13. November 2019

Volksschule braucht offene Reformkultur

Zu recht kritisiert Carl Bossard die wilde Phase des didaktischen Experimentierensder letzten Jahre. Fremdsprachen-Lehrmittel mit völlig neuen Lernkonzepten wurden ohne eigentliche Erprobungsphase eingeführt. Begleitet war die Umstellung durch verlockende Versprechungen vom schnellen Lernerfolg. Schon in der Primarschule würden dank der neuen Methoden die Kinder munter parlieren und einfache Texte bestens verstehen. Lehrerinnen und Lehrer wurden in Weiterbildungskurse geschickt, um die Kinder künftig im intensiven Sprachbad fördern zu können.
Wer schweigt, schadet der Volksschule, 6.11. von Hanspeter Amstutz

Doch das reichte noch nicht. Da die Frage des frühen Lernens zweier Fremdsprachen zu einem Politikum geworden war, wurden auch den Eltern das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Die meisten Bildungspolitiker liessen sich noch so gerne blenden und setzten ganz auf die Karte des vermeintlichen Fortschritts. Wer es als Lehrer in dieser Situation wagte, die ehrgeizigen Bildungsziele zu hinterfragen, musste mit böser Kritik rechnen.

Und nun das: Die jüngsten Studien zeigen, wie miserabel es um die Französischkenntnisse steht. Nur wenige Primarschüler sind überhaupt imstand, am Ende der Mittelstufe eine einfache Konversation in der zweiten Fremdsprache zu führen. Doch das schwache Abschneiden umfasst nicht nur den Fremdsprachenbereich. Auch die Grundkenntnisse vieler Schüler in der Mathematik, wo ebenfalls neue didaktische Wege beschritten wurden, sind völlig ungenügend. Dies hat die lange zurückgehaltene nationale Erhebung zur Ermittlung der mathematischen Kompetenzen in der Volksschule mit überraschender Deutlichkeit gezeigt.

Eigentlich hätten die alarmierenden Resultate ein bildungspolitisches Erdbeben auslösen müssen. Zweifellos waren manche Wissenschafter über die Ergebnisse erschrocken, denn sie hatten wirklich mehr erhofft. Doch einer offenen Diskussion über die eingeschlagenen Reformen stellten sich nur wenige. Noch peinlicher war das Verhalten führender Bildungspolitiker. Sie versuchten, die Ergebnisse zuerst totzuschweigen und später schönzureden. Die einzigen, die in grosser Zahl jetzt auf die Barrikaden stiegen, waren Lehrpersonen. Viele waren erbost, dass man ihre begründeten Bedenken stets als fehlenden Reformwillen interpretiert hatte.

Unsere Volksschule braucht dringend eine offenere Reformkultur. Das beginnt schon in der Konzeptionsphase grosser Neuerungen. Diese dürfen nicht mit einem Tunnelblick auf ein einzelnes Fach oder auf eine Spitzengruppe von Begabten konzipiert werden. Mögliche Nebenwirkungen müssen bedacht und in Erprobungen sorgfältig abgeklärt werden. Dabei gilt es, den anspruchsvollen Dialog zwischen Wissenschaftern und Schulpraktikern wirklich auf Augenhöhe zu führen. Manche Fehlentwicklung könnte so vermieden werden.

Ist es unverschämt zu fordern, dass gemachte Fehler endlich korrigiert und nicht länger verschwiegen werden? Immer mehr Millionen von Franken in Projekte zu stecken, die nicht vom Fleck kommen und nachweislich grossen Schaden hinterlassen, entspricht nicht einem rationalen politischen Handeln. Die Dauerbaustellen sind bestens bekannt, sie reichen von falschen Sprachkonzepten bis zum zermürbenden Einsatz der Heilpädagoginnen beim integrativen Schulmodell.

Doch auch die Lehrerschaft ist gefordert und muss aus der Deckung der brav Ausführenden herauskommen. Aufgrund der Erfahrungen mit gescheiterten Schönwetter-Konzepten und zunehmenden bürokratischen Abläufen ist jede Lehrperson berechtigt, die Praxistauglichkeit von Neuerungen ins Zentrum der Überlegungen zu stellen. Duckmäusertum ist total fehl am Platz, wenn Konzepte sich als unbrauchbar erweisen. Auch die Lehrerverbände sind in der Pflicht, nicht länger zu schweigen. Wie Carl Bossard schreibt, geht es ja nicht um Waren, die Schaden nehmen, sondern um Kinder. Die Zeit ist reif, um die bequeme Gewohnheit des mutlosen Schweigens zu durchbrechen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen