Herr Rhyn,
die Resultate der neuen Pisa-Studie schockieren, die Schweiz liegt beim Lesen
auf Platz27–unter dem Durchschnitt und klar hinter Nachbar Deutschland. Wieso?
Ich möchte
vorausschicken, dass ich die Pisa-Tests für ein relevantes Instrument halte, an
dem man festhalten sollte.Trotzdem darf man die Ergebnisse nicht mit Schlussfolgerungen
überladen. Man bedenke: Es sind schweizerische Durchschnittswerte, die Kantone sind
aber sehr unterschiedlich unterwegs. Zudem kam es auch in anderen Ländern zu
schlechteren Resultaten; allerdings nicht in allen. Vielleicht waren die
Aufgaben 2018 schwieriger. Jedenfalls war der Test erstmals nur computerbasiert,
was womöglich manchen Schülerinnen und Schülern Probleme bereitete.
"Die Ablehnung des Drills war unheilvoll", Basler Zeitung, 7.12. von Alexandra Kedves
Also war doch
der Test schuld?
So einfach ist es sicher nicht. Bei
der Lese- und Textverständnis-Kompetenz etwa zeigt ein genauerer Blick: Der Leistungsabfall
fand bei den sehr schwachen Schülerinnen und Schülern statt. Die starken
Jugendlichen erreichten gleiche Werte wie früher. Aber die Gruppe derer, die
nicht in der Lage sind, einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen
Textteilen herzustellen, wuchs auf 24 Prozent. Das ist besorgniserregend und
mag mit den Klassenzusammensetzungen in Zusammenhang stehen.
Inwiefern?
Es gibt mehr Schüler, die zusätzliche Unterstützung brauchen
und früher nicht in Regelklassen unterrichtet wurden. Hier sind
die Lehrerinnen und Lehrer stark gefordert. Auch fremdsprachige Kinder
benötigen häufig mehr Hilfe.
Also Rolle rückwärts beim
Integrationsprinzip, weil es imSchulalltag nicht zu bewältigenist?
Auf keinen Fall! Wir sehen ja: Bei den starken Schülerinnen und Schülern gibt es
keinen Leistungseinbruch. Und die schwächeren profitieren insgesamt von
der Integration, da sie sich nicht ausgegrenzt fühlen. Was hingegen, gerade bei der
Lesekompetenz, entscheidend wäre: deutlich früher zu fördern, besonders
die fremdsprachigen Kinder. Andere Länder investieren mehr in die Frühförderung,und das zahlt
sich aus. Für den Bereich Lesen
gilt erwiesenermassen: Der Einfluss der Schule ist relativ gering. Die Familie, die
Kita, die täglichen sozialen Kontakte prägen die Entwicklung sprachlicher
Kompetenzen viel stärker. In der Mathematik ist das anders.
Trägt die Schule hier keine
Verantwortung?
Doch! Sie
kann und muss die Schülerinnen undSchüler motivieren, Anreize bieten, Leselust
wecken. Und sie bemüht sich auch darum, von der Gestaltung einladender Leseecken
über regelmässige Schulbibliotheksbesuche und die jährliche «Lesenacht» bis zum Einsatz spielerischer Computeranwendungen.
Es scheint nicht so gut zu
klappen.
Ein Problem sehe ich darin, dass in der modernen Unterrichtskultur der Wert
des Übens ein wenig vergessen geht. Das ist nicht nur beim Lesen zu beobachten. Neue
Studien belegen: Ohne Üben geht es nicht, da sich sonst
die mühelose Routine nicht einstellt, die für die Lust am Lesen notwendig ist. Die
an sich sinnvolle Ablehnung des einfältigen Drills hatte hier einen unheilvollen
Effekt. Lesen ist für weniger junge Leute ein Vergnügen als noch vor fünf oder zehn
Jahren.
Dafür steigt die digitale
Mediennutzung bei den Jungen jedes Jahr. Das Buch hat viel Konkurrenz bekommen. Mich hat
die Aussage des Sängers Luca Hänni Ende Oktober überrascht. Der 25-Jährige
sagte, er habe in den Ferien zum allerersten Mal ein Buch gelesen, «Die drei
Fragezeichen». In der Schule hätten ihn Bücher nie angesprochen.
Kommt man tatsächlich durch
die Schweizer Volksschule, ohne ein einziges Buch ganz gelesen zu haben?
In der Regel
sicher nicht. Eine konzentrierte und konsequente Buchlektüre ist notwendig, um
Lesekompetenz zu erwerben.
Gleichzeitig möchte ich die neuen Medien auf keinen Fall abwerten. Medienkompetenz ist
ein zentraler Bestandteil unseres Lehrplans. Für gewisse Bildungsinhalte, wie
zum Beispiel den Satz des Pythagoras, mag ein Youtube-Tutorial manchmal sogar besser
weiterhelfen als ein Schulbuch. Aber es wäre nicht
förderlich,wenn sich der Unterricht auf das Tablet fokussierte und Bücher –
Belletristik wie auch Schulbücher – unter ‹ferner liefen› rangierten.
Warum? Ist die Zeit des Buches
nicht abgelaufen, verschiebt sich die Kommunikation nicht zunehmend ins Audiovisuelle?
Dann verschöbe sie sich ins Nichts! Ernsthaft: Sprache ist die Grundlage des
Denkens. Man kann nicht in Filmen und Bildern denken oder sich austauschen!
Wittgensteins Aussage, dass die Grenzen der eigenen Sprache die Grenzen der eigenen Welt bedeuten,
hat durchaus seine Gültigkeit. In der Lernforschung
besteht auch ein Konsens darüber, dass ohne das strukturierte
Buch, ohne ein haptisches Leseerlebnis oder das Schreiben von Hand Lernstoff viel
weniger effektiv abgespeichert wird.
Ist das in den Schulhäusern–
wo man oft mit Computern und ziemlich zettellastig arbeitet–angekommen? Andere Kantone als Zürich haben strengere Schulbuchobligatorien.
In den
Schulen hier bestehen wohl grosse Unterschiede. Wir
ermutigen unsere Studierenden, in der Praxis sowohl die computerbasierten als auch die
physischen Ausgaben der Lehrmittel parallel einzusetzen.Wichtig ist,
dass in den Schulen gelesen wird.
Belastet der Unterricht in
zwei Fremdsprachen die deutsche Lesekompetenz
bei Kindern, die in die
Primarschule gehen?
Im Gegenteil, damit wird das Sprachenlernen unterstützt! Der
Zugang zu deutschen Texten wird so nachgewiesenermassen sogar erleichtert. Für
die Lehrpersonen – und für fremdsprachige Kinder – können die zusätzlichen
Sprachen jedoch tatsächlich eine Herausforderung darstellen.
Was bleibt konkret zu tun?
Ich wünsche mir eine Allianz von Schulen, Bibliotheken, öffentlich-rechtlichen
Medien und Elternvereinen, die gemeinsam für das Thema sensibilisieren. Der
behutsame Umgang mit Sprache muss in der Erziehung und der Bildung als
wesentlich wahrgenommen werden. Es ist von grosser Bedeutung,wie wir
miteinander reden. Ein Sensorium
dafür entwickelt sich eben auch beim Lesen. Kinder sollen sich nach eigenen
Interessen Bücher aussuchen können, und wir müssen ihnen Raum und Zeit
fürs Lesen verschaffen. Lesen ist eine sinnvolle Tätigkeit und
macht Spass–das sollen die Kinder erfahren. Es ermöglicht
ihnen, in neue Welten einzutauchen und spannende Abenteuer zu erleben.
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