Da waren sie wieder, die Kulturpessimisten und Bildungsnostalgiker, die
schon immer gewusst haben, was falsch läuft in der Schule: zu viele Reformen,
zu viel Integration und Kuschelpädagogik, zu wenig Drill.
Die neusten Resultate der Pisa-Studie bewiesen es diese Woche
schliesslich schwarz auf weiss: Die Schweizer Jugendlichen können schlecht
lesen, und in der Mathematik und den Naturwissenschaften waren die Zahlen auch
schon besser. Das einst stolze Schweizer Bildungswesen sei nur noch Mittelmass
- heisst es in den Medien. Eine Schmach, ein Alarmsignal, der Lehrerverband
sieht Handlungsbedarf.
Die Pisa-Resultate sind nicht das Problem. Der Test ist es. NZZaS, 8.12. von Michael Furger
Seit 20 Jahren will uns die Pisa-Studie weismachen, wie es um die
Bildungsqualität und die Schulleistungen weltweit steht. Ihre Macher erstellen
Ranglisten mit dem erklärten Ziel, dass die schlechter klassierten Länder von
den Besten lernen sollen.
Das Schicksal der Finnen
Vor 19 Jahren, einige mögen sich erinnern, war Finnland der grosse Star.
Aus ganz Europa reisten Bildungspolitiker in den Norden, um staunend zu erfahren,
wie die Finnen mit ihrem sozialen und integrativen Ansatz die Schule der
Zukunft bauen.
Jetzt, wo die Zukunft da ist, interessiert sich keiner mehr für die
Finnen. Sie wurden überholt von Ländern wie China oder Singapur, die für ihre
Drillschulen bekannt sind und damit ziemlich genau das Gegenteil praktizieren.
Kinder würden in jenen Ländern bis zu 57 Stunden pro Woche lernen - sagt
jedenfalls die Pisa-Studie. Das sind rund 20 Stunden mehr als in Finnland und
der Schweiz. Der Logik folgend müssten unsere Bildungspolitiker nun von den
Chinesen lernen. Hoffentlich tun sie es nicht.
Denn die Asiaten an der Spitze des Bildungsrankings offenbaren die ganze
Absurdität der Studie. Pisa reduziert Bildung auf ein paar wenige Messgrössen
und pflegt damit das Bild einer Schule, wie sie gestern war, und nicht, wie sie
morgen sein sollte.
Dass sich Bildung nicht messen lässt, ist keine neue Erkenntnis, hat
sich aber offenbar noch nicht überall durchgesetzt. «Bildung ist das, was übrig
bleibt, wenn wir vergessen, was wir gelernt haben», sagte der britische
Politiker Edward Frederick Lindley Wood. Er brachte es immerhin zum
Aussenminister.
Ob jemand in einer Testsituation in limitierter Zeit möglichst viele
Mathematikaufgaben richtig lösen kann, sagt wenig aus über seine Bildung und
darüber, ob er in der Welt von morgen seinen Platz finden wird.
Aber, und das ist der entscheidende Punkt: Das Lösen von
Mathematikaufgaben lässt sich sehr gut messen, ebenso wie das Textverständnis
und die Anwendung naturwissenschaftlicher Grundsätze.
Dafür gibt’s Multiple-Choice-Fragen und Standards, die man so gestaltet,
dass sie von Island über Saudiarabien bis nach Macau Gültigkeit haben. Als wäre
Bildung ein normiertes Produkt, das in allen Kulturkreisen gleich aussieht und
schmeckt wie ein Hamburger von McDonald’s.
Welche Fähigkeiten sind künftig
gefragt? Niemand weiss es
Die Pisa-Studie misst nur das, was man messen kann - aber sie verkauft
es als «Schlüsselkompetenzen, um in der Informationsgesellschaft des 21.
Jahrhunderts erfolgreich zu sein». So steht es auf ihrer Website. Damit ist der
OECD, der Herausgeberin der Studie, der wahrscheinlich grösste Marketing-Coup
in der Geschichte des Bildungswesens gelungen. «Pisa schuf eine Illusion von
Bildungsqualität und verkaufte sie der Welt», kritisiert der chinesische
Erziehungswissenschafter Yong Zhao.
Dass Lesen und Mathematik auch in Zukunft wichtige Fertigkeiten sein
werden, davon kann man ausgehen. Aber die Schlüsselkompetenzen von morgen kennt
niemand, auch die Evaluationsexperten der OECD nicht.
Es hat einmal eine lange Zeit gegeben, in der das zuverlässige Anwenden
von erlernten Prozessen und Abläufen die zentrale Qualifikation für viele
Berufe war. Aber diese Zeit hat noch vor der Jahrtausendwende ein Ende
gefunden. Die digitale Gesellschaft von heute und morgen verlangt ziemlich
sicher auch noch andere wichtige Fähigkeiten.
Die Kompetenz, sich verständlich auszudrücken, zum Beispiel. Kritisches
Denken, Kreativität, Problemlösung, Selbststeuerung, vernetztes Denken und
soziale Kompetenzen wie Kooperation und Empathie. Alles Fähigkeiten, die der
Bund dieses Jahr in einem Bericht zum «Aufwachsen im digitalen Zeitalter»
aufführt.
Es sind auch Fertigkeiten, die Unternehmen schon heute als mindestens so
wichtig einstufen wie Mathematik und Leseverständnis. Eine Befragung der
Beratungsfirma Deloitte kam jüngst zu diesem Resultat. Nur: Wie soll man so
etwas messen und zu einer Rangliste verwursten?
Die Pisa-Studie gaukelt eine Fassbarkeit von Bildung, Kompetenzen und
damit auch von Lebenstüchtigkeit vor, die es nicht gibt. Sie erinnert an die
Ballbesitzstatistik bei einer Fussballübertragung, die nichts darüber sagt, wer
am Ende das Spiel gewinnt. Darüber entscheiden andere Dinge: ein kreativer
Spielzug, Mut, Selbstvertrauen, Teamspirit, Durchhaltewillen, Persönlichkeit
und ja, auch Glück. Viel anders ist es im wahren Leben nicht. «Die messbare
Seite der Welt ist nicht die Welt», schrieb einst der Philosoph Martin Seel.
«Sie ist nur die messbare Seite der Welt.»
Nur rund 20 Prozent der Schweizer Jugendlichen haben sich beim Test
wirklich angestrengt. Bei Pisa-Spitzenreiter waren es 60 Prozent.
Davon abgesehen ist höchst zweifelhaft, ob Pisa überhaupt zuverlässig
messen kann, wie gut 15-Jährige einen Text verstehen oder die Welt der
Mathematik begriffen haben. Vieles deutet darauf hin, dass die Studie vor allem
die Testintelligenz und Motivation der Schüler erhebt.
Keine andere Statistik im dicken Pisa-Wälzer bringt die Fragwürdigkeit
der Studie besser auf den Punkt als jene auf Seite 222. Die Schüler wurden am
Ende des Tests nämlich gefragt, ob sie sich bei diesen Fragen überhaupt Mühe
gegeben hätten.
Knapp 80 Prozent der Schweizer Schülerinnen und Schüler sagten, sie
hätten sich mehr angestrengt, wenn die Resultate in ihre Schulnote einfliessen
würden. Mit anderen Worten: Nur rund 20 Prozent gingen beim Test ans Limit. Bei
den anderen westeuropäischen Ländern ist der Wert ähnlich tief. Bei Pisa-Spitzenreiter
China hingegen beträgt er über 60 Prozent.
Jeder, der selbst Kinder hat oder welche unterrichtet, ahnt, was
herauskommt, wenn ein 15-Jähriger keine Lust verspürt, einen ihm sinnlos
erscheinenden Testbogen auszufüllen. Die Pisa-Macher räumen in ihrer Studie
auch selbst ein, dass die Unterschiede zwischen den Ländern «nicht nur aus dem
unterschiedlichen Wissen und Können der Schülerinnen und Schüler resultieren,
sondern auch aus ihrer Motivation».
Die Resultate, die also auch aus der Motivation der Schüler resultieren,
werden allerdings seit zwanzig Jahren als Massstab für die Schulqualität und -
noch gravierender - als Grundlage für bildungspolitische Entscheide beigezogen.
Problematisch an Pisa ist nicht nur, dass sie etwas Falsches misst und damit
dem umfassenden Bildungsauftrag der Schule nicht gerecht wird. Ihr
Messbarkeitsfetischismus hat auch das Bildungswesen und unseren Blick auf die
Schule verändert.
Relevant ist, was gemessen werden kann und - auch das ein erklärtes Ziel
der OECD - wirtschaftlichen Nutzen verspricht. Politiker reagieren heute auf
Evaluationen und Ranglisten. Sie wollten wie die Finnen sein, solange die
Finnen oben standen. Und sie wollen nun Massnahmen treffen, weil die Schweiz
ein paar Punkte zu wenig hat auf der Leseverständnis-Skala.
Die Pisa-Schock-Jugend hat es auch
geschafft
Natürlich gibt es im Schweizer Schulsystem einiges zu verbessern. Ein
öffentliches Schulsystem wird nie perfekt sein. Zu hoch und zu vielfältig sind
die Ansprüche, zu knapp das Geld und zu heterogen die Kinder, die zur Schule
gehen. Trotzdem ist noch aus jeder Schweizer Schulgeneration etwas geworden,
übrigens auch aus dem ersten Pisa-Jahrgang.
Im Jahr 2000, wir erinnern uns, erschütterte der Pisa-Schock die
Schweiz. Die durchschnittliche Lesekompetenz und die naturwissenschaftlichen
Kenntnisse waren laut der Studie ähnlich tief wie heute. Die damaligen
Testpersonen sind heute Mitte dreissig.
Soweit wir wissen, sind sie nicht zu einer Generation von Versagern
herangewachsen, sondern eher zu einer Generation von Startup-Gründern und
Akademikern. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Hochschulabschlüsse
stark gestiegen. Und so viele Unternehmensgründungen wie in den letzten Jahren
gab es in der Schweiz noch nie.
Die Motive der Evaluationsexperten bei der OECD waren mit Sicherheit
ehrbar und gut, aber sie haben Pisa zu einer gewaltigen Maschine gemacht, die
niemandem mehr dient ausser einer florierenden Testindustrie. Die Illusion von
Pisa als Indikator für Bildungsqualität lässt sich nicht mehr aufrechterhalten.
Es wäre Zeit, die Übung abzubrechen, zumindest in der Schweiz. Die über
drei Millionen Franken, die unser Land jeweils für eine Teilnahme an einer
Testrunde ausgibt, wären anderswo im Bildungswesen besser investiert - zum
Beispiel in ein System, die jene Kompetenzen fördert, die im 21. Jahrhundert
auch noch wichtig sein könnten.
Da hat jemand aber ganz gehörig die Seiten gewechselt https://schuleschweiz.blogspot.com/2011/12/die-schulreformen-haben-wenig-gebracht.html
AntwortenLöschenWer will sich schon die Weihnachtsgrati vermasseln?
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