Die Kita Nano in Baar
informiert die Eltern neu via App beinahe in Echtzeit, was ihre Schützlinge
gerade machen. Der
renommierte Kinderpsychologe Allan Guggenbühl äussert im Interview seine
Bedenken zur Digitalisierung in Kindertagesstätten und Schulen.
Guggenbühl: Ständige Protokollierung verletzt die Privatsphäre des Kindes. Bild: Allan Guggenbühl
"Problematische Entwicklung": Kinderpsychologe Allan Guggenbühl über Digitalisierung im Vorschulalter, Luzerner Zeitung, 28.11. von Stefanie Geske
Herr
Guggenbühl, was halten Sie vom heutigen Trend, dass in Schulen und
Kindertagesstätten immer mehr genau protokolliert wird, was dort passiert – sei
es via App oder E-Mail?
Allan Guggenbühl: Das ist problematisch. Die Institutionen geben diese
Informationen/Protokolle oftmals ungefiltert an die Eltern weiter.
Können
Sie ein Beispiel geben?
Wenn zum Beispiel in der Schule protokolliert wird, dass das
Kind einen Radiergummi ihrer Banknachbarin gestohlen und nicht zurückgegeben
hat. Was soll ich mit dieser Info als Elternteil? Es ist eine unsinnige
Entwicklung, wenn alles sofort an die Eltern weitergeleitet wird.
Warum?
Kinder haben auch ein Recht auf Privatsphäre – das heisst, Recht
auf einen privaten und persönlichen Bereich ausserhalb des Elternhauses. Ein
Raum, wo sie sich entwickeln können, ohne kontrolliert zu werden. Die ständige
Protokollierung, sei es durch eine App oder Protokolle der Schule, sind eine
Verletzung der kindlichen Privatsphäre. Eltern müssen nicht alles wissen. Die
Kita/Schule ist ein eigener Lebensbereich. Das sollte akzeptiert werden.
Stellen Sie sich mal vor, die Ehefrau oder der Ehemann wissen zu jeder Zeit,
was ihr Partner gerade wo tut. Das wäre Unsinn und bringt niemandem etwas!
Wie
stehen Sie zu dieser Entwicklung?
Es handelt sich um eine Missachtung der kindlichen Privatsphäre
– aus einem Kontrollbedürfnis heraus. Heute werden dazu Apps der Schule
angeboten. Was ist der Zweck dieses digitalen Informations-Tsunamis? Viele
Eltern teilen mir in meinen Seminaren mit, dass sie das Meiste gar nicht wissen
wollen. Andere sind verunsichert und fragen, was ist nun mein Auftrag? Will die
Lehrperson, dass ich mit meinem Sohn schimpfe? Sie erleben jedoch als
ohnmächtig. – Es ist ja nicht ihre Aufgabe, sich in den schulischen Betrieb
einzumischen. Sie sind überfordert ob der vielen Infos. Sollen sie nun schuld
daran sein, dass die Tochter der Banknachbarin den Radiergummi geklaut hat?
Und was ist mit Ernstfällen und Krisensituationen?
In einem solchen Fall ist es natürlich wichtig, dass die Eltern
informiert werden. Etwa bei Mobbing oder Übergriffen. Die Schule muss die Infos
weitergeben, das mitteilen, was wichtig ist. In den meisten Fällen hat die
Schule den Konflikt ohne Bezug und dem Informieren der Eltern zu lösen.
Wird
Digitalisierung im Vorschulalter aus Ihrer Sicht ein wenig überschätzt?
Durch die Digitalisierung sind dem Umfang der Informationen keine
Grenzen gesetzt. Wichtig ist darum, dass die Erzieher/Lehrer die Informationen
selektionieren und nicht alles 1:1 an die Eltern weitergeben. Digitalisierung
ist ein wichtiges Werkzeug, sie verändert jedoch die Schule nicht
grundsätzlich. Sie ersetzt den Dialog zwischen Lehrperson und Schülern nicht.
Die Schule ist nicht befreit von der Aufgabe, nur das weiterzugeben, was
wichtig ist. Das betrifft die Kommunikation mit den Eltern, wie auch die
Lernprozesse.
Wie
meinen Sie das genau?
Kinder wollen nicht alles teilen und erzählen Zuhause daher auch
nicht alles. Aber eine App oder das Protokollieren aller Aktivitäten hat zur
Folge, dass Kinder nicht mehr entscheiden können, was sie den Eltern mitteilen
wollen. Die Digitalisierung schränkt die Kinder ein. Sie können nicht mehr so
von der Schule berichten, wie sie wollen, ihre Geschichte erzählen, weil die
Eltern eventuell schon alles wissen oder auf Kleinigkeiten herumreiten.
Und was
ist mit den Eltern?
Eltern wollen gar nicht alles wissen! Sie haben durch die viele Protokollierung
oftmals das Gefühl, sie müssten intervenieren und das Kind auf den richtigen
Weg bringen. Aber die Eltern haben auf das Verhalten der Kinder in der Schule
keinen grossen Einfluss. Die Überprotokollierung führt auch dazu, dass relevante
Sachen wie etwa Mobbing, Übergriffe nicht mehr mitgeteilt werden.
Ist es
eine Zeiterscheinung, dass Eltern ihre Kinder so wenig wie möglich alleine
lassen und sie ständig behüten wollen?
Auf jeden Fall! Durch Apps und überflüssige Protokolle wird
diese Entwicklung nur verstärkt. Sie machen Kitas und Schulen zu sehr
lernfreien Institutionen. Die Qualität der Erziehung und Entwicklung leidet
darunter. Viele Eltern haben das Gefühl, sie müssten die Entwicklung ihres
Kindes so gut es geht optimieren oder sie würden nicht genug tun. Eltern laufen
zum Teil in der Trennungszeit, wenn das Kind in Kita oder Schule ist, mit
Schuldgefühlen herum. Die Kontrolle durch Apps kompensiert dieses Schuldgefühl.
Was
raten Sie Eltern, die mit solchen Kontroll-Mechanismen in Schule und Kita
konfrontiert sind?
Habt den Mut zu sagen, was man denkt. Wenn man mit der
Informationsflut überfordert ist und mit den Infos nichts anfangen kann, soll
es die Schule wissen. Gleichzeitig ist es wichtig, dass klar ist, wann die
Schule die Eltern informiert und was sie dann von den Eltern erwartet.
Allan Guggenbühl ist renommierter Kinder- und Jugendpsychologe aus Zürich.
Sein neustes Werk «Für mein Kind nur das Beste –Wie wir unseren Kindern die
Kindheit rauben» ist im Oktober 2018 erschienen.
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