3. Februar 2019

Ist Integration ein Menschenrecht?


Die Zürcher Erziehungsdirektorin hält in ihrem Interview vom 28.01.2019 fest, dass der Lehrplan 21 «...nach jahrelanger Vorbereitung und Diskussion...» eingeführt worden sei. Eingeführt ist nicht umgesetzt! Die «jahrelange Vorbereitung» mag zutreffen; sie erfolgte unter Ausschluss der Öffentlichkeit und vor allem der jetzt direkt Betroffenen. Wer sich heute umhört, erfährt, dass der LP21 ein Reformvorhaben ist, das erstaunlich wenig echt freiwillige Gefolgschaft findet, sondern mit repressiven Massnahmen gegenüber Lehrerinnen und Lehrern eingeführt werden muss. Solches findet man sonst nur in totalitären Staaten! «Änderungen in den Schulen müssen breit abgestützt sein», sagt die Erziehungsdirektorin, und fährt fort: «Wenn die involvierten Personen nicht dahinterstehen, sind Änderungen zum Scheitern verurteilt». LP21 lässt grüssen!
Keine Visionen für die Zukunft der Schule? Gerhard Steiner, 2.2.


Im Zusammenhang mit der «Chancengerechtigkeit» (u.a. im Blick auf Behinderte) ist im weiteren Verlauf des Interviews die programmatische Aussage zu lesen: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht. Jeder sollte, wenn möglich, integriert unterrichtet werden» - d.h. alle beisammen: die hochbegabten, die durchschnittlichen, die verhaltensgestörten und die behinderten Kinder. Das Behindertengleichstellungsgesetz verlange das. Dort heisst es in Art. 20, Abs. 2 «Die Kantone fördern, soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule». Ob sich die oben zitierte magistrale Aussage aus den Formulierungen des Gesetzestextes zwingend so extrapolieren lässt, ist doch sehr in Frage zu stellen. Entscheidend ist, dass alle Lernenden eine ihren Fähigkeiten entsprechende optimale Förderung erhalten. Das aber ist für die überwiegende Mehrzahl der Lernenden (selbst für Behinderte) in einem nicht-integrativen Lernumfeld viel effizienter zu haben, weil dort (1) die Organisation der Lehr-Lern-Situation wesentlich schlanker ist, was (2) weniger Umtriebe und Ablenkung zur Folge hat und (3) auf Seiten der Lernenden eine höhere Konzentration ermöglicht. Dadurch wird (4) die Nutzung der Lernzeit massiv erhöht, was (5) mehr sichtbaren Lernerfolg generiert. Und (6) wird die Autonomie vieler Lehrerinnen und Lehrer wiederhergestellt, ihr Kräfteverschleiss geringer und die Arbeitszufriedenheit grösser. Das ist für mich zwar kein Menschenrecht, aber eine gut begründbare Vision. Die als Ziel formulierte Integration behinderter Kinder muss und darf dabei keineswegs verloren gehen; sie kann gezielt in spezifischen Bereichen auf der Basis subtiler sozialer Interaktionen realisiert werden; dazu macht das Gesetz keine Vorschriften.

Gerhard Steiner, em. Prof. für Psychologie (Entwicklung und Lernen) Universität Basel. Der Text wurde der NZZ als Leserbrief zugestellt. 


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