"Unsere Bildungspläne sind sehr schreib- und sprachlastig geworden", Bild: Entertainment Pictures/Eyevine
"Unsere Schule schadet den Jungs", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.11. Interview mit Birgit Gegier Steiner von Lydia Rosenfelder
Frau
Steiner, Sie schreiben, dass die Erziehung heute nicht mehr jungengerecht ist.
Warum?
Eine
junge Pädagogin brachte mich darauf. Sie machte im Unterricht ein
Wörterwettspiel zwischen Jungen und Mädchen. Die Mädchen blieben auf ihren
Stühlen sitzen, tauschten sich aus und reichten die Information an ihre
Vertreterin weiter. Aber die Jungs hielt es nicht auf den Stühlen. Einer
kletterte auf den Tisch und engagierte sich lautstark, einer lag bäuchlings auf
dem Tisch und streckte den Arm wie einen Pfeil nach vorne. Die Mädchen suchten
den kommunikativen Austausch, um ans Ziel zu kommen. Die Jungen wollten
schneller und besser sein, wollten den Wettbewerb. Im Moment ist aber das
personifizierte, individuelle Lernen in Mode. Die Schüler sitzen fast nur über
ihren Arbeitsblättern. Sie sollen über sich selbst reflektieren und
herausfinden: Wie werde ich besser? Aber Jungs wollen durch Berühren lernen,
durch Technik und Handeln. Sie erkunden ihre Umwelt mit allen Sinnen. Das
unterbinden wir in der Schule. Unsere Bildungspläne sind sehr schreib- und
sprachlastig geworden, alles läuft über Literatur und Textverständnis. Die
Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften, das Experimentieren und
Ausprobieren kommen zu kurz. Das ist zum Schaden der Jungs.
Sie
meinen, dass wir seit 1968 vor allem die Mädchen fördern. War die konservative
Erziehung davor denn mehr im Sinne der Jungen?
Ja. Es
herrschte ein anderer Charakter von Disziplin. Ich selbst saß noch in einem
Klassenzimmer mit vierzig Kindern. Da war Ruhe. Die Inhalte waren in
Grundschulbereich kaum anders als heute. Aber es gab klare Strukturen, Regeln
wurden stringenter durchgehalten. Und die Männer als Lehrer waren präsenter.
Ist es
entscheidend, ob die Lehrer männlich oder weiblich sind?
Wenn wir
Frauen uns in einen Jungen hineinversetzen, ihn so akzeptieren, wie er ist,
dann können wir ihn genauso gut unterstützen wie ein Mann.
Ich höre
an Ihrer Antwort heraus, dass Sie meinen, dass viele Frauen Jungs nicht
akzeptieren.
Ich
beobachte an anderen Frauen und auch an mir selbst eine Tendenz, das Gegenüber
verändern zu wollen. Eigene Werte und Einstellungen auf den anderen
überzustülpen. Auch bei ganz banalen Dingen im Haushalt ertappe ich mich selber
dabei. Ich versuche, meinem Mann vorzuschreiben, wie er den Keller einzuräumen
hat oder wo die Schuhe hinzustellen sind. Umgekehrt habe ich noch nie den
Versuch gespürt, dass ein Mann mich verändern will. Man hat mich so akzeptiert.
Wie
erklären Sie sich das?
Wir
Frauen waren biologisch schon immer dafür da, die erste Erziehungsarbeit zu
übernehmen. Das weibliche Wesen hat den Nesthocker noch bei sich und muss ihn
auf die Welt vorbereiten. Das ist so in uns drin, dass wir es auf andere
Menschen übertragen wollen.
Sie
leiten eine Grundschule im Kreis Konstanz. Was erleben Sie dort?
Ich habe
mit jungen Kolleginnen zu tun, die vielfältige Methoden anwenden und die Jungen
dabei auch im Blick behalten. Allerdings reagieren die Mütter häufig sehr
ängstlich und bilden eine Schutzhaube über ihre Jungs. Wir kommen dann gar
nicht beim Kind an. Aber wir brauchen Angebote speziell für Jungen. Wenn zum
Beispiel Frauen Geschichten für Schulbücher schreiben, dann sind die immer sehr
nett. Es fehlen die Piraten, die Räuber.
Star
Wars.
Das interessiert
Jungs. Wir haben eine Experimentierwerkstatt, wo besonders die Jungen
begeistert Experimente machen, mit weißen Kitteln und Schutzbrillen. Das darf
auch ein bisschen gefährlich wirken. Gestern haben sie sich den Versuch mit dem
Teebeutel gewünscht. Kennen Sie den? Sie nehmen einen Teebeutel, unten geöffnet
und geleert. Das ergibt dann eine lange, schlauchartige Hülle, und wenn Sie die
unten anzünden, geht der Teebeutel nach oben wie eine Rakete. Er verbrennt in
der Luft. Als die Stunde zu Ende war, musste ich drei Jungen regelrecht nach
draußen tragen, weil sie gar nicht mehr aufhören wollten.
Aber im
normalen Unterricht müssen doch auch die wilden Kerle stillsitzen.
Es gibt
Stehpulte, breite Fensterbänke und Sitzbälle, auf denen sich die Kinder sitzend
bewegen können. Kinder arbeiten gerne mal am Boden, auf dem Bauch liegend. Wenn
die Schrift dabei nicht furchtbar wird, warum sollten sie das nicht tun? Als
ich noch Lehrerin war, hatte ich immer eine Liege-Ecke.
Das
klingt jetzt doch wieder sehr nach 1968.
Man kann
es durchaus so organisieren, dass im Klassenzimmer kein Chaos ausbricht:
Grundsätzlich haben alle Kinder ihren Arbeitsplatz am Tisch. Für die
Alternativangebote gibt es begrenzte „Eintrittskarten“ und klar definierte
Zeitfenster, wie lange in dieser anderen Position gearbeitet werden darf.
Eine
Kollegin von Ihnen stellt sich einen Wecker, der alle fünfzehn Minuten
klingelt. Dann schickt sie ihren ADHS-Schüler los und lässt ihn zweimal um das
Schulgebäude rennen. Danach setzt er sich wieder hin und arbeitet weiter. Das
finde ich toll.
Und es
ist so einfach. Wenn Jungen ihren Bewegungsdrang ausleben dürften, hätten wir
weniger ADHS-Diagnosen. Und physische Aktivität ist eng mit dem Lernerfolg
verknüpft.
Sie
berufen sich auf Untersuchungen, dass Jungen auf dem Pausenhof einen viel
größeren Erkundungsradius haben. Mädchen erlauben sich seltener Ausbrüche.
Woran liegt das?
Wieder an
der Biologie. Das Testosteron hat einen starken Einfluss auf Aktivität und Verhalten,
auf Wettstreitlust und Risikobereitschaft. Es ist ein Aktivator, der die Jungs
vorantreibt. Auf den Pausenhöfen haben sie ihren Freiraum, wo sie Gas geben
können. Und dann tun sie es auch. Sie laufen um die Wette, sie machen
Fangspiele.
Spätestens
seit Pippi Langstrumpf gibt es aber doch auch das Ideal des wilden,
jungenhaften Mädchens.
Auch
Mädchen haben Testosteron in sich, auf unterschiedlich hohem Niveau. Es gab
Untersuchungen, dass Mädchen, die durchaus wild oder fitte Sportlerinnen sind,
einen höheren weiblichen Testosteronspiegel haben.
Sie
sagen, Jungen brauchen einerseits mehr Freiraum und andererseits starke
Führung. Ist das nicht ein Widerspruch?
Es wäre
gefährlich für einen Jungen, wenn er grundsätzlich Grenzen überschreiten und
jedes Risiko eingehen darf. Also verlangt er intuitiv danach, dass es jemanden
gibt, der ihm Grenzen setzt. Wenn jemand sagt, stopp, dann stoppt der Knabe
auch.
Sie
plädieren für einen fußballdidaktischen Ansatz. Was ist das?
Man muss
respektieren, dass Jungs einen hohen Bewegungsdrang haben, aber klare
Strukturen brauchen. Und dass die meisten Jungs Teamplayer sind. Jeder hat
seine Stellung. Mein fußballdidaktischer Ansatz bedeutet, dass jeder seine
Individualität ausleben darf und wachsen kann, aber trotzdem eine Zugehörigkeit
verspürt. Das sind die Werte aus dem Fußball: körperliche Anstrengung und
Freiheit einerseits, Regeln und Rituale, die Stabilität geben andererseits.
Schiedsrichter und Trainer, die Führung personifizieren. Respekt voreinander
und vor dem Gegner. Und hinterher erntet man Anerkennung.
Wie passt
das mit in unserer postautoritären Gesellschaft zusammen?
Es passt
nicht mehr zusammen. Seit dem Ende der Sechziger hat sich ein starker
Liberalismus entwickelt, in allen Bereichen, auch in der Politik. Was ja auch
gut ist. Ich bin für einen liberalen Staat. Aber diese Dinge spiegeln sich auch
in der Erziehung wider. Eltern neigen dazu, Kinder auf dieselbe Stufe zu
stellen wie sich. Als Partner auf Augenhöhe. Und Dinge mit ihnen
auszudiskutieren, so wie das unter Erwachsenen funktioniert. Dass sie ihre
Kinder dabei psychisch komplett überfordern, wissen sie meist nicht.
Haben Sie
noch ein paar Tipps für Eltern mit Jungen?
Morgens
beim Zähneputzen: Auf einem Bein balancieren, die Augen schließen und bis zwanzig
zählen. Und dann weiter auf dem anderen Bein. So kommt das müde Hirn in Gang.
Mit dem Federmäppchen auf dem Kopf die Treppe hochlaufen. Oder: Wer holt am
schnellsten die Jacken? Anziehen um die Wette. Und wenn der Tag gelaufen ist:
sich nicht vor dem Fernseher verkriechen, sondern mit der Familie noch mal eine
Runde rausgehen und Ball spielen.
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