4. Februar 2020

Largo: Verplante Kinder


Sie beobachten schon seit Jahrzehnten Kinder. Wie sehen Sie die heutigen?
Viele tun mir leid.
"Viele Eltern geraten in Förderwut", Basler Zeitung, 3.2. von Susanne Kübler

Warum?
Weil sie in Strukturen aufwachsen, die ihnen nicht guttun – sozial, architektonisch, gesellschaftlich. Hätten sie eine Umgebung, die ihren Bedürfnissen entspricht, würden sich viele Probleme von selbst erledigen.

Beginnen wir beim Sozialen: Was läuft dort falsch?
Kinder wissen sehr genau, wann sie welche Erfahrungen machen wollen. Wenn das nicht so wäre, wäre die Menschheit längst ausgestorben. Aber man traut ihnen heute nicht mehr zu, dass sie sich selber entwickeln wollen. Darum geraten viele Eltern und Lehrer in eine eigentliche Förderwut – statt dass sie eine selbstbestimmte Entwicklung zulassen.

Wir lenken zu viel?
Genau, das ist ein gutes Wort. Wir müssen uns doch fragen, wie wir uns unsere Kinder als Erwachsene wünschen würden. Da sind sich alle einig, dass sie gewisse Fähigkeiten und Fertigkeiten haben sollten, dass sie sich Wissen aneignen sollten. Aber genauso wichtig ist es, dass sie ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln, eine gute Selbstwirksamkeit. Also dass sie sich mögen, so wie sie sind; dass sie daran glauben, ihr Leben zu meistern und in dieser Gesellschaft bestehen zu können. Wer ständig fremdbestimmt gefördert wird, kommt nie zu diesem Gefühl.

Was hiesse denn Selbstbestimmung konkret?
Ein Beispiel: Ich gehe oft schwimmen, da sehe ich sehr unterschiedliche Dinge. Da kommt etwa ein Vater mit zwei Mädchen ins Schwimmbad, der lässt sie machen. Die toben herum und eignen sich ganz vieles an dabei, motorisch, aber auch sozial. Später kommt eine Schulklasse für den Schwimmunterricht. Die Schüler sitzen brav aufgereiht auf einem Bänklein, der Lehrer doziert zehn Minuten lang, und dann machen sie ganz eng geführt irgend etwas im Wasser. Wer hat nun mehr gelernt? Die beiden Mädchen oder die Schüler?

Das Prinzip wäre also: loslassen.
So viel wie möglich, ja. Schauen Sie sich einen Dokfilm über Afrika an, achten Sie darauf, was die Kinder tun: Die spielen miteinander. Natürlich vermitteln ihnen die Erwachsenen gewisse Fertigkeiten, auch soziale Regeln. Aber kompetent werden sie, indem die Grösseren Verantwortung für die Kleineren übernehmen, indem die Kleineren die Grösseren nachahmen. Ein Kind lernt so, sich in andere einzufühlen und hineinzudenken, es lernt, konfliktfähig zu werden und sich anzupassen, weil die anderen sonst nicht mit ihm spielen wollen. All dies können wir den Kindern nicht beibringen, diese Erfahrungen müssen sie selber machen.

Und das können sie hier bei uns nicht mehr?
Viel zu wenig, aus verschiedenen Gründen. Bei uns sind Kleinfamilien der Normalfall– und die sind vor allem in den Städten nicht mehr in eine Gemeinschaft integriert. Die Schule ist darauf ausgerichtet, Fertigkeiten auszubilden, statt Erfahrungen zu ermöglichen. Sogar in der Freizeit haben Kinder und Jugendliche einen Auftrag zu erfüllen, eine Leistung zu bringen: im Sportverein, im Musikunterricht. Herumhängen ist verpönt, dabei wäre es wichtig.

Die Verschulung der Freizeit ist sicher ein Trend. Aber auch die Pfadi hat viel Zulauf.
Das ist tatsächlich einer der wenigen Freiräume, die es noch gibt. Ich war selber in der Pfadi, und wenn ich zurückdenke, was wir damals angestellt haben, wird mir noch im Nachhinein bange. Aber ich möchte diese Erfahrungen nicht missen.

Anderswo macht man die nicht mehr?
Denken Sie an die schulfreien Nachmittage: Es ist noch gar nicht solange her, da gingen die Kinder nach dem Mittagessen raus, spielten mit anderen und kamen zum Nachtessen zurück. Das ist vorbei.

Wie kommt es denn, dass Eltern, die so aufgewachsen sind, dies ihren Kindern nicht mehr ermöglichen?
Das hat sehr viel mit existenziellen Ängsten zu tun. Heute ist trotz grösstem Wohlstand untergründig immer die Angst da, dass man den Job verlieren könnte. Das gilt quer durch alle Schichten. Und es überträgt sich auf die Kinder: Die Eltern wollen sie möglichst gut vorbereiten auf das, was sie erwartet.

Ein verständlicher Wunsch.
Klar. Aber gut gemeint muss nicht auch richtig sein. So lernen die Kinder nur, zu reproduzieren, was ihnen eingetrichtert worden ist. Wirklich kompetent werden sie nur, wenn sie selbstbestimmt Erfahrungen machen.

Und wenn sie dann selbstbestimmt gamen?
Bösartige Frage zurück: Vielleicht gamen sie so gern, weil sie es selbstbestimmt tun können? Ernsthaft: Die Frage ist, haben sie Alternativen oder nicht? Wenn sie die Möglichkeit haben, mit anderen zu spielen, relativiert sich das Problem. Aber dafür müsste man umdenken. Also die Kinder nicht verplanen, sie nicht von zwei bis vier ins Ballett schicken, sondern Freiräume schaffen.

Das ist nun auch architektonisch gemeint?
Natürlich. Wir bauen so, dass man die Kinder selbst dann nicht einfach rauslassen kann, wenn man das möchte. Oder so, dass sie gar keine Lust haben, rauszugehen: Bei den Spielplätzen ist das Wichtigste, dass sie versicherungstechnisch ungefährlich sind. Kürzlich war ich auf einem mit zwei Enkeln: Nach zwanzig Minuten hatten sie alles durch.

Beobachten Sie auch irgendwo positive Entwicklungen?
Sie bringen mich in Verlegenheit… Sehe ich zu schwarz?
Ich sehe durchaus Kinder, die im Quartier herumrennen. Auch viele Eltern, die sich überambitionierten Freizeitprogrammen entziehen. Und ich sehe Lehrerinnen und Lehrer, die sich auf die Kinder einlassen, individuelle Programmezusammenstellen, Eigeninitiativen unterstützen. Das mag sein. Aber es sind immer kleine Ausschnitte des Ganzen. Man hat Glück mit einer Lehrerin, oder es gibt gerade eine gute Konstellation in der Nachbarschaft. Die Regel ist das nicht. Die sieht man zum Beispiel in der letzten Pisa­Studie: Da zeigt sich, dasseinSechstelder15­Jährigen die Lesekompetenz von Viert- oder Fünftklässlern hat, oder sogar ein Fünftel. Ähnlich viele haben Mühe mit dem Rechnen. Diese Kinder machen jeden Tag die Erfahrung: Ich bin ein Versager. Sie haben keine Chance, ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Wie kann man das ändern?
Eltern und Lehrer sollten akzeptieren, dass Kinder sehr unterschiedlich begabt sind. Jedes Kind will lernen, aber in seinem Entwicklungstempo und auf seine Weise. Es gibt alternative Schulen, in denen die Lehrer vor allem Ansprechpersonen sind, die Kinder bestimmen selbst, was und wie sie lernen wollen. Es ist erstaunlich, was da passiert.

Aber ist der normale Schulbetrieb wirklich nur beengend? Es passiert doch auch dort viel, gerade wenn die Kinder starke Beziehungen haben zu den Lehrpersonen.
Die Beziehung zwischen Lehrer und Kind ist tatsächlich der wichtigste Faktor für den Lernerfolg, das hat die grossangelegte Hattie­Studie ergeben. Darum ist es auch nicht gut, dass die Kinder in der Volksschule so viele verschiedene Fachlehrkräfte haben. Aber es stimmt, ich kenne auch dort nicht wenige Lehrer, die auf gute Weise tun, was sie für richtig halten, und sich foutieren um die normierten Lehrpläne. Allerdings müssen auch sie Noten geben und die Kinder irgendwie einordnen. Dabei weiss man, dass das nichts bringt.

Ausser dass es einen vorbereitet auf ein Leben, in dem man auch nach der Schule ständig beurteilt wird.
Das ist der Punkt. Es geht bei allen diesen Fragen nicht darum, da und dort zu schräubeln. Das ist unter den aktuellen Bedingungen tatsächlich schwierig. Wir müssen unsere Gesellschaft grundsätzlich verändern: hin zur Gemeinschaft.

Wenn man trotzdem im Kleinen anfangen möchte: Was wäre zu tun?
Wichtig wäre, dafür zu sorgen, dass die Kinder mehr mit anderen zusammensein können. Vielleicht reicht es, einen Brief im Quartier herumzuschicken, um gleichgesinnte Eltern zu finden. So aufwendig wäre das nicht.

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