Erstaunlich, zu welch weisen
Erkenntnissen die neuesten Pisa-Tests führen. Worauf zahlreiche Reformkritiker
seit Jahren warnend hinweisen, findet «dank» der erneut ungenügenden Resultate
im Leseverstehen plötzlich Widerhall in den Medien. Jeder vierte 15- Jährige
verstehe deutsche Texte zu schlecht, um später als eigenständiger Erwachsener
im Alltag, im Berufsleben und als mündiger Bürger bestehen zu können. Etwa die
Hälfte hat zudem wenig Freude am Lesen: «Ich lese nicht zum Vergnügen». Und was
fällt der Zürcher Bildungsdirektorin und EDK-Präsidentin Silvia Steiner dazu
ein? «Wir müssen uns fragen, wie es uns gelingt, dass Jugendliche wieder mehr
Lust am Lesen bekommen.» In den Kantonen seien bereits Projekte und Konzepte am
Laufen, gibt sie laut Tages-Anzeiger zum Besten («Schweizer sind nur
Mittelmass»). So, so… Wir Lehrer könnten Ihnen schon sagen, welche Projekte und
Konzepte es bräuchte: Freude am Lesen bekommen die Kinder nämlich vor allem
beim gemeinsamen Lesen im Klassenverband, zusammen mit einer begeisterten und
begeisternden Lehrerin, die über nicht verstandene Ausdrücke oder Sätze nicht
hinweggeht, sondern mit ihren Schülern zusammen deren Sinn so erschliesst, dass
möglichst alle folgen und ihr Textverständnis damit aufbauen und vertiefen
können.
Pisa: Aufregung produzieren oder Konsequenzen ziehen? 8.12. von Marianne Wüthrich
Nichts Neues also – aber jetzt gilt es, Konsequenzen zu ziehen. Denn
mit dem selbstorganisierten Abarbeiten von Schmalspur-Lückentexten im Sinne der
mageren DeutschLernziele im Lehrplan 21 lernt man weder die deutsche Sprache
einigermassen zu beherrschen noch bekommt man Freude daran. Ausser diejenigen
Kinder, bei denen zu Hause gelesen und vorgelesen wird – aber die lernen es
sowieso.
Apropos Konsequenzen ziehen: Wirklich bemerkenswert, was da so alles
im Tagi zu lesen ist: «Jahrelang habe man der Schule viele zusätzliche Aufgaben
aufgebürdet – etwa zwei Fremdsprachen auf Primarschulstufe. Dabei sei das
Hochdeutsch essenziell für die gesamte Bildungskarriere; hier dürften keine
Kompromisse gemacht werden.» So Rudolf Winsch, Bildungsverantwortlicher bei
Economiesuisse, bisher eifriger Verfechter aller Schulreformen, vor allem der
Volldigitalisierung der Schule. Am selben Tag schreibt Raphaela Birrer im Tagi,
wir sollten uns fragen, was in unseren Schulzimmern nicht richtig laufe. «Die
Antwort lautet: falsch gelagerte Reformen. Lernschwache Schüler sind heute in die
Regelklassen integriert, Klassen werden vergrössert, Lektionen für «Deutsch als
Zweitsprache» abgebaut, mehrere Fremdsprachen parallel unterrichtet. Das bringt
die Schulen vielerorts an ihre Belastungsgrenzen.» («Der falsche Reformeiferrächt sich») Gerne werden wir unsere Presse und unsere Bildungsverantwortlichen
an diese Statements erinnern…
Wenig überzeugend sind die Ideen der neuen
LCH-Präsidentin Dagmar Rösler zur Abhilfe: Es herrsche «Handlungsbedarf in den
Bereichen Lesekompetenz, Frühförderung, Nutzung digitaler Technologien in der
Schule sowie der Begabungs- und Begabtenförderung.» («Pisa-Studie 2019:
Schweizer Schüler verschlechtert») Meines Erachtens könnten wir auf
Frühförderung problemlos verzichten, wenn wir den Lehrplan und die Lehrerausbildung
wieder darauf ausrichten, dass alle Kinder, auch solche mit nichtdeutscher
Muttersprache, in der Volksschule lesen und schreiben lernen. In neun Jahren
plus zwei Jahren Chindsgi sollte das möglich sein. Der Erwerb von
«Lesekompetenz» im Sinne des LP 21 ist, wie oben erläutert, der falsche Weg,
und wie die «digitalen Technologien» zu besserem Leseverständnis und zu Freude
am Lesen verhelfen sollen, bleibt schleierhaft. Die Begabtenförderung können
wir uns vermutlich sparen, wenn wir die heterogenen Inklusionsklassen wieder in
Lerngemeinschaften aufteilen, die für jedes Kind förderlich sind.
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