Kleines Land, kleine
Sorgen: Anders lässt sich die Aufregung nicht erklären, die der Entscheid des
Thurgaus ausgelöst hat, Französisch nicht mehr in der Primarschule zu lehren.
Gewiss, es staucht das Ego der Frankophonen, dass Englisch in Klassenzimmern der
Ostschweiz mehr gilt als die Sprache von Molière oder Ramuz. Aber droht
deswegen Gefahr für den Zusammenhalt der Nation? Sicher nicht. Denn selbst wenn
die Reform im Thurgau die Vernehmlassung und allenfalls auch eine
Volksabstimmung übersteht, ändert sie nichts an der durchschnittlichen
Fähigkeit der Schweizer, sich in ihren Landessprachen zu verständigen.
Falscher Mythos, Weltwoche 14/2016 von Sylvain Besson
Kaum
jemand spricht vom wahren Problem: Die Romands können sich ungenügend auf
Deutsch ausdrücken. Das kommt einerseits
von einem kaum
angebrachten Gefühl der kulturellen Überlegenheit, von den französischen
Nachbarn geerbt, anderseits von den verknöcherten Methoden der Deutschlehrer –
zusammen mit dem Komplex der Minderheit, die das Idiom der Mehrheit stolz
verkennt. Das ist bedauerlich. Aber es scheint die Kämpfer für den Zusammenhalt
nicht zu kümmern, die jetzt über den Thurgau schimpfen. Mit der Bibel gesprochen:
Die Romands, die über die mangelnde Lust der Alemannen auf Französisch klagen,
sehen den Splitter im Auge der anderen, aber nicht den Balken im eigenen.
Die
Aufregung wegen des Verzichts auf Französisch lässt sich gleichwohl nachfühlen.
Aber sie gründet auf einem falschen Mythos: jenem einer Schweiz, in der sich
jeder Bürger dank der Schule in den Landessprachen verständigen kann. Er stimmt
offensichtlich nicht. Vom Deutschschweizer, der sich nur in seiner Mundart
ausdrückt, über den Bilingue, der sich in zwei Idiomen wohlfühlt, bis zum
Polyglotten, der fünf oder sechs Sprachen beherrscht, findet sich eine grosse
Vielfalt.
Doch
das gefährdet nicht den Zusammenhalt der Nation. Denn der beruht auf all jenen,
vom Bankdirektor bis zum Zugführer, die täglich in zwei oder sogar drei
Landessprachen leben. Dieses Rückgrat der Nation wächst im Kontakt der
Landesteile heran, vor allem bei der Arbeit. Die Schule bildet nur die
Grundlage dafür – es kommt nicht darauf an, ob auf der Primar- oder auf der Sekundarstufe.
Auch ein kleines Land hat grössere Probleme.
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