Die
ehemalige Staatsanwältin Silvia Steiner wurde vor vier Jahren überraschend
Bildungsdirektorin des Kantons Zürich. Heute sagt die CVP-Politikerin, es sei
richtig, auch in der Bildung zu sparen – und gibt sich selber eine gute
Schulnote.
Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner: «Ich glaube nicht an Visionen für die Zukunft der Schule», NZZ, 28.1. von Nils Pfändler und Lena Schenkel
Silvia Steiner, wenn Sie auf Ihre vierjährige Amtszeit zurückblicken,
welche Schulnote würden Sie sich geben?
(Lacht.) Notengebung finde ich etwas Schwieriges, aber ich würde mir
eine 5 geben.
Das heisst, Sie haben vieles richtig gemacht?
Ich habe noch nicht alle Ziele erreicht, die ich mir gesetzt habe. Aber
fast alles ist gelungen, was ich angepackt habe. So konnte zum Beispiel nach
jahrelanger Vorbereitung und Diskussion der neue Lehrplan 21 eingeführt werden.
Im Gegensatz zu einer Schülerin arbeite ich zum Glück nicht alleine. Wenn
einmal ein Fehler passiert, dann können wir ihn korrigieren, nicht wie bei
einer Prüfung.
Wenn Ihnen alles gelungen ist, wieso geben Sie sich keine Sechs?
Dahinter steckt wohl ein bisschen Bescheidenheit. Zudem finde ich, dass
es immer noch Optimierungsmöglichkeiten gibt. Wie ich meine Arbeit mache, ist
Geschmackssache. Aber gemessen an den erreichten Zielen haben wir eine gute
Bilanz. Meine eigene Benotung kann aber nur eine Momentaufnahme sein. Mit einer
Sechs hätte ich ja gar nichts mehr zu tun. Ich habe mir aber noch einige Ziele gesteckt.
Zum Beispiel?
Die Digitalisierung oder die steigenden Schülerzahlen sind
gesellschaftliche Entwicklungen, für die wir in den Schulen eine Antwort finden
müssen. Sie bedingen Weiterbildungen der Lehrpersonen und neue Anschaffungen in
der Infrastruktur der Gemeinden, aber auch grosse Investitionen in den
Mittelschulen oder im universitären Bereich.
Bei Ihrem Amtsantritt haben Sie gesagt, dass im Bildungsbereich eine
Zeit der Konsolidierung anstehe. Kommt jetzt also wieder eine Zeit der
Reformen?
Nein. Bildung ist kein Ort für Experimente. Dafür hat das System zu
viele Player: Lehrer, Eltern und Schülerinnen. Mir geht es jedenfalls nicht
darum, mich selbst zu verwirklichen oder mir ein Denkmal zu setzen. Änderungen
in den Schulen müssen breit abgestützt sein. Wenn die involvierten Personen
nicht dahinterstehen, sind Änderungen zum Scheitern verurteilt. Und wenn ein
Bildungsprojekt scheitert, ist es für lange Zeit vom Tisch.
Was ist die Rolle der Bildungsdirektion in solchen Entwicklungen?
Schule findet an der Basis statt, und unsere Kinder und Jugendlichen
sind treibende Kraft für Innovationen. Wir sorgen für die Rahmenbedingungen und
dafür, dass die Schule der Gesellschaft nicht hinterherhinkt.
Das tut sie doch aber, wenn sie das Fach Medien und Informatik erst auf
das Schuljahr 2022/2023 in den Kantonsschulen einführt.
Das kann man so nicht sagen. Das Fach wird dann obligatorisch, aber das
heisst nicht, dass es nicht bereits unterrichtet wird. Unsere Lehrerinnen und
Lehrer leben nicht in einer analogen Welt. Jetzt wollen wir aber an allen
Schulen einen vergleichbaren Standard. Das braucht Zeit.
Drehen Ihnen die Mühlen der Politik manchmal nicht zu langsam?
Ich bin tatsächlich eher ein ungeduldiger Mensch. Ich habe viele
Projekte im Köcher, bei denen es aber noch Geduld braucht. Man muss auf den
richtigen Zeitpunkt warten, alles genau durchdenken, alle Beteiligten ins Boot
holen und vor allem gute rechtliche Grundlagen schaffen.
Was für eine Vision haben Sie für die Schule der Zukunft?
Wie sagte einst Helmut Schmidt: Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.
Ich glaube nicht an Visionen für die Zukunft der Schule. Niemand weiss, wie die
Schule in hundert Jahren aussieht. Das ist ein laufender Prozess, den niemand
vorhersagen kann.
Bleiben wir also in der Gegenwart. Im Bericht des Wissenschaftsrates
wurde kürzlich harsche Kritik geäussert: Kinder von Akademikern hätten noch
immer eine doppelt so hohe Chance, ins Gymnasium zu kommen, wie andere Kinder.
Die Chancen sind ungleich verteilt, und es ist mir ein grosses Anliegen,
dagegen in unseren Schulen etwas zu tun. Das Thema Gerechtigkeit zieht sich wie
ein roter Faden durch meinen Lebenslauf. Chancengerechtigkeit beginnt bereits
in der frühen Kindheit, lange bevor die Kinder in den Kindergarten kommen.
Und wie genau wollen Sie diese gewährleisten?
Die Schulen machen heute schon sehr viel. Eine Schwäche im
Bildungsbereich sind aber die Übergänge. Der Eintritt in den Kindergarten wurde
bisher kaum als solcher wahrgenommen. Dabei ist dieser Schritt für die Kinder
der einschneidendste von allen. Wir wollen keine obligatorischen Massnahmen
anordnen, sondern die Eltern befähigen, ihre Kinder selber gut zu begleiten.
Was für eine Rolle spielen dabei die Schulen?
Die Schulen können die Eltern nicht ersetzen. Aber man kann die Kinder
in der Schule möglichst gut unterstützen und fördern. In den Volksschulen und
seit kurzem auch in den Gymnasien haben die Schulen diesbezüglich wichtige
Schritte gemacht. Einige Gymnasien bieten beispielsweise bereits
Aufgabenstunden, Förderlektionen, Coachings oder Beratungen durch ältere
Schüler an.
Hat sich die Chancengerechtigkeit in der Vergangenheit verbessert?
Ja. Unser Bildungssystem hat sich in den letzten Jahren dank seiner
Durchlässigkeit so verändert, dass Aufstiege leichter möglich sind. Früher gab
es nur eine Schnittstelle, und die Frage lautete: Gymnasium oder nicht. Heute
gewährt das System eine bessere Chancengerechtigkeit – aber nur für die
Leistungswilligen. Es wird den jungen Menschen offengelassen, ob sie sich
stärker engagieren wollen. Irgendwann müssen sie diesen Leistungswillen aber
zeigen.
Trotzdem drängen viele Eltern ihre Kinder um jeden Preis ins Gymnasium.
Eltern haben die Tendenz, ihren Kindern etwas zu empfehlen, was ihrer
eigenen Schulbildung entspricht. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Hier
stehen wir in der Pflicht, Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn der duale Weg ist
sehr erfolgversprechend. Wenn die Fachhochschulabsolventen selber Eltern sind,
die ihre Kinder bei der Berufswahl beraten, werden mehr Kinder einen
nichtgymnasialen Weg wählen.
Die Wissenschaft erachtet eine frühe Trennung von Leistungsgruppen als
kontraproduktiv für die Chancengerechtigkeit. Ist das Langzeitgymnasium ein
Auslaufmodell?
Nein, das Langzeitgymnasium ist für mich absolut unverzichtbar. Wir
machen für die begabten und hochbegabten Schülerinnen und Schüler in der
Volksschule nicht so viel, wie wir eigentlich müssten. Für viele ist das
Langzeitgymnasium deshalb der Ort, an dem sie die schulische Herausforderung
erhalten, die sie brauchen.
In der Volksschule treffen noch sämtliche Leistungsgruppen aufeinander.
Die Integration aller Kinder in Regelschulklassen steht jedoch immer wieder in
der Kritik. Ist das Projekt gescheitert?
Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein
Menschenrecht. Jeder sollte, wenn möglich, integriert unterrichtet werden. Das
verlangt das Behindertengleichstellungsgesetz, und das bestätigte auch das
Zürcher Stimmvolk bei der letzten Revision des Volksschulgesetzes. Die Zahl der
separierten Kinder ist in den letzten zehn Jahren von 8000 auf 3500 gesunken.
Dass dies funktioniert, liegt nicht zuletzt daran, dass unsere Lehrpersonen bei
der Integration extrem viel leisten.
Allgemein wird von den Lehrern immer mehr gefordert. Ist das überhaupt
noch zumutbar?
Wir hätten keine Lehrerinnen und Lehrer mehr, wenn es nicht zumutbar
wäre. Doch man sollte ihren grossen Einsatz mehr wertschätzen. Es werden heute
andere Sachen von ihnen gefordert als früher. Eine grosse Änderung der letzten
Jahre ist die Individualisierung des Unterrichts, also die Ausrichtung auf die
Bedürfnisse der einzelnen Kinder. Das finde ich etwas Wunderbares, ist aber
aufwendig.
Aber der Lehrerberuf hat in den letzten Jahren an Ansehen und Autorität
verloren.
Das Ansehen von Berufen wie Arzt, Pfarrer und Lehrer hat sich verändert,
weil unsere Gesellschaft immer besser gebildet ist und immer mehr Dinge
hinterfragt − selbst ärztliche Diagnosen. Das ist auch nicht weiter schlimm;
kritisches Denken ist schliesslich gefragt.
Der Lehrermangel ist aber zu jedem Schuljahresbeginn aufs Neue ein
Thema. Künftig braucht es noch mehr: Laut dem Bildungsbericht werden die
Schülerzahlen bis ins Jahr 2025 um 18 Prozent steigen.
Wir gehen davon aus, dass wir im Jahr 2030 den Höchststand erreichen werden.
Deshalb müssen wir mehr Lehrer ausbilden. Auf der anderen Seite haben wir eine
Langzeitstrategie für die Schulraumentwicklung. Ein Beispiel dafür sind die
zwei neuen Mittelschulen am rechten und linken Zürichseeufer.
Was lässt sich gegen den drohenden Lehrermangel unternehmen?
Die Zahl der Studierenden an der Pädagogischen Hochschule steigt
konstant. Ich möchte aber auch nicht zu viele ausgebildete Lehrerinnen. Wir
werden voraussichtlich 2030 einen Peak erreichen. Wenn danach die Schülerzahlen
wieder sinken, gäbe es plötzlich arbeitslose Lehrer. Das müssen wir verhindern.
Deshalb müssen wir versuchen, dass die Lehrpersonen möglichst lange im Beruf
bleiben, und wir müssen die Gemeinden ermuntern, dass sie ihre Kleinstpensen an
den Schulen anheben.
Infrastruktur und Lehrerinnen kosten. Gleichzeitig steht die Bildung
unter ständigem Spardruck. Wie gelingt dieser Spagat?
Die gesamte Verwaltung steht unter Spardruck. Das ist auch richtig so.
Wir müssen unsere Leistungen dauernd überprüfen. Das Geld, das wir ausgeben,
gehört nicht uns, sondern stammt von den Steuerzahlern.
Wieso wird überhaupt an der Bildung gespart – immerhin ist sie doch die
einzige Ressource der Schweiz.
Diese Aussage finde ich falsch. Nicht die Bildung, sondern unsere
leistungswilligen jungen Menschen sind unsere Ressource. Wir müssen ihnen etwas
bieten, damit sie etwas aus sich machen können. Es ist extrem viel Potenzial
vorhanden; das beweisen all die Startups, die Forschungsresultate an der
Universität sowie die Fachkräfte an den Berufsfachschulen.
Als Zürcher Regierungsrätin und Präsidentin der Eidgenössischen
Erziehungsgdirektorenkonferenz sind Sie einer breiten Öffentlichkeit bekannt.
Im Herbst wurden Sie gar für einen Sitz im Bundesrat ins Spiel gebracht. Was
hat die Diskussion bei Ihnen ausgelöst?
Es hat mich geehrt, dass man an mich gedacht hat. Aber ich habe heute
den besten Job, den ich je hatte. Deshalb habe ich auch früh gesagt, dass ich
für eine Kandidatur nicht zur Verfügung stehe.
Im Regierungsrat wären Sie als ehemalige Staatsanwältin eigentlich
prädestiniert für die Direktion der Justiz und des Innern. Es war für viele
eine Überraschung, dass Sie die Bildungsdirektion übernahmen.
Es ist kein Nachteil, Juristin zu sein. Es gibt im Bildungsbereich viele
komplexe Gesetzesvorlagen, bei denen das nicht schadet. Zudem ist meine
Führungserfahrung für meine jetzige Tätigkeit ausgesprochen hilfreich.
Sie hegen also keine Wechselgelüste?
Nein. Entscheiden wird das zwar der Gesamtregierungsrat. Aber die
Bildung ist eine äusserst dankbare Aufgabe. Ich kann meine Erfahrungen
einbringen, ich kann gestalten und zukunftsgerichtet arbeiten. Früher in der
Strafverfolgung musste ich eher korrigierend eingreifen. Es gibt nichts
Sinnvolleres, als der nächsten Generation Wissen weiterzugeben.
Aussagen von Silvia Steiner:
AntwortenLöschen• Aber gemessen an den erreichten Zielen haben wir eine gute Bilanz.
• Mit einer Sechs hätte ich ja gar nichts mehr zu tun.
• Bildung ist kein Ort für Experimente.
• Wenn die involvierten Personen nicht dahinterstehen, sind Änderungen zum Scheitern verurteilt.
• … unsere Kinder und Jugendlichen sind treibende Kraft für Innovationen.
• Unsere Lehrerinnen und Lehrer leben nicht in einer analogen Welt.
• Ich habe viele Projekte im Köcher.
• Ich glaube nicht an Visionen für die Zukunft der Schule. Niemand weiss, wie die Schule in hundert Jahren aussieht. Das ist ein laufender Prozess, den niemand vorhersagen kann.
• Der Eintritt in den Kindergarten wurde bisher kaum als solcher wahrgenommen.
• Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht. Jeder sollte, wenn möglich, integriert unterrichtet werden. Das verlangt das Behindertengleichstellungsgesetz…
• Eine grosse Änderung der letzten Jahre ist die Individualisierung des Unterrichts, also die Ausrichtung auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder. Das finde ich etwas Wunderbares, ist aber aufwendig.
• Das Ansehen von Berufen wie Arzt, Pfarrer und Lehrer hat sich verändert…
Nota bene: Diese Aussagen stammen trotz ihrer sprachlichen Unbeholfenheit von der höchsten Bildungspolitikerin des Landes, einer promovierten Juristin, Kriminologin und ehemaligen Chefin der Kriminalpolizei der Stadt Zürich. Ist diese Frau möglicherweise einfach hoffnungslos überfordert?