9. Januar 2017

Umstrittene Promotion

Die neue Basler Schullaufbahnverordnung sieht Repetitionen nur in Ausnahmefällen vor. Lehrer äussern Bedenken.
Sitzenbleiben war gestern, Schweiz am Sonntag, 8.1. von Leif Simonsen

Wer im Zeugnis einen ungenügenden Notenschnitt ausweist, bleibt sitzen. Diese uralte Formel ist nun im Zuge der Schulharmonisierung Harmos fast unbemerkt abgeschafft worden. Die neue Schullaufbahnverordnung sieht in Basel-Stadt lediglich in Ausnahmefällen vor, dass ein Schüler in der Primarschule oder in der Sekundarschule die Klasse wiederholt. Nur, wer einen «verzögerten Entwicklungsstand» aufweist, «einschneidende persönliche Umstände» zu beklagen hat oder einen «unregelmässigen Bildungsgang» hinter sich hat, darf repetieren. In Paragraf 40 verbirgt sich die pädagogische Reform: «In der Volksschule werden die Schülerinnen und Schüler unabhängig von der Beurteilung (...) ins nächste Jahr befördert.» Im Kanton Baselland ist zwar weiterhin vorgesehen, dass die Kinder das Schuljahr wiederholen können. Trotz ungenügender Noten kann ein Kind aber im Rahmen einer «einvernehmlichen Lösung» zwischen Eltern und Lehrern befördert werden. Der Effekt ist drei Jahre nach der Einführung deutlich spürbar. In Baselland repetierten im vergangenen Jahr noch 399 von 28 679 Volksschülern die Klasse. Das entspricht einer Remotionsquote von 1,4 Prozent. Seit 2004, als 3,1 Prozent oder knapp 1000 von 30765 Schülern in die Ehrenrunde geschickt wurden, sinkt die Zahl der Sitzengebliebenen kontinuierlich. Im Stadtkanton liegen weniger detaillierte Zahlen vor. Eine Erhebung unter den Volksschulabsolventen der vergangenen drei Jahre bestätigt allerdings die Tendenz auf der Primarstufe: 2015/2016 erreichten 9,2 Prozent der Schüler die Sekundarstufe mit Verzögerung. Zwei Jahre zuvor waren es 10,6 Prozent gewesen.

Kulturkampf in Deutschland
Die Erziehungsdirektionen in Baselland und Basel-Stadt sehen im Sitzenbleiben in der Primar- und Sekundarschule keine nachhaltige Lösung mehr. Deborah Murith, Pressesprecherin der Baselbieter Bildungsdirektion, sagt: «Studien belegen, dass sich die Schulleistungen von repetierenden Schülerinnen und Schülern häufig nicht verbessern.» Ulrich Maier, Leiter Mittelschulen und Berufsbildung in Basel-Stadt, teilt diese Ansicht: «Alleine durch die Repetition des Stoffs ist nicht garantiert, dass der Stoff nachher besser sitzt.»

Die Schulprobleme sollen nun statt durch Sitzenbleiben durch individuelle Förderung gelöst werden. Auf Primarschulebene kümmern sich beispielsweise Heilpädagogen um die schwächeren Schüler. Individuelle Lernziele werden definiert. In der Sek werden die Schüler auf der gleichen Stufe in einen tieferen Leistungszug versetzt.

Die Abkehr vom Sitzenbleiben ist umstritten, wie der Blick nach Deutschland zeigt. Als im Bundesland Niedersachsen die rot-grüne Regierung ankündigte, das Repetieren perspektivisch abzuschaffen, brach ein wahrer Kulturkampf aus. Traditionalisten verwiesen auf die lange Liste erfolgreicher Deutscher, die in ihrer Schulkarriere eine Ehrenrunde eingelegt hatten: Thomas Mann etwa, Peer Steinbrück oder Otto von Bismarck. Kritiker bemängelten, die Schüler hätten keinen Grund mehr sich anzustrengen, wenn sie ohnehin befördert würden. Die Reformpädagogen stellten sich hingegen auf den Standpunkt, dass das Sitzenbleiben einen negativen Einfluss aufs Selbstwertgefühl habe und zudem teuer sei.

Durchlässiges Schulsystem
In Baselland und Basel-Stadt gehen die Emotionen weniger hoch als in Deutschland. Dies dürfte vor allem daran liegen, dass die hiesige Schulverordnung den Lehrern und Eltern Mitbestimmungsmöglichkeiten zugesteht. Die Kantonale Schulkonferenz Basel-Stadt ist gemäss Präsidentin Gaby Hintermann zum Schluss gekommen, dass auch die neue Remotionsverordnung «alle Gründe umfasst, die eine sinnvolle Remotion ermöglicht». Bedenken gibt es vonseiten des Baselbieter Lehrervereins. Lehrerverein-Geschäftsführer Michael Weiss sagt, dass das Risiko erhöht würde, dass elementare Lücken über die ganze Schulzeit geschleppt würden, wenn man die Möglichkeit der Wiederholung zu stark einschränke. Er kritisiert vor allem, dass im letzten Sekundarschuljahr keine Repetitionen vorgesehen sind. «Schülerinnen und Schüler, welche die Sekundarschule mit schlechten Leistungen abschliessen, wird der Anschluss an die weiterführenden Schulen auf diese Weise sehr stark verbaut.» Dass man auf Repetitionen im letzten Primarschuljahr verzichte, könne er nachvollziehen. Schliesslich sei das Schulsystem durchlässig und ermögliche, in der Sekundarschule aufzusteigen.


Gewöhnungsbedürftig sind die strengeren Regeln fürs Sitzenbleiben offenbar vor allem für die Eltern. «Viele sind noch immer der Meinung, dass ein Niveauabstieg oder der Wechsel in eine Berufslehre die Zukunft verbaut», sagt Ulrich Maier. Dabei helfe man den Schülern mit dem neuen Steuerungsinstrument. «Wirklich schlimm ist doch, wenn eine Schulkarriere erst ganz spät scheitert.»

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