Große Klassen und eine neue Kultur des Lernens industrialisieren
den Lehrerberuf. Fließbandarbeit am Schreibtisch bestimmt den Berufsalltag
vieler Kolleginnen und Kollegen.
Arbeiter einer Bildungsindustrie, Frankfurter Rundschau, 13.1. von Nils B. Schulz
Lehrerinnen und
Lehrer sind zu Arbeitern einer hybriden Bildungsindustrie geworden.
50-Stunden-Wochen und Fließbandarbeit am Schreibtisch bestimmen den
Berufsalltag vieler Kolleginnen und Kollegen – vor allem an Gymnasien. Die
fortschreitende Digitalisierung, die Test- und Evaluationseuphorie und die
Kompetenzorientierung der Neuen Lernkultur, wie sie Christoph Türcke in seinem Buch
„Lehrerdämmerung“ nennt, haben innerhalb von knapp fünfzehn Jahren ein ganzes
Berufsfeld industrialisiert und die Schule in eine Lernfabrik verwandelt. Das
Produktionsziel: höhere Abiturientenquoten bei gleichzeitiger Absenkung des
Anspruchsniveaus, wie die jüngsten Studien des Frankfurter Bildungsforschers
Hans-Peter Klein zeigen konnten.
Die Niveauabsenkung wird vor allem durch das ständige Gerede über Qualität und
Qualitätsmanagment kaschiert. Aber für die unterrichtenden Lehrerinnen und
Lehrer ist sowieso eine ganz andere Kategorie zentral: die Quantität. Es ist
die schiere Quantität an Klassenarbeiten, Noten, Tests, Evaluationen,
Methodentrainings – und die Lautstärke in den Klassenräumen, die erschöpft. An
Gymnasien sitzen bis zu 30 Schülerinnen und Schüler in einem Klassenraum, in
Berlin sind es sogar bis zu 32.
Man kann es ja
begrüßen, dass die Disziplinargesellschaft verabschiedet wurde, jedoch hat man
deren Raum- und Zeitstruktur beibehalten. Klassenräume und Stundenrhythmen
gehören einem Typus an, den Michel Foucault als Einschließungsmilieu
bezeichnete. Nur lassen sich Kinder und vor allem pubertierende Jugendliche so
nicht mehr disziplinieren.
Aufgrund
überbordenden Gebrauchs digitaler Medien völlig dezentriert, können sich viele
in den vorgegebenen Strukturen nicht mehr konzentrieren. Die täglichen
Mediennutzungszeiten Pubertierender variieren je nach Studie zwischen fünf und
sieben Stunden. Es ist laut geworden in den spätmodernen Lernfabriken.
Gerade die
kooperativen Lernformen, die auf die Dezentrierung reagieren und sie zugleich
verstärken, werden schon in der Grundschule eingeübt und lassen je nach
Lerngruppe in den Räumen den Lärmpegel bis auf 80 Dezibel ansteigen. Anderen
Berufsgruppen wird da Gehörschutz verordnet.
Aber viele
Lehrerinnen und Lehrer sprechen nicht offen über dieses Thema, weil sie das
Ressentiment fürchten, der Grund für den Lärm sei mangelnde pädagogische
Kompetenz. Genauso schreiben sich gegenwärtig viele Eltern ihr Scheitern selbst
zu, wenn es darum geht, den Medienkonsum ihrer Kinder zu reglementieren; dabei
haben sie schlichtweg keine Chance gegen die Produktentwicklungs- und
Werbestrategien großer IT-Konzerne. Es ist ja gerade das Geschäftsmodell vieler
Firmen, die Begierden der Nutzer so anzutriggern, dass das Virtuelle ihr Dasein
bestimmt oder Smartphones quasi als Organe ins Körperschema integriert werden.
Die Nutzer werden nervös, wenn die Geräte nicht in Reichweite sind.
Dass die
Hattie-Studie für kleinere Klassen eine eher niedrige Lerneffektstärke
ermittelte, kam den Bildungs- und Finanzministerien sehr zupass: So konnte man
die Klassengrößen mit ruhigem pädagogischen Gewissen beibehalten. Jedoch zeigt
eine genaue Lektüre von John Hatties Buch „Visible Learning“, dass gerade das
Thema „Klassengröße“ unbedingt weiter untersucht werden muss. Hattie weist
selbst darauf hin, dass veränderte Lehrmethoden, anderes Feedback-Verhalten,
neue Formen der Interaktion, die nur in kleineren Lerngruppen möglich sind, das
Lernen fördern können.
Und viele
Pädagogen haben die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Methoden – wie
beispielsweise das von vielen Oberstufenschülerinnen und -schülern immer noch
sehr geschätzte lehrerzentrierte Unterrichtsgespräch – nur in Klassen bis
maximal 20 Schülern überhaupt funktionieren.
Große Lerngruppen
produzieren quantitativ mehr Arbeit als kleine. Das wäre an sich eine lapidare
Aussage, wenn sich nicht die Benotungskriterien und – damit eng verbunden – die
Schreibkompetenz, also die Fähigkeit, lesbare Texte zu schreiben, so gravierend
verändert hätten. Oberstufenklausuren mit 10 bis 15 Rechtschreib- und
Grammatikfehlern pro Seite sind leider nicht die Ausnahme; und für einige
Handschriften benötigt man Werkstattleuchten und Leselupen.
Für Lehrerinnen
und Lehrer heißt das aber, dass die Klausurenkorrektur durchschnittlich länger
dauert als früher, dass jede Klausur mindestens zwei Mal gelesen werden muss:
Zunächst müssen die Orthographie-, Grammatik- und Ausdrucksfehler analysiert
und markiert werden, dann die – oft durch die Fehler produzierten – semantischen
Unverständlichkeiten.
Aufgefordert,
Lehrerarbeitszeiten transparent zu machen, veranschlagt der Berliner Senat 20
bis 25 Minuten Korrekturzeit für eine Oberstufenklausur inklusive der
Beurteilung durch ein elektronisches Bewertungsraster. Dieses sogenannte
Onlinegutachten hat für bestimmte Klausurformate zum Beispiel im Fach Deutsch
zwölf Bewertungskriterien parat. Je nachdem benötigt man für die endgültige
kriteriengeleitete Beurteilung einer einzigen Klausur über 50 Klicks.
Das ist
Fließbandarbeit im digitalen Zeitalter: Erst korrigiert man die Klausur mit der
Hand, dann klickt man sich durch die Onlineraster, druckt sie aus,
unterschreibt und heftet sie an die Klausuren. Das Arbeitszimmer muss für
solche Abläufe optimiert werden. Im Kreis läuft man so oder so – und die
veranschlagte Arbeitszeit wird immer überschritten. Weil es nicht zu schaffen
ist. Unter 45 Minuten kann man keine Deutsch- oder Philosophie-Klausur
korrigieren, wenn man der Schülerarbeit einigermaßen gerecht werden möchte. So
sitzt man dann 15 Stunden (oder länger) an der Korrektur eines einzigen
Klausurenstapels.
Sind
Oberstufenkurse im Allgemeinen kleiner als die der Mittelstufe, so können sich
die Mittelstufenlehrerinnen und -lehrer zwar damit trösten, dass die zu
korrigierenden Texte nicht so lang sind; aber es sind eben mehr (und meistens
enthalten sie mehr Fehler). Schlimm wird es für Kolleginnen und Kollegen, deren
Fächer nur zwei Stunden pro Woche unterrichtet werden. So kann es sein, dass
eine Ethik- und Biologielehrerin in der Mittelstufe vier Klassen in beiden
Fächern unterrichtet. Geht man davon aus, dass sie pro Halbjahr zwei
Lernerfolgskontrollen (LEKs) schreiben lässt, allein um die Zeugnisnote valide
abzusichern, so sind das 8 mal 4 mal 30 LEKs, die korrigiert werden müssen. In
der Summe: 960 Arbeiten. Geht man von Sekundarschul-Klassen mit 25 Schülern
aus, so sind es immer noch 800 LEKs. Stückzahlen, die korrigiert werden müssen.
Da aber jede
Vollzeit-Lehrkraft noch weitere neun oder zehn Stunden unterrichtet, kommen weitere
Korrekturbelastungen hinzu. Und damit sind viele andere Arbeiten wie digitale
Fehlzeitenverwaltung, das Anfertigen von Abiturentwürfen für das dezentrale
Abitur (zum Beispiel im Fach Philosophie) oder vermehrte Prüfungsaufgaben noch
gar nicht berührt.
Auch führt die
Kompetenzorientierung dazu, dass mittlerweile gerade junge Lehrerinnen und
Lehrer digital verwaltete Notenarsenale anlegen; denn die Kompetenzideologie
fordert, dass ein Schüler differenziert nach unterschiedlichen Kompetenzen
bewertet wird. Erteilt man einem Schüler oder einer Schülerin drei Mal pro
Schulhalbjahr jeweils fünf oder sogar mehr Kompetenznoten für die Mitarbeit im
Unterricht, so heißt das, dass ein Lehrer mit vollem Stundendeputat – in Berlin
sind das 26 Unterrichtsstunden – im gesamten Schuljahr weit mehr als 5000 Noten
gibt; unterrichtet er vor allem zweistündige Fächer, so erhöht sich die Zahl
schnell auf 6000 bis 7000 Noten pro Schuljahr. Man muss sich solche Zahlen vor
Augen führen, um die Absurdität der kompetenzorientierten Benotung zu erkennen.
Als Lehrer ist
man gegenwärtig die meiste Zeit am Rechnen, und zwar vor allem mit dem
vergeblichen Versuch, seine Arbeitsbelastung zu reduzieren. Denn die Reaktion
der Bildungsverwaltungen ist: Lehrerinnen und Lehrer müssen ihr Zeitmanagment
verbessern. Es ist die für neoliberale Gesellschaften typische Forderung an das
erschöpfte Selbst: Wenn du deine Arbeit nicht schaffst, musst du deine Abläufe
optimieren. Es liegt an dir! Der Zynismus geht mittlerweile so weit, dass
Lehrerinnen und Lehrern von externen Evaluationsbehörden empfohlen wird, in
ihrer Freizeit, die es ja kaum noch gibt, „Wohlfühlteams“ zu bilden oder
Workshops zur „Work-Life-Balance“ zu buchen.
Es mag paradox
klingen, dass die so gehypte „Neue Lernkultur“ entfremdete Arbeit und Lärm
erzeugt; doch machen eben diese Zustände die technokratisch-metrische
Grundstruktur der Kompetenz-Modellierung nun auch für diejenigen sichtbar, die
sie bisher fetischisierten. Und auch den neoliberalen
Selbstoptimierungsimperativ sollte man als das durchschauen, was er ist: eine
Ausbeutungsstrategie. Vor allem aber führt die neue Unterrichtstechnokratie
dazu, dass Bildung nur noch unter dem Aspekt der Operationalisierung und
Messbarkeit betrachtet wird; deshalb spricht der Wiener Philosoph Konrad Paul
Liessmann von der „Praxis der Unbildung“.
Würden Klassen
verkleinert, würde man sich vom Metrisierungswahn, der Output-Orientierung und
vom Diktat des kooperativen Lernens abkehren, so würden sich Korrekturpensen,
Lärm und Stress enorm verringern; und es gäbe mehr Zeit für schöpferische und
zwischenmenschliche pädagogische Aufgaben – vor allem für eigenständige
Unterrichtsgestaltung.
Zumindest was den
Korrekturaufwand betrifft, produziert die „Neue Lernkultur“ einen – leider sehr
zweifelhaften – Kollateralnutzen: Da die Bildungsverwaltungen die Bedeutung von
Orthographie- und Grammatikfehlern für die Gesamtnote einer Klausur immer
weiter marginalisieren, schleicht sich sowieso schon bei manchem Lehrer eine
resignative Laxheit ein. Man streicht gar nicht mehr alle Fehler an. Das spart
Zeit! – führt aber dazu, dass viele Schülerinnen und Schüler die
Fehlerhaftigkeit ihrer Klausuren gar nicht mehr erkennen. Und viele von ihnen
werden später selbst Lehrerinnen und Lehrer… Auch hier gilt: Die Masse macht’s.
Nils Björn Schulz ist Lehrer am Robert-Havemann-Gymnasium in
Berlin.
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