8. Dezember 2019

Pisa-Teilnahme abbrechen


Da waren sie wieder, die Kulturpessimisten und Bildungsnostalgiker, die schon immer gewusst haben, was falsch läuft in der Schule: zu viele Reformen, zu viel Integration und Kuschelpädagogik, zu wenig Drill.
Die neusten Resultate der Pisa-Studie bewiesen es diese Woche schliesslich schwarz auf weiss: Die Schweizer Jugendlichen können schlecht lesen, und in der Mathematik und den Naturwissenschaften waren die Zahlen auch schon besser. Das einst stolze Schweizer Bildungswesen sei nur noch Mittelmass - heisst es in den Medien. Eine Schmach, ein Alarmsignal, der Lehrerverband sieht Handlungsbedarf.
Die Pisa-Resultate sind nicht das Problem. Der Test ist es. NZZaS, 8.12. von Michael Furger


Seit 20 Jahren will uns die Pisa-Studie weismachen, wie es um die Bildungsqualität und die Schulleistungen weltweit steht. Ihre Macher erstellen Ranglisten mit dem erklärten Ziel, dass die schlechter klassierten Länder von den Besten lernen sollen.

Das Schicksal der Finnen
Vor 19 Jahren, einige mögen sich erinnern, war Finnland der grosse Star. Aus ganz Europa reisten Bildungspolitiker in den Norden, um staunend zu erfahren, wie die Finnen mit ihrem sozialen und integrativen Ansatz die Schule der Zukunft bauen.

Jetzt, wo die Zukunft da ist, interessiert sich keiner mehr für die Finnen. Sie wurden überholt von Ländern wie China oder Singapur, die für ihre Drillschulen bekannt sind und damit ziemlich genau das Gegenteil praktizieren.

Kinder würden in jenen Ländern bis zu 57 Stunden pro Woche lernen - sagt jedenfalls die Pisa-Studie. Das sind rund 20 Stunden mehr als in Finnland und der Schweiz. Der Logik folgend müssten unsere Bildungspolitiker nun von den Chinesen lernen. Hoffentlich tun sie es nicht.

Denn die Asiaten an der Spitze des Bildungsrankings offenbaren die ganze Absurdität der Studie. Pisa reduziert Bildung auf ein paar wenige Messgrössen und pflegt damit das Bild einer Schule, wie sie gestern war, und nicht, wie sie morgen sein sollte.

Dass sich Bildung nicht messen lässt, ist keine neue Erkenntnis, hat sich aber offenbar noch nicht überall durchgesetzt. «Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn wir vergessen, was wir gelernt haben», sagte der britische Politiker Edward Frederick Lindley Wood. Er brachte es immerhin zum Aussenminister.

Ob jemand in einer Testsituation in limitierter Zeit möglichst viele Mathematikaufgaben richtig lösen kann, sagt wenig aus über seine Bildung und darüber, ob er in der Welt von morgen seinen Platz finden wird.

Aber, und das ist der entscheidende Punkt: Das Lösen von Mathematikaufgaben lässt sich sehr gut messen, ebenso wie das Textverständnis und die Anwendung naturwissenschaftlicher Grundsätze.

Dafür gibt’s Multiple-Choice-Fragen und Standards, die man so gestaltet, dass sie von Island über Saudiarabien bis nach Macau Gültigkeit haben. Als wäre Bildung ein normiertes Produkt, das in allen Kulturkreisen gleich aussieht und schmeckt wie ein Hamburger von McDonald’s.

Welche Fähigkeiten sind künftig gefragt? Niemand weiss es
Die Pisa-Studie misst nur das, was man messen kann - aber sie verkauft es als «Schlüsselkompetenzen, um in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts erfolgreich zu sein». So steht es auf ihrer Website. Damit ist der OECD, der Herausgeberin der Studie, der wahrscheinlich grösste Marketing-Coup in der Geschichte des Bildungswesens gelungen. «Pisa schuf eine Illusion von Bildungsqualität und verkaufte sie der Welt», kritisiert der chinesische Erziehungswissenschafter Yong Zhao.

Dass Lesen und Mathematik auch in Zukunft wichtige Fertigkeiten sein werden, davon kann man ausgehen. Aber die Schlüsselkompetenzen von morgen kennt niemand, auch die Evaluationsexperten der OECD nicht.

Es hat einmal eine lange Zeit gegeben, in der das zuverlässige Anwenden von erlernten Prozessen und Abläufen die zentrale Qualifikation für viele Berufe war. Aber diese Zeit hat noch vor der Jahrtausendwende ein Ende gefunden. Die digitale Gesellschaft von heute und morgen verlangt ziemlich sicher auch noch andere wichtige Fähigkeiten.

Die Kompetenz, sich verständlich auszudrücken, zum Beispiel. Kritisches Denken, Kreativität, Problemlösung, Selbststeuerung, vernetztes Denken und soziale Kompetenzen wie Kooperation und Empathie. Alles Fähigkeiten, die der Bund dieses Jahr in einem Bericht zum «Aufwachsen im digitalen Zeitalter» aufführt.

Es sind auch Fertigkeiten, die Unternehmen schon heute als mindestens so wichtig einstufen wie Mathematik und Leseverständnis. Eine Befragung der Beratungsfirma Deloitte kam jüngst zu diesem Resultat. Nur: Wie soll man so etwas messen und zu einer Rangliste verwursten?

Die Pisa-Studie gaukelt eine Fassbarkeit von Bildung, Kompetenzen und damit auch von Lebenstüchtigkeit vor, die es nicht gibt. Sie erinnert an die Ballbesitzstatistik bei einer Fussballübertragung, die nichts darüber sagt, wer am Ende das Spiel gewinnt. Darüber entscheiden andere Dinge: ein kreativer Spielzug, Mut, Selbstvertrauen, Teamspirit, Durchhaltewillen, Persönlichkeit und ja, auch Glück. Viel anders ist es im wahren Leben nicht. «Die messbare Seite der Welt ist nicht die Welt», schrieb einst der Philosoph Martin Seel. «Sie ist nur die messbare Seite der Welt.»

Nur rund 20 Prozent der Schweizer Jugendlichen haben sich beim Test wirklich angestrengt. Bei Pisa-Spitzenreiter waren es 60 Prozent.
Davon abgesehen ist höchst zweifelhaft, ob Pisa überhaupt zuverlässig messen kann, wie gut 15-Jährige einen Text verstehen oder die Welt der Mathematik begriffen haben. Vieles deutet darauf hin, dass die Studie vor allem die Testintelligenz und Motivation der Schüler erhebt.

Keine andere Statistik im dicken Pisa-Wälzer bringt die Fragwürdigkeit der Studie besser auf den Punkt als jene auf Seite 222. Die Schüler wurden am Ende des Tests nämlich gefragt, ob sie sich bei diesen Fragen überhaupt Mühe gegeben hätten.

Knapp 80 Prozent der Schweizer Schülerinnen und Schüler sagten, sie hätten sich mehr angestrengt, wenn die Resultate in ihre Schulnote einfliessen würden. Mit anderen Worten: Nur rund 20 Prozent gingen beim Test ans Limit. Bei den anderen westeuropäischen Ländern ist der Wert ähnlich tief. Bei Pisa-Spitzenreiter China hingegen beträgt er über 60 Prozent.

Jeder, der selbst Kinder hat oder welche unterrichtet, ahnt, was herauskommt, wenn ein 15-Jähriger keine Lust verspürt, einen ihm sinnlos erscheinenden Testbogen auszufüllen. Die Pisa-Macher räumen in ihrer Studie auch selbst ein, dass die Unterschiede zwischen den Ländern «nicht nur aus dem unterschiedlichen Wissen und Können der Schülerinnen und Schüler resultieren, sondern auch aus ihrer Motivation».

Die Resultate, die also auch aus der Motivation der Schüler resultieren, werden allerdings seit zwanzig Jahren als Massstab für die Schulqualität und - noch gravierender - als Grundlage für bildungspolitische Entscheide beigezogen. Problematisch an Pisa ist nicht nur, dass sie etwas Falsches misst und damit dem umfassenden Bildungsauftrag der Schule nicht gerecht wird. Ihr Messbarkeitsfetischismus hat auch das Bildungswesen und unseren Blick auf die Schule verändert.

Relevant ist, was gemessen werden kann und - auch das ein erklärtes Ziel der OECD - wirtschaftlichen Nutzen verspricht. Politiker reagieren heute auf Evaluationen und Ranglisten. Sie wollten wie die Finnen sein, solange die Finnen oben standen. Und sie wollen nun Massnahmen treffen, weil die Schweiz ein paar Punkte zu wenig hat auf der Leseverständnis-Skala.

Die Pisa-Schock-Jugend hat es auch geschafft
Natürlich gibt es im Schweizer Schulsystem einiges zu verbessern. Ein öffentliches Schulsystem wird nie perfekt sein. Zu hoch und zu vielfältig sind die Ansprüche, zu knapp das Geld und zu heterogen die Kinder, die zur Schule gehen. Trotzdem ist noch aus jeder Schweizer Schulgeneration etwas geworden, übrigens auch aus dem ersten Pisa-Jahrgang.
Im Jahr 2000, wir erinnern uns, erschütterte der Pisa-Schock die Schweiz. Die durchschnittliche Lesekompetenz und die naturwissenschaftlichen Kenntnisse waren laut der Studie ähnlich tief wie heute. Die damaligen Testpersonen sind heute Mitte dreissig.
Soweit wir wissen, sind sie nicht zu einer Generation von Versagern herangewachsen, sondern eher zu einer Generation von Startup-Gründern und Akademikern. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Hochschulabschlüsse stark gestiegen. Und so viele Unternehmensgründungen wie in den letzten Jahren gab es in der Schweiz noch nie.

Die Motive der Evaluationsexperten bei der OECD waren mit Sicherheit ehrbar und gut, aber sie haben Pisa zu einer gewaltigen Maschine gemacht, die niemandem mehr dient ausser einer florierenden Testindustrie. Die Illusion von Pisa als Indikator für Bildungsqualität lässt sich nicht mehr aufrechterhalten.

Es wäre Zeit, die Übung abzubrechen, zumindest in der Schweiz. Die über drei Millionen Franken, die unser Land jeweils für eine Teilnahme an einer Testrunde ausgibt, wären anderswo im Bildungswesen besser investiert - zum Beispiel in ein System, die jene Kompetenzen fördert, die im 21. Jahrhundert auch noch wichtig sein könnten.

2 Kommentare:

  1. Da hat jemand aber ganz gehörig die Seiten gewechselt https://schuleschweiz.blogspot.com/2011/12/die-schulreformen-haben-wenig-gebracht.html

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  2. Wer will sich schon die Weihnachtsgrati vermasseln?

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