Eva Ebel heisst die künftige Direktorin am Unterstrass. Erstmals in der
150-jährigen Geschichte der Zürcher Bildungsstätte wird damit ab nächstem
Sommer eine Frau das Ruder übernehmen. Die promovierte Theologin ist dort
bereits als Dozentin für das Fach Religionen, Kulturen und Ethik tätig. Die
48-Jährige folgt auf Jürg Schoch, der nach 30 Jahren im Amt in Pension geht.
Ab August 2020 neue Direktorin: Eva Ebel. Bild: pd
Die kürzlich erfolgte Bekanntmachung zeigt, wie sehr sich das einstige
evangelische Lehrerseminar und vor allem die dortige Stellung der Frau
verändert hat. Die ersten 70 Jahre nach der Gründung werden nämlich wie
vielerorts noch keine weiblichen Lehrkräfte ausgebildet.
Das hat zum einen praktische Gründe: Die Schule wird als Internat
geführt. Dass dort unverheiratete Männer und Frauen unter einem Dach leben, ist
Ende des 19. Jahrhunderts noch unvorstellbar. Ausserdem ist die Finanzlage der
ohne staatliche Mittel auskommenden Bildungseinrichtung stets angespannt, die
Lehrerdiplome sind phasenweise durch den Kanton kontingentiert. Man will die
begehrten Plätze und teuren Ausbildungskosten deshalb nicht an künftige
Hausfrauen und Mütter «verschwenden».
Dass Frauen in der Regel nur wenige Jahre im Lehrberuf verbringen, wird
im ganzen Land als Begründung dafür herangezogen, sie nur zaghaft zu
Lehrerinnen auszubilden. Daneben argumentieren Pädagogen und Politiker mit dem
weiblichen «Naturell»: Frauen seien weder körperlich noch geistig für die
Ausübung des Lehrberufs imstande; ihnen mangle es an Willenskraft und Energie
sowie geistiger Selbständigkeit.
In Zeiten von akutem Lehrermangel aber nimmt man Frauen häufiger an den
Seminaren auf und setzt sie an den Schulen ein, wie die Historikerin Claudia
Crotti in ihrem Aufsatz «Lehrerinnen als Ersatzspielerinnen in der Schweiz»
nachzeichnet. Dies nicht zuletzt, um Kosten zu sparen: Ihnen wird zwar derselbe
Lohn wie den Männern entrichtet, sie erhalten jedoch weniger Naturalien wie
Pflanzland oder Holz und Kohle – da sie in der elterlichen oder ehelichen Stube
ja niemanden versorgen müssen.
Zürcher fordern «Zölibat» für Lehrerinnen
Immer wieder wird von Zürich bis Bern darüber diskutiert, inwiefern sich
die für Frauen vorgesehene gesellschaftliche Rolle mit dem Lehrberuf
vereinbaren lasse. «In der Natur des Weibes nimmt das Geschlechtsleben (. . .)
einen so bedeutenden Platz ein, dass die Erfüllung der hohen Bestimmung als
Gattin und Mutter nicht durch anderweitige Aufgaben gehemmt werden darf»,
heisst es dazu 1873. Lehrerinnen können ihren Beruf demnach nur ausüben, wenn
sie ledig und kinderlos bleiben.
Ab 1908 prüft Zürich gar ein «Zölibatsgebot» für Lehrerinnen. Zunächst
ist es die Zentralschulpflege, die Frauen gesetzlich verpflichten will, im
Falle einer Heirat vom Amt zurückzutreten, dann der Erziehungsrat. Die Zürcher
Lehrerinnen und zahlreiche solidarische Frauen mobilisieren gegen die
Vorlage – schliesslich beträfe das Spezialgesetz gerade einmal vier Frauen im
Kanton. Sie vermögen offenbar das Zürcher Stimmvolk zu überzeugen, welches die
Vorlage 1912 wider Erwarten ablehnt.
Frauen seien nicht nur bei eigenen Kindern und auch ausserhalb des
Hauses zu mütterlichem Wirken berufen, lautet das Gegenargument. Das Konzept
dieser «geistigen Mütterlichkeit» verbannt das weibliche Wirken indes auf die
unteren Schulstufen, da nach dieser Logik vor allem kleine Kinder der
mütterlichen Wärme und Zuwendung bedürfen. Die höheren Stufen werden ohnehin
als intellektuell zu anspruchsvoll für Frauen erachtet.
Diese historisch gewachsene Geschlechterverteilung im Lehrberuf hält
sich bis heute hartnäckig: Je höher die Bildungsstufe, desto tiefer der
Frauenanteil. 2018 liegt er in Zürich auf Kindergartenstufe bei 98, an den
Hochschulen bei gerade einmal 35 Prozent.
Brennende Schulbücher
Doch nicht nur die Rolle der Frauen, auch die Lehrerausbildung an sich
hat sich stark gewandelt, wie sich an der Geschichte des einstigen
evangelischen Lehrerseminars Unterstrass ebenfalls illustrieren lässt. Es
eröffnete 1869 in einer Zeit der bildungspolitischen Umwälzungen und
schulischen Reformen. 1832 erlässt der Kanton Zürich ein zukunftsweisendes
Schulgesetz, das die öffentlichen Bildungsstätten unter staatliche statt
kirchliche Aufsicht stellt. Parallel dazu wird die Lehrerausbildung
verstaatlicht.
Die Volksschule soll nicht länger Bibelkenntnisse, sondern bürgerliche
Bildungsinhalte und Wertvorstellungen vermitteln. Die Säkularisierung vollzieht
sich allerdings nicht reibungslos: Als den Schulkindern das Lesen nicht mehr
über den Katechismus, sondern mit weltlichen Lehrmitteln beigebracht werden
soll, werden diese auf dem Land öffentlich verbrannt.
Unterstrass wird ohne staatlichen Auftrag oder staatliche Unterstützung
gegründet. Das Zürcher Lehrerpatent müssen die Seminaristen aus der Stadt
Zürich am staatlichen Seminar in Küsnacht erwerben. Dann stehen sie
jeweils um fünf Uhr auf, um sich zu Fuss in die Gemeinde am Zürichsee
aufzumachen und pünktlich zu den Abschlussprüfungen zu erscheinen – die
notabene eine Woche andauern, während der sie täglich vier Stunden Hin- und
Rückweg zurücklegen. Erst 1919 wird Unterstrass die Erlaubnis erhalten, die
Prüfungen unter Aufsicht externer Experten abzunehmen.
Frostig-fromm bis unchristlich
Der Schulalltag ist trotz den säkularisierten Lehrplänen religiös
geprägt: Morgens und abends beten die Schüler in Unterstrass gemeinsam, vor
dem Zubettgehen singen sie Kirchenlieder. Das mag aus heutiger Sicht
christlich-fundamentalistisch anmuten, ist es zu der Zeit aber keineswegs.
Selbst am staatlichen Seminar in Küsnacht finden Morgen- und
Abendandachten statt – wie wohl in den meisten Familien auch.
Manch zeitgenössischem Reformiert-Konservativen scheint die Ausbildung
am Unterstrass sogar allzu weltlich: «Man hat die Bemerkung gemacht, dass unsre
Anstalt weit entfernt sei, eine wahrhaft christliche zu sein», heisst es im
ersten Jahresbericht. Und mit Verweis auf Jesus: «Unser Herr und Meister
habe mit seinen Jüngern weder so viel Musik gemacht noch geturnt.»
Liberaleren Zeitgenossen wiederum machen die Unterstrass-Zöglinge einen
allzu frommen Eindruck, wie sie «gar nicht so vergnügt dreingesehen haben und
überhaupt fast alle den eigenthümlichen pietistischen Typus in Mienen und
Geberden tragen». Während sich die übrigen Festgäste nach der Einweihung des
neuen Schulgebäudes beim «Forstmeister» vergnügt hätten, hätten es die Zöglinge
eher beim «Frostmeister» getan, witzelt der Schreiber 1870.
Lehrberuf als Aufstiegsmöglichkeit
Der erste Jahrgang des Evangelischen Lehrerseminars besteht aus gerade
einmal sechs jungen Männern. Die eintretenden Zöglinge müssen nicht nur
Schulzeugnis, Empfehlungsschreiben und ihren Taufschein vorlegen, sondern unter
anderem auch je sechs Hemden, Strümpfe und Waschtücher mitbringen.
Sie leben zunächst in der Wohnung des ersten Seminardirektors Heinrich
Bachofner und seiner Familie am Kreuzplatz sowie in zwei zugemieteten Zimmern,
ehe sie im Folgejahr ins ehemalige Gasthaus zum «Weissen Kreuz» übersiedeln und
1904 schliesslich das heutige Gebäude im Nürenberggut beziehen. Der
Direktor leitet die Schule nicht nur, sondern berät seine gegenwärtigen und
künftigen Schüler auch in Lebens-, Liebes- und Ehefragen.
Die angehenden Lehrer am Unterstrass stammen nicht allein aus Zürich,
sondern auch aus Schaffhausen, Glarus oder Baselland. Sie sind keinesfalls
bloss Abkömmlinge bürgerlicher oder gutsituierter Familien, sondern im
Gegenteil häufig junge, intelligente «Burschen» vom Land, die den Pfarrern oder
Lehrern in ihren Dörfern als förderungswürdig aufgefallen waren. Sie heissen
Külling, Schaad oder Graf und kommen aus Wilchingen, Oberhallau oder Heiden.
Ihnen bietet sich mit dem Besuch des Lehrerseminars eine Chance zum
sozialen Aufstieg. Ihre Eltern sind «zum grössten Teil Leute, die nur bei
sorgfältigster Einteilung ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen
können», schreibt der damalige Direktor 1948. Man könne nicht «wie irgendeine
Privatschule» beliebig die Einnahmen erhöhen.
Unterstrass, das sich stets als mit Eigenmitteln finanzierte öffentliche
Bildungsinstitution begreift, will bis heute begabte Minderheiten unabhängig
von Portemonnaie und Herkunft fördern – von der Gymnasiumanwärterin mit
Migrationshintergrund bis zum kognitiv Beeinträchtigten, der pädagogisch wirken
möchte.
Jäten und Musizieren
Die Schul- und Wohngemeinschaft am Unterstrass versorgt sich in den
ersten Jahrzehnten nach seiner Gründung weitgehend selbst. Auf dem
Schulgelände ist ein grosser Garten angelegt, in dem Kartoffeln, Karotten oder
Salat angebaut werden, man hält Hühner und Ziegen. Samstags verrichten die
Schüler ihren Gartendienst. Solange, bis die Beete in den 1960er Jahren einer
neuen Turnhalle weichen müssen.
Die Seminaristen werden in den gängigen Schulfächern, aber auch in
Religion sowie im Violin- und Klavierspiel unterrichtet. Ein Mangel an musikalischer
Begabung werde «nur im Falle besondrer Tüchtigkeit in den andern Fächern
übersehen», heisst es in den Aufnahmebedingungen.
Für die nötige Praxiserfahrung richtet man im Parterre eine Übungsschule
ein, in der Kinder aus dem Quartier den Unterricht besuchen. Unterstrass fühlt
sich der auf Rousseau zurückgehenden Schulreformbewegung verpflichtet und
gewichtet das Studium der Natur und das gemeinsame Erleben hoch. Die Zöglinge
werden mit Nachtwanderungen oder von Schülern geleiteten Skilagern zur Gemeinschaft
eingeschworen; bis heute werden sie dazu angeregt, im Schulbetrieb
Verantwortung zu übernehmen.
Stelldichein mit der Seminarmagd
Obwohl es lange keine Lehrerinnen ausbildet, ist Unterstrass nie
komplett frauenfrei: Die Ehefrauen der Direktoren führen als «Hausmütter» die
Hauswirtschaft des Internatsbetriebs, der noch bis 1995 besteht – eine
unentgeltliche, aber prestigeträchtige Tätigkeit für bürgerliche Frauen.
Neben Knechten sind auch Mägde im Hausdienst tätig. 1912 berichtet der
damalige Direktor an den Vater eines Schülers, dass dessen Sohn «eine unserer
Seminarmägde umarmt, geküsst und in den Musiksaal zu einem Stelldichein
bestellt habe», worauf dieser sich mit seiner Einsamkeit rechtfertigt und
damit, dass er «in einem aufrichtigen Gedankenaustausch» mit besagtem Fräulein
«keine Sünde» gesehen habe.
Zwar unterrichtet schon 1870 die erste Lehrerin – natürlich ein
unverheiratetes «Fräulein» – an der seminareigenen Übungsschule «weibliche
Arbeiten» wie Stricken und Nähen. Es folgen ihr weitere Fachlehrerinnen nach,
doch es dauert bis 1933, bis die erste Klassenlehrerin angestellt wird. Am
Lehrerseminar doziert die erste Frau zwei Jahre später – allerdings nur
befristet: Sie leitet die Buchbinde-Woche.
1937 wird schliesslich die erste Seminaristin, eine Pfarrerstochter, zur
Lehrerausbildung zugelassen. Man nimmt die 20-Jährige jedoch nur deshalb auf,
weil sie den Beruf in Missionstätigkeit ausüben will und auf ein Zürcher Patent
verzichtet – also keinem Mann den Ausbildungsplatz «wegnimmt».
Mitarbeit:
Bettina Gross. Die Bildungshistorikerin schreibt an der Universität Zürich eine
Dissertation über die Entwicklung der Institution Unterstrass.edu im
bildungspolitischen Kontext. Sie ist daneben als Dozentin am Institut tätig.
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