8. Dezember 2019

Pisa: Aufregung produzieren oder Konsequenzen ziehen?


Erstaunlich, zu welch weisen Erkenntnissen die neuesten Pisa-Tests führen. Worauf zahlreiche Reformkritiker seit Jahren warnend hinweisen, findet «dank» der erneut ungenügenden Resultate im Leseverstehen plötzlich Widerhall in den Medien. Jeder vierte 15- Jährige verstehe deutsche Texte zu schlecht, um später als eigenständiger Erwachsener im Alltag, im Berufsleben und als mündiger Bürger bestehen zu können. Etwa die Hälfte hat zudem wenig Freude am Lesen: «Ich lese nicht zum Vergnügen». Und was fällt der Zürcher Bildungsdirektorin und EDK-Präsidentin Silvia Steiner dazu ein? «Wir müssen uns fragen, wie es uns gelingt, dass Jugendliche wieder mehr Lust am Lesen bekommen.» In den Kantonen seien bereits Projekte und Konzepte am Laufen, gibt sie laut Tages-Anzeiger zum Besten («Schweizer sind nur Mittelmass»). So, so… Wir Lehrer könnten Ihnen schon sagen, welche Projekte und Konzepte es bräuchte: Freude am Lesen bekommen die Kinder nämlich vor allem beim gemeinsamen Lesen im Klassenverband, zusammen mit einer begeisterten und begeisternden Lehrerin, die über nicht verstandene Ausdrücke oder Sätze nicht hinweggeht, sondern mit ihren Schülern zusammen deren Sinn so erschliesst, dass möglichst alle folgen und ihr Textverständnis damit aufbauen und vertiefen können. 
Pisa: Aufregung produzieren oder Konsequenzen ziehen? 8.12. von Marianne Wüthrich


Nichts Neues also – aber jetzt gilt es, Konsequenzen zu ziehen. Denn mit dem selbstorganisierten Abarbeiten von Schmalspur-Lückentexten im Sinne der mageren DeutschLernziele im Lehrplan 21 lernt man weder die deutsche Sprache einigermassen zu beherrschen noch bekommt man Freude daran. Ausser diejenigen Kinder, bei denen zu Hause gelesen und vorgelesen wird – aber die lernen es sowieso. 

Apropos Konsequenzen ziehen: Wirklich bemerkenswert, was da so alles im Tagi zu lesen ist: «Jahrelang habe man der Schule viele zusätzliche Aufgaben aufgebürdet – etwa zwei Fremdsprachen auf Primarschulstufe. Dabei sei das Hochdeutsch essenziell für die gesamte Bildungskarriere; hier dürften keine Kompromisse gemacht werden.» So Rudolf Winsch, Bildungsverantwortlicher bei Economiesuisse, bisher eifriger Verfechter aller Schulreformen, vor allem der Volldigitalisierung der Schule. Am selben Tag schreibt Raphaela Birrer im Tagi, wir sollten uns fragen, was in unseren Schulzimmern nicht richtig laufe. «Die Antwort lautet: falsch gelagerte Reformen. Lernschwache Schüler sind heute in die Regelklassen integriert, Klassen werden vergrössert, Lektionen für «Deutsch als Zweitsprache» abgebaut, mehrere Fremdsprachen parallel unterrichtet. Das bringt die Schulen vielerorts an ihre Belastungsgrenzen.» («Der falsche Reformeiferrächt sich») Gerne werden wir unsere Presse und unsere Bildungsverantwortlichen an diese Statements erinnern… 

Wenig überzeugend sind die Ideen der neuen LCH-Präsidentin Dagmar Rösler zur Abhilfe: Es herrsche «Handlungsbedarf in den Bereichen Lesekompetenz, Frühförderung, Nutzung digitaler Technologien in der Schule sowie der Begabungs- und Begabtenförderung.» («Pisa-Studie 2019: Schweizer Schüler verschlechtert») Meines Erachtens könnten wir auf Frühförderung problemlos verzichten, wenn wir den Lehrplan und die Lehrerausbildung wieder darauf ausrichten, dass alle Kinder, auch solche mit nichtdeutscher Muttersprache, in der Volksschule lesen und schreiben lernen. In neun Jahren plus zwei Jahren Chindsgi sollte das möglich sein. Der Erwerb von «Lesekompetenz» im Sinne des LP 21 ist, wie oben erläutert, der falsche Weg, und wie die «digitalen Technologien» zu besserem Leseverständnis und zu Freude am Lesen verhelfen sollen, bleibt schleierhaft. Die Begabtenförderung können wir uns vermutlich sparen, wenn wir die heterogenen Inklusionsklassen wieder in Lerngemeinschaften aufteilen, die für jedes Kind förderlich sind.

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