sie noch ein paar Tipps für Eltern mit Jungen?
Morgens beim Zähneputzen: Auf einem Bein balancieren, die Augen schließen und bis zwanzig zählen. Und dann weiter auf dem anderen Bein. So kommt das müde Hirn in Gang. Mit dem Federmäppchen auf dem Kopf die Treppe hochlaufen. Oder: Wer holt am schnellsten die Jacken? Anziehen um die Wette. Und wenn der Tag gelaufen ist: sich nicht vor dem Fernseher verkriechen, sondern mit der Familie noch mal eine Runde rausgehen und Ball spielen.


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