Die
neue Basler Schullaufbahnverordnung sieht Repetitionen nur in Ausnahmefällen
vor. Lehrer äussern Bedenken.
Sitzenbleiben war gestern, Schweiz am Sonntag, 8.1. von Leif Simonsen
Wer im
Zeugnis einen ungenügenden Notenschnitt ausweist, bleibt sitzen. Diese uralte
Formel ist nun im Zuge der Schulharmonisierung Harmos fast unbemerkt
abgeschafft worden. Die neue Schullaufbahnverordnung sieht in Basel-Stadt
lediglich in Ausnahmefällen vor, dass ein Schüler in der Primarschule oder in
der Sekundarschule die Klasse wiederholt. Nur, wer einen «verzögerten
Entwicklungsstand» aufweist, «einschneidende persönliche Umstände» zu beklagen
hat oder einen «unregelmässigen Bildungsgang» hinter sich hat, darf repetieren.
In Paragraf 40 verbirgt sich die pädagogische Reform: «In der Volksschule
werden die Schülerinnen und Schüler unabhängig von der Beurteilung (...) ins
nächste Jahr befördert.» Im Kanton Baselland ist zwar weiterhin vorgesehen, dass
die Kinder das Schuljahr wiederholen können. Trotz ungenügender Noten kann ein
Kind aber im Rahmen einer «einvernehmlichen Lösung» zwischen Eltern und Lehrern
befördert werden. Der Effekt ist drei Jahre nach der Einführung deutlich
spürbar. In Baselland repetierten im vergangenen Jahr noch 399 von 28 679
Volksschülern die Klasse. Das entspricht einer Remotionsquote von 1,4 Prozent.
Seit 2004, als 3,1 Prozent oder knapp 1000 von 30765 Schülern in die Ehrenrunde
geschickt wurden, sinkt die Zahl der Sitzengebliebenen kontinuierlich. Im
Stadtkanton liegen weniger detaillierte Zahlen vor. Eine Erhebung unter den
Volksschulabsolventen der vergangenen drei Jahre bestätigt allerdings die
Tendenz auf der Primarstufe: 2015/2016 erreichten 9,2 Prozent der Schüler die Sekundarstufe
mit Verzögerung. Zwei Jahre zuvor waren es 10,6 Prozent gewesen.
Kulturkampf in Deutschland
Die
Erziehungsdirektionen in Baselland und Basel-Stadt sehen im Sitzenbleiben in
der Primar- und Sekundarschule keine nachhaltige Lösung mehr. Deborah Murith,
Pressesprecherin der Baselbieter Bildungsdirektion, sagt: «Studien belegen,
dass sich die Schulleistungen von repetierenden Schülerinnen und Schülern
häufig nicht verbessern.» Ulrich Maier, Leiter Mittelschulen und Berufsbildung
in Basel-Stadt, teilt diese Ansicht: «Alleine durch die Repetition des Stoffs
ist nicht garantiert, dass der Stoff nachher besser sitzt.»
Die
Schulprobleme sollen nun statt durch Sitzenbleiben durch individuelle Förderung
gelöst werden. Auf Primarschulebene kümmern sich beispielsweise Heilpädagogen
um die schwächeren Schüler. Individuelle Lernziele werden definiert. In der Sek
werden die Schüler auf der gleichen Stufe in einen tieferen Leistungszug
versetzt.
Die
Abkehr vom Sitzenbleiben ist umstritten, wie der Blick nach Deutschland zeigt.
Als im Bundesland Niedersachsen die rot-grüne Regierung ankündigte, das
Repetieren perspektivisch abzuschaffen, brach ein wahrer Kulturkampf aus.
Traditionalisten verwiesen auf die lange Liste erfolgreicher Deutscher, die in
ihrer Schulkarriere eine Ehrenrunde eingelegt hatten: Thomas Mann etwa, Peer
Steinbrück oder Otto von Bismarck. Kritiker bemängelten, die Schüler hätten
keinen Grund mehr sich anzustrengen, wenn sie ohnehin befördert würden. Die
Reformpädagogen stellten sich hingegen auf den Standpunkt, dass das
Sitzenbleiben einen negativen Einfluss aufs Selbstwertgefühl habe und zudem
teuer sei.
Durchlässiges Schulsystem
In
Baselland und Basel-Stadt gehen die Emotionen weniger hoch als in Deutschland.
Dies dürfte vor allem daran liegen, dass die hiesige Schulverordnung den
Lehrern und Eltern Mitbestimmungsmöglichkeiten zugesteht. Die Kantonale
Schulkonferenz Basel-Stadt ist gemäss Präsidentin Gaby Hintermann zum Schluss
gekommen, dass auch die neue Remotionsverordnung «alle Gründe umfasst, die eine
sinnvolle Remotion ermöglicht». Bedenken gibt es vonseiten des Baselbieter
Lehrervereins. Lehrerverein-Geschäftsführer Michael Weiss sagt, dass das Risiko
erhöht würde, dass elementare Lücken über die ganze Schulzeit geschleppt
würden, wenn man die Möglichkeit der Wiederholung zu stark einschränke. Er
kritisiert vor allem, dass im letzten Sekundarschuljahr keine Repetitionen
vorgesehen sind. «Schülerinnen und Schüler, welche die Sekundarschule mit
schlechten Leistungen abschliessen, wird der Anschluss an die weiterführenden
Schulen auf diese Weise sehr stark verbaut.» Dass man auf Repetitionen im
letzten Primarschuljahr verzichte, könne er nachvollziehen. Schliesslich sei
das Schulsystem durchlässig und ermögliche, in der Sekundarschule aufzusteigen.
Gewöhnungsbedürftig
sind die strengeren Regeln fürs Sitzenbleiben offenbar vor allem für die
Eltern. «Viele sind noch immer der Meinung, dass ein Niveauabstieg oder der
Wechsel in eine Berufslehre die Zukunft verbaut», sagt Ulrich Maier. Dabei
helfe man den Schülern mit dem neuen Steuerungsinstrument. «Wirklich schlimm
ist doch, wenn eine Schulkarriere erst ganz spät scheitert.»
Willkommen im pädagogischen Schönsprech: "Remotion".
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