27. November 2019

Etuimacher und Fotolaborant sind verschwunden


Auf dem Schweizer Lehrstellenmarkt ist es in den vergangenen Jahren zu eklatanten Verschiebungen gekommen. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik(BFS),die das Tamedia-Datenteam ausgewertet hat. Die Bereiche Betreuung, Gesundheit und Informatik boomen. Begannen 2010 noch gut 2500 Jugendliche eine Lehre als Fachmann/Fachfrau Betreuung, waren es 2018 bereits über 3800. Sie arbeiten etwa in einer Kita, in einem Altersheim oder einer Institution mit beeinträchtigten Menschen. Auch den Beruf Fachmann/Fachfrau Gesundheit wählen heute 50 Prozent mehr Jugendliche. Zudem wächst ein weiterer Lehrberuf, der die zwei Berufszweige vereint: die zweijährige Attestlehre Gesundheit und Soziales. 2011 erschaffen, begannen 2018 bereits über 1000 Personen diese Lehre. 

So wandelt sich der Lehrstellenmarkt, Basler Zeitung, 27.11. von Tim Wirth und Sven Cornehis


Die Arbeitgeber regulieren
Seit 2010 macht zudem fast ein Drittel mehr Schweizerinnen und Schweizer eine Informatik-Lehre. Ein Trend, der nicht stoppen wird, wie Zahlen zeigen, die das Meinungsforschungsinstitut GFS Bern für diese Zeitung berechnet hat: Der Bereich «Industrie, Technik, Informatik» wächst stark. Gab es bei diesen Berufen im Sommer vor einem Jahr 9546 neue Lehrstellen, waren es diesen Sommer bereits 16979.

Darunter fallen neben der Informatik unter anderem auch Berufe im Metallbau und in der Elektrotechnik. «Die IT-Betriebe brauchen Fachkräfte. Weil sie diese nicht auf dem Markt finden, schaffen sie Lehrstellen», sagt Serge Frech. Er ist Geschäftsführer des Verbands ICT-Berufsbildung Schweiz. Im Unterschied zu Ländern wie Deutschland oder Dänemark regulieren in der Schweiz die Arbeitgeber den Lehrstellenmarkt. Wollen sie ein neues Berufsbild schaffen, müssen sie auf den Staat zukommen. Nur selten kommen jedoch neue Grundbildungen zum bestehenden Kanon der rund 230 Lehrberufe hinzu. Zehn waren es laut dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) seit 2010, unter anderem die Medizinproduktetechnologin oder der Hörsystemakustiker.

Der Bund überprüft am Ende, ob es einen neuen Lehrberuf wirklich braucht. Der IT-Quereinsteiger Stefan Wössner kritisierte dies im «St.Galler Tagblatt». Er will den Lehrberuf «Frontend-Entwickler» neu erschaffen, weil es zu wenige Fachkräfte gebe, die Layouts von Websitesentwickelten. «Die Bestrebungen drohen in den umständlichen Windungen von Bund und Verbänden im Sand zu verlaufen», sagt Wössner. Bildungsforscher Stefan Wolter von der Universität Bern verteidigt das Schweizer System. Der Bund sichere die Qualität der Lehrberufe. Wolter erinnert an die Aerobic-Welle in den 90erJahren. «Damals forderten die Studios eine Aerobic-Trainer-Lehre», sagt er. Das SBFI habe diese zum Glück nicht genehmigt, denn sonst würden heute viele Aerobic-Fachleute auf der Strasse stehen. Dass Lehrberufe aussterben, kommt selten vor. 13 waren es seit 2010. Zu ihnen gehören der Etuimacher und die Fotolaborantin. «Es sind Berufe, für die es keine Nachfrage mehr gibt», sagt Irene Kriesi vom Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung. Entweder weil sie durch den technologischen Wandel überflüssig werden oder weil die Produktion ins Ausland verlagert wurde.

Fachmänner Gesundheit
Viel weniger Lernende gibt es laut den BFS-Zahlen bei den Coiffeuren und den Kosmetikerinnen. 2018 starteten weniger als 1000 Coiffeusen die Lehre. Acht Jahre zuvor waren es noch knapp1400. Damien Ojetti, Zentralpräsident von Coiffure Suisse, sagt: «Der Verband überprüft dieses Jahr die Grundbildung und den verhältnismässig tiefen Lohn.» Auch in der Nahrungsmittelbranche und im Gastgewerbe machen immer weniger Menschen eine Lehre. Köche, Fleischfachfrauen und Restaurationsfachmänner – überall sinkt die Zahl der Lehrstellen. Diese Entwicklung hält an, wie die Auswertungen von GFS Bern verdeutlichen. Im Sommer 2018gab es noch 7571 neue Lehrstellen im Bereich «Nahrung, Gastgewerbe, Hauswirtschaft». Diesen Sommer waren es nur noch 5416.«Die Gastronomie ist im Wandel», sagt Daniel C. Jung, stellvertretender Direktor von Gastro Suisse. Im vergangenen Sommer startete die reformierte Grundbildung für Restaurantfachfrauen. Neu können die Lernenden Module wie «Jung-Barista» oder «Jung-Sommelier» auswählen. «Damit wird auf die neuen Marktbedürfnisse reagiert, unter anderem von casual geprägten Gastrobetrieben», sagt Jung. Relativ konstant hält sich das KV. Rund 14000 Lernende starten pro Jahr, wie der Kaufmännische Verband mitteilt. Das KV ist denn auch die beliebteste Lehre, sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Ansonsten unterscheiden sich dieTop 5 der Männer und der Frauen in diesem Jahr laut GFS aber. Noch immer favorisieren Männer eher technische Berufe, bei Frauen sind Lehren in der Betreuung und in der Krankenpflege beliebt. Die Auswertung der Zahlen zeigt aber, dass sich diese Stereotype aufweichen, besonders in den wachsenden Branchen. 2018 begannen mehr als doppelt so viele Fachmänner Betreuung und Gesundheit ihre Lehre als noch 2010.Und auch 40 Prozent mehr Informatikerinnen. «Der Dienstleistungssektor und insbesondere die Medizinbranche und der soziale Bereich werden vermutlich weiterwachsen», sagt Bildungsforscherin Irene Kriesi. Und alles, was mit Technologie zu tun habe. Als Zukunftsberuf nennt sie den Schwerpunkt «Onlinehandel», den Detailhandelsfachmänner ab 2022 wählen können.

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