Wissen
Sie, was ‘postfaktisch’ bedeutet? Das Adjektiv beschreibt Umstände, in denen
die öffentliche Meinung weniger durch Tatsachen als durch das Hervorrufen von
Gefühlen und persönlichen Meinungen beeinflusst wird.
Uns
scheint es, dass insbesondere bei der Diskussion über Vor- und Nachteile der
schulischen Integration von lernbehinderten Kindern und Jugendlichen
postfaktisches Vorgehen angesagt ist. Dies wird der enormen Bedeutung der Sache
aber nicht gerecht. Es sollen hier deshalb einige uns als relevant erscheinende
Gründe ohne ideologische Verklärung oder Überhöhung dargestellt werden. Dabei soll,
quasi als unser erkenntnisleitendes Interesse, offen gelegt werden, dass wir
die Aufhebung und Schliessung von Institutionen, in denen diese Kinder und
Jugendliche über Jahrzehnte fachlich fundiert und auch immer wieder erfolgreich
gefördert und beschult worden sind, für falsch halten.
Abschaffung der Kleinklassen. Ein bildungspolitischer Irrweg, Basler Zeitung, 7.12. von Roland Stark und Riccardo Bonfranchi
Von
welchen Institutionen sprechen wir?
Es geht
um die Abschaffung der Kleinklassen, der Einführungsklassen, Reorganisationen
beim Logopädischen Dienst, bei der Psychomotorik und auch bei der
Sprachheilschule, sowie in Bezug auf die Berufsfindung, die Werkjahre.
Zu
welchen Auswirkungen hat das Verschwinden dieser Institutionen geführt?
Wir
können hier nicht auf jede Einzelheit eingehen, sondern beschränken uns hier
auf Aussagen, wie wir sie von den Menschen in der Praxis immer wieder gehört
haben. Da ist zum einen der Fakt, dass lernbehinderte Kinder und Jugendliche in
einem grossen Klassenverband von mehr als 20 Mitschülern nicht im gleichen
Masse gefördert werden können, wie wenn sie sich z. B. zu Acht in einer Klasse
befinden. Die heilpädagogische Begleitung, die dann für einige Stunden in der
Woche diesem Kind eine zusätzliche Unterstützung bieten soll, kann aber nur
einigermassen erfolgreich arbeiten, wenn sie das Kind aus der Klasse
herausnimmt. Sie geht dann mit ihm ins Kopierräumchen oder irgendwohin. Nur
integriert ist es dann nicht. Bleibt sie mit ihm in der Klasse, so führt dies
zu einer zusätzlichen Unruhe während des Schulbetriebs. Denn es sind ja noch
eine Reihe von anderen (heil-)pädagogisch tätigen Erwachsenen in der Klasse,
wie z. B. eine Person, die sich um ein ‘integriertes’ geistig behindertes Kind
kümmert, eine Person, die Deutsch für Ausländer erteilt etc. Eine
Dilemma-Situation sondergleichen. Es geht zu wie am Bahnhof. Schüler und
Erwachsene kommen und gehen. Dass dann Mitschüler einen Gehörschutz erhalten,
um sich besser konzentrieren zu können, zeigt das Widersprüchliche dieser
Vorgehensweise drastisch auf.
Vom
sozialen Standpunkt aus ist zu fragen, wem es auf die Dauer schon gefallen
würde, wenn man tagtäglich erfahren muss, dass man die oder der Schwächste ist,
dass man die Witze der Mitschüler nicht so ganz versteht und wenn man selber
mal einen erzählt, dieselben Mitschüler nur die Augen verdrehen. Ein immer
wiederkehrendes Misserfolgserlebnis, das diesen Bezugsgruppenkonflikt drastisch
deutlich macht.
Den angeblich
integrierten Kindern fehlt eine stabile und vertraute Lernumgebung, wie sie in
den fälschlicherweise als integrationsfeindlich denunzierten Kleinklassen
vorhanden war. Die Schüler und Schülerinnen und das muss hier besonders betont
werden, sind nur ‘formal’ integriert. Sie stehen auf der gleichen Klassenliste.
Aber ob sie als Menschen auch integriert sind, erscheint doch mehr als fraglich
zu sein. Diese sogenannte Integration stellt eine Bagatellisierung und damit
auch eine Trivialisierung ihrer Behinderung dar. Man könnte somit auch von
einer Würdeverletzung ihrer Persönlichkeit sprechen. Integration kann und wird
diesen Schülern in ihrem So-Sein in keiner Art und Weise gerecht.
Eine
weitere Konsequenz dieser fragwürdigen Integration besteht darin, dass eine
ganze Reihe von lernbehinderten Kindern und Jugendlichen, die auch
verhaltensauffällig sind, eben nicht integriert werden (können). Diese
unterstehen natürlich weiterhin der Schulpflicht und werden in Heilpädagogische
Sonderschulen überwiesen. Dieser Schultypus wurde für Kinder und Jugendliche
mit einer geistigen Behinderung konzipiert und diese Schulen sind heutzutage
übervoll. Lernbehinderte/verhaltensauffällige Schüler und Schülerinnen gehören
nun aber genauso wenig in diese Heilpädagogischen Schulen, wie in die
Regelschulen. Als Konsequenz tut sich damit ein weiteres Problemfeld auf.
Fazit:
Die ‘integrative Schule’ bietet nur ein ungenügendes, für alle Beteiligten oft
frustrierendes Angebot.
Was
bedeutet die UN-Menschenrechtskonvention für die sogenannte Integration?
Von den
Befürwortern der sogenannten Integration wird gebetsmühlenartig immer wieder
auf diese UN-Konvention aus dem Jahre 1994 von Salamanca verwiesen. Bei der
Auslegung dieses Papiers haben sich aber zwei Missverständnisse eingeschlichen,
die oft vergessen gehen. Zum einen ist zu sagen, dass in dieser Konvention an
keiner Stelle die Rede davon ist, dass Sonderschulen, d.h. spezifische
Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Defiziten abgeschafft werden
müssen. Im Mittelpunkt der Bemühungen um Integration stehen nicht organisatorische
bzw. räumliche Fragen der Zusammenlegung, sondern die Erfüllung der Bedürfnisse
aller Lernenden.
Das
zweite Missverständnis basiert auf einem Übersetzungsfehler. Eine Klarstellung
in dieser politischen und ideologischen Spannung wird durch einen Blick in den
Text der UN-Vorgabe möglich. Hier lautet die Grundforderung: Die
Vertragspartner hätten sicherzustellen, dass kein Kind vom "general
education system", also vom allgemeinen Schulsystem, ausgeschlossen wird.
Diese Zielvorstellung geht primär auf die Tatsache zurück, dass weltweit immer
noch etwa 25 Millionen Kinder mit
Behinderungen im Primärschulalter überhaupt keine Schule besuchen können, wie
die Unesco-Kommission im Jahr 2009 feststellte.
"Inklusives" Bildungssystem bedeutet demnach, es muss alle Kinder,
also auch Kinder mit Behinderungen in besonderen
Einrichtungen einbeziehen.
Die
Verabsolutierung des Integrationsprinzips wurde dadurch möglich, dass der
englische Terminus "general education system" fälschlicherweise mit
dem deutschen Begriff der "allgemeinen Schulen" (im Unterschied zu
den Kleinklassen) gleichgesetzt wurde. "General education system"
entspricht aber eindeutig dem, was wir als "allgemeinbildendes
Schulsystem" (im Unterschied zu berufsbildenden Schulen) verstehen, und zu
dem nach schweizerischem Schulrecht der Kantone eindeutig auch die Kleinklassen
gehör(t)en.
Bildungspolitische
Überlegungen
Die
Integrationsbewegung steht, so muss man weiter, nüchtern, festhalten, steht
völlig schief in der aktuellen Bildungslandschaft. Diese hat sich in den
letzten fünf Jahrzehnten immer weiter aufgefächert, spezialisiert. Wir sprechen
hier von z. B. Fachmittelschulen, der Lehre mit oder ohne Berufsmaturität,
Höheren Fachschulen, Fachhochschulen, Schulen für Hochbegabte etc.
Erwähnenswert ist auch, dass am 24.11.2019 im Kanton-Basel-Landschaft die
Aufgliederung der Sekundarstufe I in drei Leistungskategorien der
promotionswirksamen Fächer vom Volk mit überwältigender Mehrheit angenommen
wurde. Wir können deshalb festhalten, dass die Entwicklung von Bildung, dies
als ein Kredo der Sozialdemokratie aus dem letzten Jahrhundert, dahin ging,
dass spezifische Gruppen in einer Gesellschaft, auch ein Anrecht auf eine
spezifische Bildung haben. Wieso man dann bei Menschen mit einer Behinderung
dies auflöst, muss andere Gründe haben, über die hier aber nur spekuliert
werden könnte. Fachleuten und insbesondere den Lehrkräften in der Praxis ist
klar, dass verhaltensauffällige, lernbehinderte, oft auch sprachlich und
kulturell noch nicht integrierte Kinder und Jugendliche eine besonders
geförderte Schule angeboten werden muss.
Ist
Integration billiger?
Nein,
in keiner Art und Weise. Diese sogenannte schulische Integration ist wesentlich
teurer als ursprünglich gedacht und womit vor ca. 20 Jahren Politiker und
Verwaltungsbeamte der Bildungs- und Erziehungsdirektionen geködert worden sind.
Inzwischen wirft die Praxis immer größere Finanzierungsprobleme auf. Es wird
verblüfft gefragt: Hat denn niemand die zu erwartenden Kosten berechnet?
Voreilige Departemente in den Kantonen hatten sich erhofft - sie waren durch
oberflächliche und geschönte Schätzungen dazu ermuntert worden -, die
entstehenden Kosten für ein integriertes Schulsystem liessen sich durch den
Wegfall der Kosten für die Kleinklassen kompensieren. Diese Auffassung hat sich
als total irrig erwiesen, konnte aber nicht verhindern, dass es zu schulischen
Improvisationen von Integration und damit zu Benachteiligungen der betroffenen
Kinder kam.
Stimmungen
Der
Forderung, Einführungs- oder sogar Kleinklassen wieder einzuführen, wird nicht
mit (heil-)pädagogischer, sondern fast ausschliesslich mit ideologischen
Schein-Argumenten begegnet. Von Salamanca herkommend, wird ein absoluter
Integrationsauftrag abgeleitet, der aber dann noch nicht einmal als eine solche
bezeichnet werden kann. Wir halten deshalb fest, dass diese sogenannte
Integration der Persönlichkeit und den persönlichen Bedürfnissen von
lernbehinderten Kindern in keiner Art und Weise gerecht wird. Sie werden als
Mittel zum Zweck einer (Schein-)Normalität missbraucht. Deshalb kommt diese
sogenannte Integration einer Würde-Verletzung gleich. Befürworter können sich
als Gut-Menschen fühlen, während dem Kritiker, die sich nicht vorbehaltlos der
karitativ-missionarischen Agitation unterwerfen, als Ewig-Gestrige,
abergläubische Menschen, die mit einem antiquierten Denken Versehene, als
geistig Unbewegliche diskreditiert werden.
Wir
aber meinen: Es gibt eine unendliche Vielfalt menschlicher Daseinsformen und
alle sind gleichwertig. Aber nicht alle müssen, können oder sollen gleichartig
behandelt, sprich gefördert werden. Die heutige sogenannte Integrationspraxis
muss aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt werden. Der Wiederaufbau der
Kleinklassen ist schwierig, jedenfalls schwieriger als der Abbruch. Aber im
Interesse aller Beteiligten unumgänglich.
Dr.
Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge, Ethiker
Roland
Stark, Heilpädagoge, pens. Sonderklassen- und Kleinklassenlehrer in Pratteln
und Basel
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