Um acht Uhr morgens sind im Berner Länggassquartier die ersten
Studentinnen- und Schülertrauben unterwegs. Im Grossraumbüro der Educa
allerdings ist noch nicht viel los. Doch der junge Mann am Empfang, der den
Besucher freundlich begrüsst und zum Warten in die schicke Sofaecke bittet,
trägt bereits ein Headset (zum Telefonieren). Der Tag kann kommen. Educa ist die Schweizer
Fachagentur für Bildung und Kultur. Im Auftrag von Bund und
Kantonen kümmern sich knapp dreissig Angestellte um die Digitalisierung des
Bildungssystems. In den vergangenen Jahren haben sie dies vor Ort in den
Schulen getan, seit neuestem beraten sie die Verwaltung. Educa handelt Verträge
mit privaten Anbietern aus, zum Beispiel mit Microsoft, und verfasst Berichte
zur «Datennutzungspolitik». Konkret: Die digitale Disruption soll in das neue
Ökosystem hybrider Netzwerke überführt werden, in dem die Grenzen zwischen
formaler, nonformaler und informeller Bildung schwinden und die Schülerinnen und
Schüler individuelle Kompetenzen für die achtsame Nutzung von Daten entwickeln
müssen.
Wie Behörden sich die digitalisierte Schule vorstellen - und was davon an der Basis ankommt, NZZ, 28.11. von Urs Hafner
Oder so ähnlich.
Die Schulen sollen raus aus den Silos
Wenn Toni Ritz, der Chef von Educa, in Fahrt kommt, dann raucht schon
bald des Zuhörers Kopf. Im geräumigen Büro im ersten Stock dämmert ihm, dass
Digitalisierung etwas viel Fundamentaleres ist, als er geglaubt hat.
«Schulklassen mit Tablets auszustatten, reicht nicht», sagt Ritz.
«Die Schulen müssen ein Verständnis dafür entwickeln, dass sie keine
Silos, sondern selbst und über ihre Schüler mit der Umwelt vernetzt sind. Sie
dürfen die digitale Lebenswelt der Kinder nicht ignorieren.» Es gehe darum, fit
für die Veränderungen der digitalen Zukunft zu sein.
Ritz ist davon überzeugt, dass die Digitalisierung die Menschen – ob sie
das wollen oder nicht – in eine datengesteuerte Zukunft führt, die nicht mehr
viel gemein haben wird mit der Gegenwart. «Zwei Drittel der Berufe, die unsere
Kinder ausüben werden, existieren noch gar nicht.» Wir steckten schon
mittendrin im grenzenlosen «Datenökosystem», aber es sei noch nicht einmal
geklärt, was mit den im Unterricht generierten Daten einer Schülerin passiere,
wenn sie den Wohnort und die Schule wechsle.
Wenn wir uns nicht auf die Zukunft vorbereiteten, sagt Toni Ritz,
lieferten wir uns der Technik und den Privatunternehmen aus, die aus unseren
Daten Profit machten – bereits in der Schule, wo Lernplattformen permanent
Daten produzierten, die für den Unterricht eigentlich nützlich wären. «Der
digitale Bildungsraum ist ein abstrakter Datenraum. Wenn wir ihn gestalten
wollen, müssen wir ihn verstehen.»
Und der Arbeitsmarkt?
Doch halt: Fordert Educa nicht die Anpassung des Bildungssystems an die
Anforderungen der Wirtschaft? «Das ist kein Gegensatz. Es braucht die richtige
Balance zwischen der anzustrebenden Mündigkeit der Schüler, dem ersten Ziel der
Schule, und den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts», entgegnet Ritz. «Heute rufen
wir nach Informatikern für die Digitalisierung der Wertschöpfungsketten, aber
schon bald werden wir nach Philosophen rufen, weil die Technologien
Möglichkeiten schaffen, die uns überfordern.»
Szenenwechsel. Regine Schüpbach ruft erst einmal nach der Kellnerin und
bestellt einen heissen Tee. Sie ist durchfroren, weil sie mit ihren
Schülerinnen und Schülern den Morgen auf dem Hof eines Seeländer Gemüsebauern
verbracht hat. «Das muss auch sein: Manche Kinder wissen nicht, was eine Aubergine
ist», sagt Schüpbach. Aber der Hof sei durchdigitalisiert.
Die Primarlehrerin unterrichtet Unterstufe in einem «multikulturellen
Quartier» in Biel, wie sie sagt, in dem sowohl Mittelstandsfamilien als auch
Migranten mit kleinem Budget leben. «Die Digitalisierung hat meinen Beruf
verändert – und verbessert.» Die Schülerinnen und Schüler arbeiteten nun «auf
den Applikationen» selbständig am Stoff weiter, während ihr mehr Zeit dafür
bleibe, sich ihnen individuell zu widmen. «Sie müssen mehr Eigenverantwortung
übernehmen als früher.»
Regine Schüpbach gefällt das Bild der Lehrerin als Coach, das das Bild
des allwissenden Dozenten abgelöst habe. Für ihre Recherchen arbeiteten die
Kinder gerne im Internet, besonders auf den Websites für Kinder und
Jugendliche.
Die Digitalisierung bereitet aber auch Probleme. So benutzten Schüler
mit Vorliebe jene Lernapps, auf denen sie das Punktemaximum erreichten und
Erfolg hätten. «Die Guten lassen sich beklatschen, aber lernen nicht, vernetzt
zu denken.»
Für manche Kinder hätten das Papier und der Bleistift keinen Wert mehr:
«Sie wollen partout nicht von Hand schreiben.» Aber genau dies sei wichtig für
die Entwicklung des Gehirns, das habe die Forschung mehrfach
nachgewiesen. Was tut sie in solchen Fällen? «Ganz einfach, ich ordne es
an.»
Wenn das Log-in streikt
Zu viel am Bildschirm aber ist nicht Regine Schüpbachs grösstes Problem.
Gerade gutgebildete und ökologisch sensibilisierte Eltern stünden einer
digitalisierten Schule skeptisch gegenüber. Sie wollten ihre Kinder vor
schädlichen Einflüssen der neuen Medien schützen, sagt die Lehrerin.
Bedauerlich findet sie, dass ihre Schule das Internet zum Teil gesperrt
habe. So sei der Zugang zu Youtube nicht möglich, dabei lernten viele Schüler
mit Kurzfilmen eigenständig und schnell. «Dieses Medium ist dem mündlichen
Erklären vielfach überlegen.» Und manchmal stehen sie und ihre Kollegen vor
ganz praktischen Problemen: «Wenn die Lehrerin für eine Klasse vier Tablets
oder Laptops zur Verfügung hat, aber das Log-in nicht funktioniert, dann hat
sie schnell Unordnung im Schulzimmer», sagt Schüpbach. Dann muss sie den
Techniker rufen, der aber nicht sogleich zur Stelle ist.
Oder sie greift zur Kreide und stellt ihren Unterricht auf die Wandtafel
um. Die Digitalisierung ist da, und sie geht weiter, auch in der Bildung. Wird
sie die Welt auf den Kopf stellen? Bisher hat die Schule noch jedes neue Medium
bändigen können, nach der ersten Aufregung.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen