Vier, drei, zwei, eins ...», zählt Ramon*, dann legen er und Adina* los.
«Es war einmal ein Kind. Das ist eines Tages in den Wald gegangen ... » fangen
die beiden 5. Klässler gemeinsam laut zu lesen an; zu zweit aus einem
Ordner, der vor ihnen auf dem Pult liegt. Ramon ist der «Sportler» und gibt das
Tempo vor, Adina ist der «Trainer» und fährt mit dem Finger mit. Wenn Ramon ein
Wort falsch ausspricht, lässt Adina es ihn wiederholen, notfalls korrigiert sie
ihn. Die anderen 20 Kinder im Raum machen es genauso. Immer zu zweit lesen sie
laut einen Text. Das ganze Klassenzimmer ist ein Gewirr aus Stimmen.
Warum schwachen Schülern nur mehr Tempo hilft, Beobachter, 6.2. von Raphael Brunner
An der Primarschule Ahorn in Zürich Schwamendingen wird drei Mal pro
Woche 20 Minuten so Lesen geübt. Jedes Jahr über drei Monate, von der zweiten
bis in die sechste Klasse. Schulleiterin Gabriella Zürcher sagt: «Ich bin
überzeugt: Würde man das in allen Schulen so machen, gäbe es
signifikant weniger Kinder, die schwach im Lesen sind.»
Noch nie so viele schwache Leser
Es ist ein ungewohnt selbstbewusster und optimistischer Satz für eine
Pädagogin in diesen Tagen. Denn in Sachen Lesen befindet sich das Schweizer
Bildungswesen in einer Sinnkrise: Ein Viertel aller 15-Jährigen versteht selbst
einfache Texte nicht, zeigt die jüngste Pisa-Studie. Das sind so viele wie nie
zuvor. 2000, bei der ersten Erhebung, betrug ihr Anteil noch einen Fünftel –
und auch das ist schon zu viel. Diese Jugendlichen können einer Packungsbeilage
häufig nicht entnehmen, ob sie die Kopfwehtablette einnehmen dürfen, und wenn sie einen Handy-Vertrag
abschliessen, müssen sie ganz auf die Versprechen des Verkäufers vertrauen. Das
nach neun Jahren Schule.
Die meisten Bildungsexperten scheinen mit ihrem Deutsch am Ende. Die
Reaktionen auf Pisa wirken ratlos und altbekannt. Wir sollen mehr Bücher
lesen und weniger Netflix schauen, mahnen Zeitungsartikel. Es brauche weniger
Fremdsprachenunterricht und kleinere Klassen, kritisieren Lehrer und Eltern.
Reformkritiker fordern eine Abkehr vom integrativen Schulmodell
und die Rückkehr zu Sonderklassen für Schwächere.
Vor allem aber sei Frühförderung wichtig, betonen Politikerinnen und Pädagogen, denn: «Der
Einfluss der Schule beim Lesen ist relativ gering. Die Familie, die Kita, die
täglichen sozialen Kontakte prägen die Entwicklung sprachlicher Kompetenz viel
stärker», so der Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich. Damit unsere
Kinder besser lesen lernen, müsste sich also ganz viel ändern und zwar
grundlegend.
Zu langsam, um zu verstehen
Bei der Schule Ahorn ist man anderer Meinung – und bekommt Unterstützung
aus der Wissenschaft. «Die Schule kann mehr beitragen, als viele meinen. Lesen
lernen ist komplex, wir sollten aber das Naheliegende und Machbare nicht aus
den Augen verlieren», sagt Afra Sturm, Leiterin des Zentrums Lesen an der Pädagogischen
Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW.
Sie verweist auf eine Erkenntnis, die in der Debatte um Pisa eher wenig
thematisiert worden ist. So haben die schwachen Leser bereits mit der Lesetechnik
Mühe, also mit dem Lesen selbst. Pisa hat erstmals auch erhoben, wie sicher und
fliessend jemand lesen kann. Noch sind die Ergebnisse nicht veröffentlicht,
dennoch wagt Sturm die Prognose: Die Nichtversteher haben auch dort schlecht
abgeschnitten. Oder besser umgekehrt. «Wer Mühe hat mit dem Entziffern, wer
sich oft verliest, kann sich nicht auf den Sinn des Geschriebenen
konzentrieren.»
Zur Illustration legt sie einen Text vor, der mit
spiegelverkehrten Buchstaben und von rechts nach links geschrieben ist. Als geübter
Leser bringt man die einzelnen Wörter zwar mit Müh und Not zusammen, was man
gelesen hat, weiss man aber nicht. «Man kann sich nicht mehr an den Anfang des
Satzes erinnern, weil das Lesen zu lange gedauert hat», sagt Sturm. Dem
Grossteil der gemäss Pisa schwachen Leser geht es auch bei normalen Texten so.
100 Wörter pro Minute – mit
Hilfe der Tandem-Methode
Hier setzt das Lesetraining der Schule Ahorn an. «Vier, drei, zwei, eins
...», zählt Ramon, dann lesen er und Adina den gleichen Text zum zweiten Mal.
Beim sogenannten Tandem-Lesen geht es nicht um den Inhalt, sondern nur um Tempo
und Lesefluss. Die schnelleren Kinder übernehmen die Rolle des «Trainers», die
langsameren sind die «Sportler». Jeder Text wird viermal gelesen, dann geht es
weiter zum nächsten. Ziel ist: Jeder Schüler und jede Schülerin soll Ende der
4. Klasse fähig sein, mindestens 100 Wörter pro Minute laut zu lesen. Erst ab
dieser Geschwindigkeit kann das Gehirn den ganzen Inhalt eines längeren Satzes
erfassen, haben Studien gezeigt.
Entwickelt und erforscht hat die Tandem-Methode ein Team um die deutsche
Leseforscherin Cornelia Rosenbrock im Jahr 2006. Indem die Schüler den
gleichen, kurzen Text mehrmals lesen, prägen sich die Wörter in den sogenannten
Sichtwortschatz ein. Das sind jene Wörter, die man auf den ersten Blick
erkennt, ohne sie wirklich lesen zu müssen. Je mehr es sind, desto besser. Das
Prinzip ist dasselbe wie beim lauten Lesen im Chor, das bis in die 70er Jahre
weit verbreitet war, im Gegensatz zum Tandem-Lesen aber kaum auf das einzelne
Kind eingeht. Mit der richtigen Betonung entwickeln die Schüler zudem ein
Gefühl für den Satzaufbau – die Grundlage, um den Inhalt eines Satzes zu
verstehen.
Auch die Guten werden besser
«Die Schülerinnen und Schüler machen enorme Fortschritte», sagt
Schulleiterin Zürcher. Fortschritte, die die Kinder selber an Zahlen festmachen
können. Vor und nach einer dreimonatigen Trainingseinheit prüft die Lehrerin
alle einzeln. Manche schaffen beim zweiten Test bis zu 60 Wörter pro Minute
mehr. Und nicht nur die Sportler verbessern sich, sondern auch die Trainer.
«Alle Schülerinnen und Schüler profitieren», sagt Zürcher.
Die Besten lesen Ende der sechsten Klasse mehr als 150 Wörter pro Minute. Gut die Hälfte schafft 130 bis 140, so viel wie eine durchschnittliche erwachsene Leserin. Das Ziel von 100 Wörtern erreichen alle. Ausgenommen sind nur jene wenigen Kinder, die eine Leseerwerbschwäche haben.
Für die Schule Ahorn ist das ein grosser Erfolg. Ein Grossteil der
Schülerinnen und Schüler stammt aus eher bildungsfernen Familien, viele haben einen Migrationshintergrund. Solche Kinder
gehören deutlich öfters zur Gruppe der schwachen Pisa-Leser als ihre
privilegierten Mitschüler. «Beim Dekodieren einzelner Buchstaben haben sie noch
kaum Probleme. Wenn es aber darum geht, die Lesetechnik im Alltag zu üben,
haben sie Nachteile, da schriftliche Texte und Geschichten zuhause kaum
vorkommen», sagt Schulleiterin Zürcher. Mit dem Tandem-Lesen springt die Schule
ein.
Lautlesetraining noch zu wenig
bekannt
«Vier, drei, zwei, eins ...» Noch lehren wenige Schulen in der Schweiz
derart systematisch fliessend zu lesen. «Viele Lehrerinnen und Lehrer kennen
insbesondere die theoretischen Grundlagen des Lautlesetrainings noch gar
nicht», sagt Sabine Kutzelmann, Dozentin für Deutschdidaktik an der
Pädagogischen Hochschule Zürich. Mittlerweile sei das Tandem-Lesen zwar fester
Bestandteil der Ausbildung. Damit es aber in den Schulen umgesetzt wird,
müssten Berufseinsteiger und erfahrene Lehrpersonen zusammenarbeiten.
Beim Lautlesetraining sollte möglichst die ganze Schule mitmachen und es
sollte in allen Klassen gleich ablaufen. «Nötig wären darum regelmässige
flächendeckende Weiterbildungen für alle Lehrpersonen.» Ob und wie schnell
wissenschaftliche Erkenntnisse auch in die Weiterbildung von Lehrpersonen
einfliessen, hänge vom bildungspolitischen Willen der Kantone und der
Volksschulämter ab.
Nicht beliebt, aber effektiv
«Am Anfang ist der Aufwand für das Tandem-Training ziemlich hoch, einmal etabliert
aber nicht mehr», sagt Ahorn-Schulleiterin Zürcher. Manchmal müsse man auch
Vorurteile abbauen. So empfänden manche Lehrerinnen das strukturierte Üben als
Drill und Paukerei, weit weg von Konzepten, die auf Eigenmotivation der Schüler
aufbauen und ihnen Freiheiten geben.
«Lautlesetraining ist nur Teil einer umfassenden Leseförderung in der
Schule», sagt Afra Sturm von der FHNW. Oft werde es aber vernachlässigt. Die
meisten Schulen hätten in den vergangenen Jahren viel gemacht, um die Freude am
Lesen zu steigern. Und die Lehrmittel seien voll mit Lesestrategien, Tipps und
Tricks, wie man Texte besser erschliessen kann. Beides sei gut und wichtig.
«Was aber nützt die beste Strategie oder das tollste Buch aus der Bibliothek,
wenn das Lesen selbst so mühsam ist?»
Das Tandem-Lesen ist bei den Kindern mässig beliebt, zeigt eine Umfrage,
die Schulleiterin Zürcher einst für ihre Masterarbeit durchgeführt hat. Weniger
als einem Drittel von 193 befragten Kindern macht das Training Spass. Vier
Fünftel aber geben an, ihre Leseflüssigkeit habe sich verbessert. Und zwei
Drittel sagen, sie verstehen jetzt besser, was sie lesen. Über die Hälfte hat
seit dem Training sogar insgesamt mehr Freude am Lesen. Sportler Ramon
jedenfalls zögert nicht und zählt zum vierten Mal an: «Vier, drei, zwei, eins
...» und weiter geht's noch mal von vorne.
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