14. Februar 2019

Stern: "30 Prozent gehören nicht ins Gymnasium"

In diesen Wochen fällt für viele Kinder der Entscheid, ob sie ins Gymnasium kommen oder nicht. Kürzlich hat der Schweizer Wissenschaftsrat mit einer Studie aufgeschreckt, dass das Schweizer Schulsystem unsozial sei und Chancengerechtigkeit eine Utopie bleibe. Was ist davon zu halten? Darüber sprechen wir mit Elsbeth Stern. Die 61-jährige renommierte Psychologin hat seit 2006 den Lehrstuhl für empirische Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich inne und leitet das Institut für Verhaltensforschung.
"Wir brauchen die Schlauen", Weltwoche, 14.2. von Katharina Fontana

Frau Stern, laut Schweizer Wissenschaftsrat ist es die soziale Herkunft, die massgeblich darüber entscheidet, wer es ins Gymnasium schafft. Stimmen Sie dem zu?
Ja, ein Kind aus einer Akademikerfamilie hat auch bei nicht sehr ausgeprägter Intelligenz gute Chancen, ins Gymnasium zu kommen, während ein intelligenteres Kind aus einer anderen Familie öfters das Nachsehen hat. Das ist nicht nur ungerecht, sondern schafft auch Probleme. Es ist nicht gut für eine Gesellschaft, wenn sie die Intelligenz und die Denkfähigkeit nicht ausnützt. Das führt dazu, dass man auf zahlreichen verantwortungsvollen Posten Leute hat, die von ihren geistigen Fähigkeiten her nicht dafür gemacht sind.

Warum ist es für Akademikerkinder einfacher, ins Gymnasium zu kommen, selbst wenn sie nicht so intelligent sind? Wieso sind sie beim Übertritt privilegiert?
Für sehr viele Akademikereltern ist die Vorstellung schwer erträglich, dass ihr Kind nicht auf das Gymnasium geht. Sobald sich in der Primarschule zeigt, dass beim Lernen nicht alles glatt läuft, suchen sie nach Unterstützungsmassnahmen. Ich kenne Mütter, die sich im Beruf beurlauben liessen, als die Vorbereitung auf den Übergang anstand. Es gibt zwar einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Schulleistung, aber bei einer mittleren Intelligenz gibt es noch genügend Spielraum für eine kurzfristige Leistungssteigerung.

Während Zürich und Ostschweizer Kantone auf eine Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium setzen, zählen in Kantonen wie Bern die Noten. Welches System ist besser, damit die «richtigen» Kinder den Sprung schaffen?
Die ideale Lösung gibt es nicht. In Kantonen mit Aufnahmeprüfung kann ein Kind, das eigentlich ins Gymnasium gehörte, einen schlechten Tag erwischen und die Prüfung verbocken. Dass Eltern sich gezwungen sehen, ihre Kinder in privat betriebene Lernstudios zur Prüfungsvorbereitung zu schicken, ist zudem ein Unding. Ich habe mir mal die Mathe-Aufgaben angesehen, die den Schülern in Zürich bei der Aufnahmeprüfung vorgelegt werden. Dieser Test hat es wirklich in sich. Selbst Schüler, die im Unterricht zu den Besten zählen, kommen dort an ihre Grenzen und machen Fehler. Ob der Test wirklich ein Korrektiv für die Notengebung ist, müsste man sich sehr genau anschauen.

Wäre es besser, auf solche Tests zu verzichten und allein auf die Noten abzustellen, wie dies die Mehrheit der Kantone tut?
Wenn der Primarschulunterricht gut ist und die Kinder dort wirklich auf hohem Niveau schreiben, lesen und rechnen lernen, dann sollten die Noten die Intelligenz gut abbilden. Doch in der Praxis hat auch dieses System Nachteile. So werden die Lehrer angehalten, nur 20 Prozent der Kinder fürs Gymnasium zu empfehlen. Das heisst, die Noten werden so gegeben, dass gerade 20 Prozent den erforderlichen Durchschnitt erreichen –wenn man in einer tollen Klasse ist, hat man also schlechtere Chancen auf den Übertritt ins Gymnasium als in einer schwachen Klasse. Es kommt hinzu, dass sich die Primarschule zunehmend auf Unterstützung durch das Elternhaus verlässt, indem von den Schülern beispielsweise Powerpoint-Präsentationen verlangt werden oder man sie mit Wochenplänen nach Hause schickt. Mit solchen Ansätzen kann es der Primarschule nicht gelingen, Kinder aus niedrigen sozialen Schichten dazu zu bringen, ihr volles Potenzial zu zeigen.

In der Primarschule gibt es aber sehr viele Fördermassnahmen für Kinder, die aus benachteiligten Familien stammen.
Diese Angebote sind in erster Linie auf Schüler mit eigentlichen Lernschwierigkeiten ausgerichtet. Doch für jene Kinder, die eigentlich ins Gymnasium gehörten, aber ihre Intelligenz aufgrund der familiären Verhältnisse nicht so gut in Schulleistungen umsetzen können, tut man nicht viel. Diese Kinder fallen nicht auf, die gehen ohne Murren auf die Sekundarschule und machen eine solide Berufsbildung. Mir wird oft gesagt: «Es ist doch schön, wenn wir intelligente Handwerker haben.» Ja, sicher, aber wenn wir als Folge davon weniger intelligente Ärzte, Lehrer und Juristen haben, ist das nicht gut. Wir brauchen die Schlauen.

Sie haben es angesprochen: In der Schweiz möchte man, dass nur 20 Prozent der Schüler aufs Gymnasium gehen. Halten Sie das für angemessen?
Ja, es gibt hier viele gute Alternativen. Eine höhere Quote braucht es nicht – nur sollten möglichst die richtigen 20 Prozent ins Gymnasium. Doch heute ist es so, dass die nicht so schlauen Akademikerkinder ihre schlaueren Klassenkameraden blockieren.

Wie gross ist der Anteil der Gymnasiasten, die nicht ins Gymnasium gehören?
Mindestens 30 Prozent der Schüler bringen nicht die nötige Intelligenz mit – und das ist eine vorsichtige Annahme.

Und die stammen aus Akademikerfamilien?
Die Studie, auf die sich der Wissenschaftsrat stützt, zeigt, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien bei vergleichbarer Leseleistung weniger häufig aufs Gymnasium kommen als Akademikerkinder. Ich würde sagen: Wenn ein solches Kind genauso gut lesen kann wie eines aus einer Akademikerfamilie, ist es wahrscheinlich sogar intelligenter.

Sie kommen aus einer Bauernfamilie in Nordhessen und sind heute ETH-Professorin. Spielte die soziale Herkunft früher eine geringere Rolle beim Übertritt?
In meiner Generation war es noch so, dass die Lehrer die begabten Kinder ermutigten, aufs Gymnasium zu gehen. Die Maturaquote lag ja früher tiefer, und man wusste, dass man mehr Akademiker brauchte. Doch das ist vorbei. Heute sind manche Lehrer so damit beschäftigt, den Ansturm abzubremsen, dass ihnen Zeit und Kraft fehlen, bildungsferne Eltern davon zu überzeugen, ihr Kind auf das Gymnasium zu schicken. Wenn die ehrgeizigen Eltern ständig die Klassenarbeiten durchschauen oder bei jedem Test das Kind so weit trimmen, dass es mit dem Übertritt vielleicht doch klappen könnte, gibt man als Lehrer irgendwann auf und denkt sich: «Das Leben wird es dann schon richten.» Und das tut es ja häufig auch. Viele der Kinder, die von zu Hause aus ins Gymnasium gedrängt werden, sind dort fehl am Platz. Zwar kann man auch mit weniger Intelligenz die Matura bestehen und auch die ersten Jahre an der Uni überleben – insbesondere wenn es wie in vielen geisteswissenschaftlichen Studiengängen keine Leistungskontrollen gibt –, aber irgendwann zeigt es sich. Ich kenne Psychotherapeuten, die sich auf die Behandlung von Leuten spezialisiert haben, die vom Elternhaus auf falsche Bildungswege gezwungen wurden.

Der Wissenschaftsrat schlägt vor, den Zeitpunkt der Selektion bis zur neunten Klasse hinauszuschieben. Bis dahin sollen alle zusammenbleiben, das fördere die Chancengerechtigkeit.
Das kann nur gelingen, wenn man den intelligenten Kindern in der Zeit anspruchsvolle Lerngelegenheiten bietet. Für Kinder, die in den ersten sechs Schuljahren schon unterfordert waren, ist es schlimm, wenn sie sich noch zwei Jahre länger langweilen müssen. Wenn man diesen Weg geht, müsste man sicherstellen, dass die Unterrichtsangebote der Begabung entsprechen. Für die Sekundarschule ist es derzeit sehr schwer, wirklich gute Mathematik- und Naturwissenschaftslehrer zu finden. Wenn die Kinder keinen anspruchsvollen Unterricht erhalten, verlieren sie an Potenzial. Sie haben dann zwei Jahre verschenkt, die sie für die Vorbereitung auf ein Universitätsstudium hätten nutzen sollen.

Haben Akademikerkinder a priori einen Startvorteil, weil sie in einem inspirierenden Umfeld aufwachsen?
Nein. Man tut häufig so, als ob bei Akademikern immer alles bestens wäre, während es in einem nichtakademischen Haushalt nur dumpf zugehe. Das ist absurd. Es hängt ja nicht am Geldbeutel, Bücher können sich alle ausleihen und ihren Kindern vorlesen. Zudem sehe ich oft ambitionierte Eltern, die ihre Kinder zu Sachen zwingen, die sicher nichts zu deren Intelligenz beitragen.

Zum Beispiel?
Wenn man Kindern ein volles Programm mit Musikstunden, Ballettunterricht und vielleicht noch Frühenglisch zumutet. Das ist es grade nicht, was die Intelligenz fördert. Kinder entwickeln sich vor allem dann, wenn sie Zeit haben, die Welt zu entdecken und ihren eigenen Interessen nachzugehen. Und die Sprache fördert man auch bei Babys am besten, indem man ihnen die Namen der Alltagsgegenstände nennt – und nicht mit dem Vorlesen von Einsteins Theorien.

Viele Eltern sind stark mit dem Handy beschäftigt – etwa im Tram: Anstatt ihre Aufmerksamkeit dem Kind zu schenken, schauen Mutter oder Vater aufs Handy.
Hier sehe ich eine grosse Gefahr. Kinder lernen Sprache vor allem durch interaktives Zuhören. Wenn man mit ihnen im Tram fährt, sollte man die Zeit nutzen, schauen, wo sie hinschauen, und ihnen die Sachen erklären: «Hier ist die Schlaufe zum Festhalten, dort ist der Halteknopf.» Dieses handlungsbegleitende Sprechen ist für Kinder wichtig. Ich finde es erstaunlich, dass Eltern sich beim Einkaufen, im Tram oder in anderen Alltagssituationen nicht um das Kind kümmern, es nicht anschauen, nicht mit ihm sprechen, sondern auf das Handy starren. Das trägt nicht zur Intelligenzentwicklung bei, im Gegenteil.

Wann im Leben ist man am intelligentesten?
Zwischen achtzehn und achtzig Jahren. Mit achtzehn haben die meisten Menschen ihr individuelles Intelligenzniveau erreicht, und wenn die Gehirnfunktionen nicht durch Krankheiten und Verletzungen beeinträchtigt werden, kann man dieses bis etwa achtzig halten – wobei sich auch diese Grenze langsam ausdehnt.

Viele Gymnasiasten zeigen gute Leistungen in sprachlichen Fächern, in Mathematik sind sie dagegen eine Null. Woran liegt das?
Man wäre nicht aufs Gymnasium gekommen, wenn man eine völlige Null in Mathematik wäre. Wenn man auf Algebra keine Lust hat, lässt das noch lange nicht auf ein Rechendefizit schliessen. Man macht es vielen Schülern und noch mehr den Schülerinnen zu einfach, sich von Mathematik und Naturwissenschaften zu verabschieden und zu sagen: «Ich bin eben sprachbegabt.» Wenn ich am Schweizer Bildungssystem etwas ändern dürfte, dann würde ich hier ansetzen.

Man kann also nicht einseitig intelligent sein?
Es ist nicht möglich, einen hohen IQ zu haben und nicht addieren zu können – das gibt es nicht. Aber man kann sich natürlich entscheiden, sich nicht mehr um Mathematik oder um Physik zu kümmern, weil man das Fach mühsam findet. Anders gesagt: Man kann eine schlechte Mathematiknote haben und trotzdem sehr intelligent sein. Man kann aber nicht sehr intelligent sein und in einem numerischen Mathematiktest, wo es beispielsweise um Zahlenreihen geht, schlecht abschneiden.

Was halten Sie von der Idee, für die Matura eine Mindestnote in Mathematik zu verlangen?
Da wäre ich absolut dafür.

Heute machen mehr Mädchen als Jungs die Matura. Warum?
Ich habe keine endgültige Erklärung, aber eine Hypothese. So wie man im Gymnasium den Mädchen zugesteht, dass sie Mathematik und Physik aufgeben, so gesteht man den Jungs in der Primarschule zu, dass sie nicht genügend lesen. Es wird fast schon als normal angesehen, dass Jungs sich nicht mit Büchern befassen – man ermutigt sie nicht ausreichend, ihre sprachlichen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Man lässt es zu sehr laufen, und das rächt sich dann, wenn es um den Übertritt geht.

Was sagt die Forschung zur Intelligenz von Frau und Mann?
Im mittleren Intelligenzbereich schneiden die beiden Geschlechter gleich ab. Im obersten und im untersten Bereich sind die Männer überrepräsentiert. Es gibt mehr hochbegabte Jungs als hochbegabte Mädchen, aber auch im absoluten Spitzenbereich findet man noch 30 Prozent Mädchen. Sind in einem Studiengang oder an einer Eliteuniversität weniger als 30 Prozent Frauen, sind andere Gründe als die Intelligenz dafür verantwortlich.

Was ist der Grund für die Geschlechtsunterschiede im Extrembereich?
Genau weiss man es noch nicht. Es könnte mit dem X-Chromosom zu tun haben, von denen Männer nur eines haben. Dort sitzen möglicherweise viele Gene, die die Intelligenzentwicklung beeinflussen. In Abhängigkeit von der jeweiligen Genvariation kann sich das besonders negativ oder besonders positiv auswirken.

Damit sind wir bei der Kernfrage: Ist Intelligenz vererbbar?
Ja, Intelligenzunterschiede lassen sich mit genetischen Unterschieden erklären. Aber auch wenn Genvariationen das Intelligenzpotenzial eines Menschen bestimmen, kann sich Intelligenz nur in einer förderlichen Umwelt entwickeln. Zu Intelligenzunterschieden tragen sehr viele Genvariationen bei, die auf unterschiedlichen Chromosomen lokalisiert sind. Sehr intelligente Eltern geben nicht zwangsläufig alle «guten» Genvariationen an ihre Kinder weiter. Das zeigt der sogenannte Regressionseffekt zur Mitte: Die Wahrscheinlichkeit, dass sehr intelligente Eltern Kinder bekommen, die etwas weniger intelligent sind als sie selber, ist grösser als 50 Prozent. Eltern mit hohem IQ stellen also nicht zwangsläufig Kinder mit hohem IQ auf die Welt, und das Umgekehrte gilt auch.

Vor allem aus Amerika ist das Phänomen bekannt, dass Mitglieder der intellektuellen Elite immer mehr unter sich bleiben und sich einen Partner mit ähnlicher Ausbildung suchen. Muss man nicht annehmen, dass diese Gruppen mit der Zeit immer intelligenter werden?

Es ist schon wahrscheinlich, dass aus den Verbindungen Hochintelligenter im Laufe der Jahre weit überdurchschnittlich intelligente Kinder hervorgehen. Doch die Karten werden auch bei solchen Konstellationen von Generation zu Generation neu gemischt, bei der Entscheidung für einen Partner spielen noch viele andere Umstände mit hinein – es handelt sich ja glücklicherweise nicht um eine «Menschenzucht», wie man sie im Dritten Reich mit «Lebensborn» hatte.

Inwieweit spielt die Intelligenz eine Rolle in der Partnerschaft? Wird man glücklicher mit einem ähnlich intelligenten Partner?
Dafür sprechen einige Studien und auch der gesunde Menschenverstand. Intelligenz steuert ja auch die Interessen, und es kann nicht lange gutgehen, wenn der eine immer nur Disco-Ferien auf Mallorca machen möchte und es den anderen in Florentiner Museen zieht. Man darf in einer freien Gesellschaft wie unserer die Tendenz zur Selbstselektion nicht unterschätzen. Die Menschen wählen das, was zum eigenen IQ passt, sowohl beruflich wie privat.


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