28. November 2019

Kein Mangel an Visionen im digitalen Elfenbeinturm


Um acht Uhr morgens sind im Berner Länggassquartier die ersten Studentinnen- und Schülertrauben unterwegs. Im Grossraumbüro der Educa allerdings ist noch nicht viel los. Doch der junge Mann am Empfang, der den Besucher freundlich begrüsst und zum Warten in die schicke Sofaecke bittet, trägt bereits ein Headset (zum Telefonieren). Der Tag kann kommen. Educa ist die Schweizer Fachagentur für Bildung und Kultur. Im Auftrag von Bund und Kantonen kümmern sich knapp dreissig Angestellte um die Digitalisierung des Bildungssystems. In den vergangenen Jahren haben sie dies vor Ort in den Schulen getan, seit neuestem beraten sie die Verwaltung. Educa handelt Verträge mit privaten Anbietern aus, zum Beispiel mit Microsoft, und verfasst Berichte zur «Datennutzungspolitik». Konkret: Die digitale Disruption soll in das neue Ökosystem hybrider Netzwerke überführt werden, in dem die Grenzen zwischen formaler, nonformaler und informeller Bildung schwinden und die Schülerinnen und Schüler individuelle Kompetenzen für die achtsame Nutzung von Daten entwickeln müssen.
Wie Behörden sich die digitalisierte Schule vorstellen - und was davon an der Basis ankommt, NZZ, 28.11. von Urs Hafner


Oder so ähnlich.

Die Schulen sollen raus aus den Silos
Wenn Toni Ritz, der Chef von Educa, in Fahrt kommt, dann raucht schon bald des Zuhörers Kopf. Im geräumigen Büro im ersten Stock dämmert ihm, dass Digitalisierung etwas viel Fundamentaleres ist, als er geglaubt hat. «Schulklassen mit Tablets auszustatten, reicht nicht», sagt Ritz.

«Die Schulen müssen ein Verständnis dafür entwickeln, dass sie keine Silos, sondern selbst und über ihre Schüler mit der Umwelt vernetzt sind. Sie dürfen die digitale Lebenswelt der Kinder nicht ignorieren.» Es gehe darum, fit für die Veränderungen der digitalen Zukunft zu sein.

Ritz ist davon überzeugt, dass die Digitalisierung die Menschen – ob sie das wollen oder nicht – in eine datengesteuerte Zukunft führt, die nicht mehr viel gemein haben wird mit der Gegenwart. «Zwei Drittel der Berufe, die unsere Kinder ausüben werden, existieren noch gar nicht.» Wir steckten schon mittendrin im grenzenlosen «Datenökosystem», aber es sei noch nicht einmal geklärt, was mit den im Unterricht generierten Daten einer Schülerin passiere, wenn sie den Wohnort und die Schule wechsle.

Wenn wir uns nicht auf die Zukunft vorbereiteten, sagt Toni Ritz, lieferten wir uns der Technik und den Privatunternehmen aus, die aus unseren Daten Profit machten – bereits in der Schule, wo Lernplattformen permanent Daten produzierten, die für den Unterricht eigentlich nützlich wären. «Der digitale Bildungsraum ist ein abstrakter Datenraum. Wenn wir ihn gestalten wollen, müssen wir ihn verstehen.»

Und der Arbeitsmarkt?
Doch halt: Fordert Educa nicht die Anpassung des Bildungssystems an die Anforderungen der Wirtschaft? «Das ist kein Gegensatz. Es braucht die richtige Balance zwischen der anzustrebenden Mündigkeit der Schüler, dem ersten Ziel der Schule, und den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts», entgegnet Ritz. «Heute rufen wir nach Informatikern für die Digitalisierung der Wertschöpfungsketten, aber schon bald werden wir nach Philosophen rufen, weil die Technologien Möglichkeiten schaffen, die uns überfordern.»

Szenenwechsel. Regine Schüpbach ruft erst einmal nach der Kellnerin und bestellt einen heissen Tee. Sie ist durchfroren, weil sie mit ihren Schülerinnen und Schülern den Morgen auf dem Hof eines Seeländer Gemüsebauern verbracht hat. «Das muss auch sein: Manche Kinder wissen nicht, was eine ­Aubergine ist», sagt Schüpbach. Aber der Hof sei durchdigitalisiert.

Die Primarlehrerin unterrichtet Unterstufe in einem «multikulturellen Quartier» in Biel, wie sie sagt, in dem sowohl Mittelstandsfamilien als auch Migranten mit kleinem Budget leben. «Die Digitalisierung hat meinen Beruf verändert – und verbessert.» Die Schülerinnen und Schüler arbeiteten nun «auf den Applikationen» selbständig am Stoff weiter, während ihr mehr Zeit dafür bleibe, sich ihnen individuell zu widmen. «Sie müssen mehr Eigenverantwortung übernehmen als früher.»

Regine Schüpbach gefällt das Bild der Lehrerin als Coach, das das Bild des allwissenden Dozenten abgelöst habe. Für ihre Recherchen arbeiteten die Kinder gerne im Internet, besonders auf den Websites für Kinder und Jugendliche.

Die Digitalisierung bereitet aber auch Probleme. So benutzten Schüler mit Vorliebe jene Lernapps, auf denen sie das Punktemaximum erreichten und Erfolg hätten. «Die Guten lassen sich beklatschen, aber lernen nicht, vernetzt zu denken.»

Für manche Kinder hätten das Papier und der Bleistift keinen Wert mehr: «Sie wollen partout nicht von Hand schreiben.» Aber genau dies sei wichtig für die Entwicklung des Gehirns, das habe die Forschung mehrfach nachgewiesen. Was tut sie in solchen Fällen? «Ganz einfach, ich ordne es an.»

Wenn das Log-in streikt
Zu viel am Bildschirm aber ist nicht Regine Schüpbachs grösstes Problem. Gerade gutgebildete und ökologisch sensibilisierte Eltern stünden einer digitalisierten Schule skeptisch gegenüber. Sie wollten ihre Kinder vor schädlichen Einflüssen der neuen Medien schützen, sagt die Lehrerin.

Bedauerlich findet sie, dass ihre Schule das Internet zum Teil gesperrt habe. So sei der Zugang zu Youtube nicht möglich, dabei lernten viele Schüler mit Kurzfilmen eigenständig und schnell. «Dieses Medium ist dem mündlichen Erklären vielfach überlegen.» Und manchmal stehen sie und ihre Kollegen vor ganz praktischen Problemen: «Wenn die Lehrerin für eine Klasse vier Tablets oder Laptops zur Verfügung hat, aber das Log-in nicht funktioniert, dann hat sie schnell Unordnung im Schulzimmer», sagt Schüpbach. Dann muss sie den Techniker rufen, der aber nicht sogleich zur Stelle ist.

Oder sie greift zur Kreide und stellt ihren Unterricht auf die Wandtafel um. Die Digitalisierung ist da, und sie geht weiter, auch in der Bildung. Wird sie die Welt auf den Kopf stellen? Bisher hat die Schule noch jedes neue Medium bändigen können, nach der ersten Aufregung.

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