Sie beobachten
schon seit Jahrzehnten Kinder. Wie sehen Sie die heutigen?
Viele tun
mir leid.
Warum?
Weil sie
in Strukturen aufwachsen, die ihnen nicht guttun – sozial, architektonisch,
gesellschaftlich. Hätten sie eine Umgebung, die ihren Bedürfnissen entspricht,
würden sich viele Probleme von selbst erledigen.
Beginnen
wir beim Sozialen: Was läuft dort falsch?
Kinder wissen
sehr genau, wann sie welche Erfahrungen machen wollen. Wenn das nicht so wäre,
wäre die Menschheit längst ausgestorben. Aber man traut ihnen heute nicht mehr zu,
dass sie sich selber entwickeln wollen. Darum geraten viele Eltern und Lehrer
in eine eigentliche Förderwut – statt dass sie eine selbstbestimmte Entwicklung
zulassen.
Wir lenken
zu viel?
Genau, das
ist ein gutes Wort. Wir müssen uns doch fragen, wie wir uns unsere Kinder als Erwachsene
wünschen würden. Da sind sich alle einig, dass sie gewisse Fähigkeiten und Fertigkeiten
haben sollten, dass sie sich Wissen aneignen sollten. Aber genauso wichtig ist
es, dass sie ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln, eine gute
Selbstwirksamkeit. Also dass sie sich mögen, so wie sie sind; dass sie daran glauben,
ihr Leben zu meistern und in dieser Gesellschaft bestehen zu können. Wer
ständig fremdbestimmt gefördert wird, kommt nie zu diesem Gefühl.
Was hiesse
denn Selbstbestimmung konkret?
Ein Beispiel:
Ich gehe oft schwimmen, da sehe ich sehr unterschiedliche Dinge. Da kommt etwa ein
Vater mit zwei Mädchen ins Schwimmbad, der lässt sie machen. Die toben herum
und eignen sich ganz vieles an dabei, motorisch, aber auch sozial. Später kommt
eine Schulklasse für den Schwimmunterricht. Die Schüler sitzen brav aufgereiht auf
einem Bänklein, der Lehrer doziert zehn Minuten lang, und dann machen sie ganz
eng geführt irgend etwas im Wasser. Wer hat nun mehr gelernt? Die beiden
Mädchen oder die Schüler?
Das Prinzip
wäre also: loslassen.
So viel wie
möglich, ja. Schauen Sie sich einen Dokfilm über Afrika an, achten Sie darauf,
was die Kinder tun: Die spielen miteinander. Natürlich vermitteln ihnen die Erwachsenen
gewisse Fertigkeiten, auch soziale Regeln. Aber kompetent werden sie, indem die
Grösseren Verantwortung für die Kleineren übernehmen, indem die Kleineren die
Grösseren nachahmen. Ein Kind lernt so, sich in andere einzufühlen und
hineinzudenken, es lernt, konfliktfähig zu werden und sich anzupassen, weil die
anderen sonst nicht mit ihm spielen wollen. All dies können wir den Kindern
nicht beibringen, diese Erfahrungen müssen sie selber machen.
Und das
können sie hier bei uns nicht mehr?
Viel zu wenig,
aus verschiedenen Gründen. Bei uns sind Kleinfamilien der Normalfall– und die sind
vor allem in den Städten nicht mehr in eine Gemeinschaft integriert. Die Schule
ist darauf ausgerichtet, Fertigkeiten auszubilden, statt Erfahrungen zu ermöglichen.
Sogar in der Freizeit haben Kinder und Jugendliche einen Auftrag zu erfüllen, eine
Leistung zu bringen: im Sportverein, im Musikunterricht. Herumhängen ist verpönt,
dabei wäre es wichtig.
Die Verschulung
der Freizeit ist sicher ein Trend. Aber auch die Pfadi hat viel Zulauf.
Das ist
tatsächlich einer der wenigen Freiräume, die es noch gibt. Ich war selber in
der Pfadi, und wenn ich zurückdenke, was wir damals angestellt haben, wird mir
noch im Nachhinein bange. Aber ich möchte diese Erfahrungen nicht missen.
Anderswo
macht man die nicht mehr?
Denken
Sie an die schulfreien Nachmittage: Es ist noch gar nicht solange her, da gingen
die Kinder nach dem Mittagessen raus, spielten mit anderen und kamen zum
Nachtessen zurück. Das ist vorbei.
Wie kommt
es denn, dass Eltern, die so aufgewachsen sind, dies ihren Kindern nicht mehr ermöglichen?
Das hat sehr
viel mit existenziellen Ängsten zu tun. Heute ist trotz grösstem Wohlstand untergründig
immer die Angst da, dass man den Job verlieren könnte. Das gilt quer durch alle
Schichten. Und es überträgt sich auf die Kinder: Die Eltern wollen sie möglichst
gut vorbereiten auf das, was sie erwartet.
Ein verständlicher
Wunsch.
Klar.
Aber gut gemeint muss nicht auch richtig sein. So lernen die Kinder nur, zu reproduzieren,
was ihnen eingetrichtert worden ist. Wirklich kompetent werden sie nur, wenn sie
selbstbestimmt Erfahrungen machen.
Und wenn
sie dann selbstbestimmt gamen?
Bösartige
Frage zurück: Vielleicht gamen sie so gern, weil sie es selbstbestimmt tun
können? Ernsthaft: Die Frage ist, haben sie Alternativen oder nicht? Wenn sie
die Möglichkeit haben, mit anderen zu spielen, relativiert sich das Problem. Aber
dafür müsste man umdenken. Also die Kinder nicht verplanen, sie nicht von zwei bis
vier ins Ballett schicken, sondern Freiräume schaffen.
Das ist
nun auch architektonisch gemeint?
Natürlich.
Wir bauen so, dass man die Kinder selbst dann nicht einfach rauslassen kann,
wenn man das möchte. Oder so, dass sie gar keine Lust haben, rauszugehen: Bei den
Spielplätzen ist das Wichtigste, dass sie versicherungstechnisch ungefährlich
sind. Kürzlich war ich auf einem mit zwei Enkeln: Nach zwanzig Minuten hatten
sie alles durch.
Beobachten
Sie auch irgendwo positive Entwicklungen?
Sie
bringen mich in Verlegenheit… Sehe ich zu schwarz?
Ich sehe durchaus
Kinder, die im Quartier herumrennen. Auch viele Eltern, die sich überambitionierten
Freizeitprogrammen entziehen. Und ich sehe Lehrerinnen und Lehrer, die sich auf
die Kinder einlassen, individuelle Programmezusammenstellen, Eigeninitiativen unterstützen.
Das mag sein. Aber es sind immer kleine Ausschnitte des Ganzen. Man hat Glück
mit einer Lehrerin, oder es gibt gerade eine gute Konstellation in der
Nachbarschaft. Die Regel ist das nicht. Die sieht man zum Beispiel in der
letzten PisaStudie: Da zeigt sich, dasseinSechstelder15Jährigen die
Lesekompetenz von Viert- oder Fünftklässlern hat, oder sogar ein Fünftel.
Ähnlich viele haben Mühe mit dem Rechnen. Diese Kinder machen jeden Tag die Erfahrung:
Ich bin ein Versager. Sie haben keine Chance, ein gutes Selbstwertgefühl zu
entwickeln.
Wie kann
man das ändern?
Eltern und
Lehrer sollten akzeptieren, dass Kinder sehr unterschiedlich begabt sind. Jedes
Kind will lernen, aber in seinem Entwicklungstempo und auf seine Weise. Es gibt
alternative Schulen, in denen die Lehrer vor allem Ansprechpersonen sind, die Kinder
bestimmen selbst, was und wie sie lernen wollen. Es ist erstaunlich, was da
passiert.
Aber ist
der normale Schulbetrieb wirklich nur beengend? Es passiert doch auch dort viel,
gerade wenn die Kinder starke Beziehungen haben zu den Lehrpersonen.
Die
Beziehung zwischen Lehrer und Kind ist tatsächlich der wichtigste Faktor für
den Lernerfolg, das hat die grossangelegte HattieStudie ergeben. Darum ist es
auch nicht gut, dass die Kinder in der Volksschule so viele verschiedene Fachlehrkräfte
haben. Aber es stimmt, ich kenne auch dort nicht wenige Lehrer, die auf gute
Weise tun, was sie für richtig halten, und sich foutieren um die normierten
Lehrpläne. Allerdings müssen auch sie Noten geben und die Kinder irgendwie
einordnen. Dabei weiss man, dass das nichts bringt.
Ausser
dass es einen vorbereitet auf ein Leben, in dem man auch nach der Schule ständig
beurteilt wird.
Das ist
der Punkt. Es geht bei allen diesen Fragen nicht darum, da und dort zu
schräubeln. Das ist unter den aktuellen Bedingungen tatsächlich schwierig. Wir müssen
unsere Gesellschaft grundsätzlich verändern: hin zur Gemeinschaft.
Wenn man
trotzdem im Kleinen anfangen möchte: Was wäre zu tun?
Wichtig
wäre, dafür zu sorgen, dass die Kinder mehr mit anderen zusammensein können. Vielleicht
reicht es, einen Brief im Quartier herumzuschicken, um gleichgesinnte Eltern zu
finden. So aufwendig wäre das nicht.
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