Die 10-Uhr-Pause ist zu Ende. Die Schüler der Waadtländer Primarlehrerin
Elsa Bourgeois stürmen zurück ins Klassenzimmer. Auf der digitalen Wandtafel
lodert ein virtuelles Cheminéefeuer. Am rechten Rand leuchtet eine Ampel. Das
orange Licht scheint auf. Orange bedeutet: Die Klasse soll ruhig sein.
Bourgeois: "Bücher sollten immer greifbar sein", Bild: Oliver Vogelsang
Plötzlich lieben die Kinder Bücher, Tages Anzeiger, 24.12. von Philippe Reichen
Doch die Ampel braucht es nicht. Die Acht- und Neunjährigen wissen, was
sie zu tun haben. Dasselbe wie an jedem Schultag nach der Morgenpause: Die
ganze Klasse liest. Die Schüler kramen unter ihren Pulten und schlagen ihre
Bücher auf. Rasch sind sie in die Texte vertieft. Für eine Viertelstunde ist es
ganz still im Schulzimmer. Gelegentlich ist ein leises Tuscheln zu hören, oder
es lacht jemand kurz auf, wenn jemand etwas Amüsantes gelesen hat und die
witzige Entdeckung mit dem Tischnachbarn teilt.
Die Bücher sind ganz unterschiedlich. Einige Schüler lesen Comics wie
«Titeuf» oder «Tim und Struppi», andere Kinderromane und Sachbücher. Ein Knabe
hält eine Art Tagebuch eines Computerspielhelden in den Händen, eine Schülerin
liest über die Abenteuer der magischen Lily in ihrer Muttersprache Englisch.
Auch Lehrerin Elsa Bourgeois liest. Sie amüsiert sich an den Weihnachtsstreichen
des «Petit Nicolas», ein Klassiker der französischen Kinderliteratur.
Immer schlechter
Glaubt man den Resultaten der Pisa-Studie, ist
es um das Leseverhalten und Textverständnis der Schweizer Schüler schlecht
bestellt. Gemäss den neusten Resultaten versteht jeder vierte 15-Jährige Texte
zu schlecht, um Herausforderungen des Alltags oder des künftigen Berufslebens
bewältigen zu können. Vor drei Jahren war es bezogen auf die Schweiz noch jeder
fünfte gewesen. Asiatische und osteuropäische Schüler ziehen derweil an der
Schweizer Jugend vorbei. Für ein Land wie die Schweiz, das sich gerne für sein
herausragendes Bildungssystem feiert, ist das eine Schmach.
Elsa Bourgeois kennt die Pisa-Studie natürlich. Die neuesten Resultate
geben ihr zu denken, kommentieren will sie sie aber nicht. Ist das tägliche,
rituelle Lesen in selbst gewählten Büchern in der Schule ein Ansatz, wie
Schweizer Schüler bei künftigen Pisa-Tests wieder besser abschneiden? Die
29-jährige Lehrerin will sich nicht festlegen.
Sie lässt ihre Klasse nicht wegen der Pisa-Studie lesen. Das tägliche
Lesen nach der Pause hat sie bei ihrer Ausbildnerin an der Pädagogischen
Hochschule für sich entdeckt, wissenschaftliche Studien wurden dabei keine
präsentiert. Sie betont aber: «Ich sehe Fortschritte. Zum Beispiel fragen meine
Schüler immer weniger nach der Bedeutung einzelner Wörter.»
Dass tägliches Lesen wirkt, beweisen frankofone Staaten wie Kanada,
Belgien und Frankreich. Sie haben ähnliche Programme wie Elsa Bourgeois in der
Waadtländer Landgemeinde Aubonne. Die Länder übertrafen die Schweiz in der
Pisa-Studie deutlich.
Bücher und Buchläden bezeichnet die 29-jährige Lehrerin als «meine
grosse Leidenschaft». Diese will sie mit ihren Schülern teilen. Ihrer Klasse
hat sie eine kleine Bibliothek eingerichtet. Die Bücher hat sie teils mit
eigenem Geld bezahlt. Elsa Bourgeois sagt: «Wenn wir die Schüler fürs Lesen
begeistern wollen, dann müssen Bücher immer greifbar sein, und es muss für
jedes Interesse etwas geben.»
Darauf zählen, dass die Kinder zu Hause mit Literatur in Berührung
kommen, kann sie nicht. Sie schildert das Beispiel einer Schülerin, der Bücher
absolut nichts bedeuteten. Dann fand sie ein Buch, das von Haaren und Frisuren
handelte. Das Interesse der Schülerin war geweckt. Seither liest auch das
Mädchen mit. Lehrerin Bourgeois freuts. Sie stellte keine Anforderungen an die
Art der Bücher, die ihre Schüler lesen. Dass sie lesen, ist für sie
entscheidend.
Der kleine Jawad zeigt stolz seine «Wo ist Werner?»-Bilderbücher. Texte
gibt es darin naturgemäss keine, aber für Jawad sind die «Werner»-Suchbücher
genau die richtige Art Lektüre. Seine Kollege Nathanaël wiederum erzählt
begeistert: «In meinem Buch fliegen Menschen zum Mond, und plötzlich explodiert
ihre Rakete.» Er habe es in der Bibliothek gefunden. Es sei extrem spannend.
Aimée fasziniert die Geschichte der Gangsta-Oma, die in London versucht, die
königlichen Kronjuwelen zu klauen.
Elsa Bourgeois sagt: «Mit ihren acht oder neun Jahren sind meine Schüler
in einer entscheidenden Phase. Sie haben mit grossem Aufwand gelernt, Wörter zu
entziffern und ganze Sätze zu begreifen. Nun müssen sie in ihrer Entwicklung
den nächsten Schritt tun und am Lesen langer Texte Freude finden.» Fänden die
Kinder in diesem Alter nicht zum Lesen, sei das später schwierig nachzuholen,
weiss die 29-Jährige. Lesen sie aber, fördert das die Vorstellungskraft, die
Freude am Entdecken, aber aber auch die Orthografie.
Was Elsa Bourgeois in Aubonne aus eigener Initiative tut, will die Waadtländer
Bildungsdirektorin Cesla Amarelle (SP) im ganzen Kanton systematisch fördern.
Im November hat Amarelle das Projekt «Le bruit des pages» (Das Geräusch der
Seiten) vorgestellt. «Jeder Schüler soll jeden Tag für einen kurzen Moment in
ein Buch eintauchen», heisst es im Konzept. Das sei einfach umzusetzen,
steigere die Qualität für den Rest des Schulunterrichts, vor allem aber würden
die Schüler auch ausserhalb der Schule zu lesen beginnen.
Technologien ersetzen das Lesen nicht
Cesla Amarelle las als Kind viel und gern und erinnert sich noch genau
an prägende Bücher wie das «Tagebuch der Anne Frank». Heute liest sie ihren
eigenen Kindern aus Michael Endes «Die unendliche Geschichte» vor, das sie
ebenfalls als Schülerin kennenlernte. Sie sagt, Bücher können in einer Klasse
Erlebnisse «einer gemeinsamen Geistesgemeinschaft» wecken.
Auch wenn die Schüler heute konsequent an die digitale Welt herangeführt
würden, die Sprachkompetenzen blieben einer technologisch geprägten
Gesellschaft fundamental, so Amarelle. Wer einen Computer programmieren wolle,
müsse auch in einer Sprache schreiben und lesen können. Darüber hinaus müsse
die Alphabetisierung stark sein, um soziale und wirtschaftliche Unterschiede zu
bekämpfen.
«Lesen und Schreiben sind für die Autonomie jedes Einzelnen
entscheidend, bei der Arbeit, im Privatleben, in der Öffentlichkeit, im
Austausch mit dem Staat oder wenn es darum geht, zu träumen oder zu trauern»,
sagt die Waadtländer Bildungschefin.
Daran denken Elsa Burgeois’ Schülerinnen und Schüler noch nicht. Aber
ihr Wissensdurst ist gross. Es hagelt Fragen über Fragen. «Was ist eine
Hemisphäre?», fragt eine Schülerin, nachdem sie ihr Buch unter der Schulbank
versorgt hat. Die Lehrerin greift zum Globus, um die Frage zu klären. Nach
einer Viertelstunde lesen spricht die Klasse bereits über die ganze Welt.

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