Die Zürcher Erziehungsdirektorin hält in ihrem Interview vom 28.01.2019 fest,
dass der Lehrplan 21 «...nach jahrelanger Vorbereitung und Diskussion...»
eingeführt worden sei. Eingeführt ist nicht umgesetzt! Die «jahrelange
Vorbereitung» mag zutreffen; sie erfolgte unter Ausschluss der Öffentlichkeit
und vor allem der jetzt direkt Betroffenen. Wer sich heute umhört, erfährt,
dass der LP21 ein Reformvorhaben ist, das erstaunlich wenig echt freiwillige
Gefolgschaft findet, sondern mit repressiven Massnahmen gegenüber Lehrerinnen
und Lehrern eingeführt werden muss. Solches findet man sonst nur in totalitären
Staaten! «Änderungen in den Schulen müssen breit abgestützt sein», sagt die
Erziehungsdirektorin, und fährt fort: «Wenn die involvierten Personen nicht
dahinterstehen, sind Änderungen zum Scheitern verurteilt». LP21 lässt grüssen!
Keine Visionen für die Zukunft der Schule? Gerhard Steiner, 2.2.
Im Zusammenhang mit der «Chancengerechtigkeit» (u.a. im Blick auf Behinderte)
ist im weiteren Verlauf des Interviews die programmatische Aussage zu lesen:
«Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein
Menschenrecht. Jeder sollte, wenn möglich, integriert unterrichtet werden» - d.h.
alle beisammen: die hochbegabten, die durchschnittlichen, die verhaltensgestörten
und die behinderten Kinder. Das Behindertengleichstellungsgesetz verlange das. Dort
heisst es in Art. 20, Abs. 2 «Die Kantone fördern, soweit dies möglich ist und
dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden
Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die
Regelschule». Ob sich die oben zitierte magistrale Aussage aus den
Formulierungen des Gesetzestextes zwingend so extrapolieren lässt, ist doch
sehr in Frage zu stellen. Entscheidend ist, dass alle Lernenden eine ihren Fähigkeiten
entsprechende optimale Förderung erhalten. Das aber ist für die überwiegende
Mehrzahl der Lernenden (selbst für Behinderte) in einem nicht-integrativen
Lernumfeld viel effizienter zu haben, weil dort (1) die Organisation der
Lehr-Lern-Situation wesentlich schlanker ist, was (2) weniger Umtriebe und
Ablenkung zur Folge hat und (3) auf Seiten der Lernenden eine höhere Konzentration
ermöglicht. Dadurch wird (4) die Nutzung der Lernzeit massiv erhöht, was (5) mehr
sichtbaren Lernerfolg generiert. Und (6) wird die Autonomie vieler Lehrerinnen
und Lehrer wiederhergestellt, ihr Kräfteverschleiss geringer und die
Arbeitszufriedenheit grösser. Das ist für mich zwar kein Menschenrecht, aber
eine gut begründbare Vision. Die als Ziel formulierte Integration behinderter
Kinder muss und darf dabei keineswegs verloren gehen; sie kann gezielt in
spezifischen Bereichen auf der Basis subtiler sozialer Interaktionen realisiert
werden; dazu macht das Gesetz keine Vorschriften.
Gerhard Steiner, em. Prof. für Psychologie (Entwicklung und Lernen) Universität Basel. Der Text wurde der NZZ als Leserbrief zugestellt.
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