In diesen Wochen fällt für
viele Kinder der Entscheid, ob sie ins Gymnasium kommen oder nicht. Kürzlich
hat der Schweizer Wissenschaftsrat mit einer Studie aufgeschreckt, dass das
Schweizer Schulsystem unsozial sei und Chancengerechtigkeit eine Utopie bleibe.
Was ist davon zu halten? Darüber sprechen wir mit Elsbeth Stern. Die 61-jährige
renommierte Psychologin hat seit 2006 den Lehrstuhl für empirische Lehr- und
Lernforschung an der ETH Zürich inne und leitet das Institut für
Verhaltensforschung.
"Wir brauchen die Schlauen", Weltwoche, 14.2. von Katharina Fontana
Frau Stern, laut Schweizer Wissenschaftsrat ist es die soziale
Herkunft, die massgeblich darüber entscheidet, wer es ins Gymnasium schafft.
Stimmen Sie dem zu?
Ja, ein Kind aus
einer Akademikerfamilie hat auch bei nicht sehr ausgeprägter Intelligenz gute
Chancen, ins Gymnasium zu kommen, während ein intelligenteres Kind aus einer
anderen Familie öfters das Nachsehen hat. Das ist nicht nur ungerecht, sondern
schafft auch Probleme. Es ist nicht gut für eine Gesellschaft, wenn sie die
Intelligenz und die Denkfähigkeit nicht ausnützt. Das führt dazu, dass man auf
zahlreichen verantwortungsvollen Posten Leute hat, die von ihren geistigen
Fähigkeiten her nicht dafür gemacht sind.
Warum ist es für Akademikerkinder einfacher, ins Gymnasium zu
kommen, selbst wenn sie nicht so intelligent sind? Wieso sind sie beim
Übertritt privilegiert?
Für sehr viele
Akademikereltern ist die Vorstellung schwer erträglich, dass ihr Kind nicht auf
das Gymnasium geht. Sobald sich in der Primarschule zeigt, dass beim Lernen
nicht alles glatt läuft, suchen sie nach Unterstützungsmassnahmen. Ich kenne
Mütter, die sich im Beruf beurlauben liessen, als die Vorbereitung auf den
Übergang anstand. Es gibt zwar einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und
Schulleistung, aber bei einer mittleren Intelligenz gibt es noch genügend
Spielraum für eine kurzfristige Leistungssteigerung.
Während Zürich und Ostschweizer Kantone auf eine Aufnahmeprüfung
fürs Gymnasium setzen, zählen in Kantonen wie Bern die Noten. Welches System
ist besser, damit die «richtigen» Kinder den Sprung schaffen?
Die ideale Lösung
gibt es nicht. In Kantonen mit Aufnahmeprüfung kann ein Kind, das eigentlich
ins Gymnasium gehörte, einen schlechten Tag erwischen und die Prüfung
verbocken. Dass Eltern sich gezwungen sehen, ihre Kinder in privat betriebene
Lernstudios zur Prüfungsvorbereitung zu schicken, ist zudem ein Unding. Ich
habe mir mal die Mathe-Aufgaben angesehen, die den Schülern in Zürich bei der
Aufnahmeprüfung vorgelegt werden. Dieser Test hat es wirklich in sich. Selbst
Schüler, die im Unterricht zu den Besten zählen, kommen dort an ihre Grenzen
und machen Fehler. Ob der Test wirklich ein Korrektiv für die Notengebung ist,
müsste man sich sehr genau anschauen.
Wäre es besser, auf solche Tests zu verzichten und allein auf die
Noten abzustellen, wie dies die Mehrheit der Kantone tut?
Wenn der
Primarschulunterricht gut ist und die Kinder dort wirklich auf hohem Niveau
schreiben, lesen und rechnen lernen, dann sollten die Noten die Intelligenz gut
abbilden. Doch in der Praxis hat auch dieses System Nachteile. So werden die
Lehrer angehalten, nur 20 Prozent der Kinder fürs Gymnasium zu empfehlen. Das
heisst, die Noten werden so gegeben, dass gerade 20 Prozent den erforderlichen
Durchschnitt erreichen –wenn man in einer tollen Klasse ist, hat man also
schlechtere Chancen auf den Übertritt ins Gymnasium als in einer schwachen
Klasse. Es kommt hinzu, dass sich die Primarschule zunehmend auf Unterstützung
durch das Elternhaus verlässt, indem von den Schülern beispielsweise
Powerpoint-Präsentationen verlangt werden oder man sie mit Wochenplänen nach
Hause schickt. Mit solchen Ansätzen kann es der Primarschule nicht gelingen,
Kinder aus niedrigen sozialen Schichten dazu zu bringen, ihr volles Potenzial
zu zeigen.
In der Primarschule gibt es aber sehr viele Fördermassnahmen für
Kinder, die aus benachteiligten Familien stammen.
Diese Angebote
sind in erster Linie auf Schüler mit eigentlichen Lernschwierigkeiten
ausgerichtet. Doch für jene Kinder, die eigentlich ins Gymnasium gehörten, aber
ihre Intelligenz aufgrund der familiären Verhältnisse nicht so gut in
Schulleistungen umsetzen können, tut man nicht viel. Diese Kinder fallen nicht
auf, die gehen ohne Murren auf die Sekundarschule und machen eine solide
Berufsbildung. Mir wird oft gesagt: «Es ist doch schön, wenn wir intelligente
Handwerker haben.» Ja, sicher, aber wenn wir als Folge davon weniger
intelligente Ärzte, Lehrer und Juristen haben, ist das nicht gut. Wir brauchen
die Schlauen.
Sie haben es angesprochen: In der Schweiz möchte man, dass nur 20
Prozent der Schüler aufs Gymnasium gehen. Halten Sie das für angemessen?
Ja, es gibt hier
viele gute Alternativen. Eine höhere Quote braucht es nicht – nur sollten
möglichst die richtigen 20 Prozent ins Gymnasium. Doch heute ist es so, dass
die nicht so schlauen Akademikerkinder ihre schlaueren Klassenkameraden
blockieren.
Wie gross ist der Anteil der Gymnasiasten, die nicht ins Gymnasium
gehören?
Mindestens 30
Prozent der Schüler bringen nicht die nötige Intelligenz mit – und das ist eine
vorsichtige Annahme.
Und die stammen aus Akademikerfamilien?
Die Studie, auf
die sich der Wissenschaftsrat stützt, zeigt, dass Kinder aus sozial
benachteiligten Familien bei vergleichbarer Leseleistung weniger häufig aufs
Gymnasium kommen als Akademikerkinder. Ich würde sagen: Wenn ein solches Kind
genauso gut lesen kann wie eines aus einer Akademikerfamilie, ist es
wahrscheinlich sogar intelligenter.
Sie kommen aus einer Bauernfamilie in Nordhessen und sind heute
ETH-Professorin. Spielte die soziale Herkunft früher eine geringere Rolle beim
Übertritt?
In meiner
Generation war es noch so, dass die Lehrer die begabten Kinder ermutigten, aufs
Gymnasium zu gehen. Die Maturaquote lag ja früher tiefer, und man wusste, dass
man mehr Akademiker brauchte. Doch das ist vorbei. Heute sind manche Lehrer so
damit beschäftigt, den Ansturm abzubremsen, dass ihnen Zeit und Kraft fehlen,
bildungsferne Eltern davon zu überzeugen, ihr Kind auf das Gymnasium zu
schicken. Wenn die ehrgeizigen Eltern ständig die Klassenarbeiten durchschauen oder
bei jedem Test das Kind so weit trimmen, dass es mit dem Übertritt vielleicht
doch klappen könnte, gibt man als Lehrer irgendwann auf und denkt sich: «Das
Leben wird es dann schon richten.» Und das tut es ja häufig auch. Viele der
Kinder, die von zu Hause aus ins Gymnasium gedrängt werden, sind dort fehl am
Platz. Zwar kann man auch mit weniger Intelligenz die Matura bestehen und auch
die ersten Jahre an der Uni überleben – insbesondere wenn es wie in vielen
geisteswissenschaftlichen Studiengängen keine Leistungskontrollen gibt –, aber
irgendwann zeigt es sich. Ich kenne Psychotherapeuten, die sich auf die
Behandlung von Leuten spezialisiert haben, die vom Elternhaus auf falsche
Bildungswege gezwungen wurden.
Der Wissenschaftsrat schlägt vor, den Zeitpunkt der Selektion bis
zur neunten Klasse hinauszuschieben. Bis dahin sollen alle zusammenbleiben, das
fördere die Chancengerechtigkeit.
Das kann nur
gelingen, wenn man den intelligenten Kindern in der Zeit anspruchsvolle
Lerngelegenheiten bietet. Für Kinder, die in den ersten sechs Schuljahren schon
unterfordert waren, ist es schlimm, wenn sie sich noch zwei Jahre länger
langweilen müssen. Wenn man diesen Weg geht, müsste man sicherstellen, dass die
Unterrichtsangebote der Begabung entsprechen. Für die Sekundarschule ist es
derzeit sehr schwer, wirklich gute Mathematik- und Naturwissenschaftslehrer zu
finden. Wenn die Kinder keinen anspruchsvollen Unterricht erhalten, verlieren
sie an Potenzial. Sie haben dann zwei Jahre verschenkt, die sie für die Vorbereitung
auf ein Universitätsstudium hätten nutzen sollen.
Haben Akademikerkinder a priori einen Startvorteil, weil sie in
einem inspirierenden Umfeld aufwachsen?
Nein. Man tut
häufig so, als ob bei Akademikern immer alles bestens wäre, während es in einem
nichtakademischen Haushalt nur dumpf zugehe. Das ist absurd. Es hängt ja nicht
am Geldbeutel, Bücher können sich alle ausleihen und ihren Kindern vorlesen.
Zudem sehe ich oft ambitionierte Eltern, die ihre Kinder zu Sachen zwingen, die
sicher nichts zu deren Intelligenz beitragen.
Zum Beispiel?
Wenn man Kindern
ein volles Programm mit Musikstunden, Ballettunterricht und vielleicht noch
Frühenglisch zumutet. Das ist es grade nicht, was die Intelligenz fördert.
Kinder entwickeln sich vor allem dann, wenn sie Zeit haben, die Welt zu
entdecken und ihren eigenen Interessen nachzugehen. Und die Sprache fördert man
auch bei Babys am besten, indem man ihnen die Namen der Alltagsgegenstände
nennt – und nicht mit dem Vorlesen von Einsteins Theorien.
Viele Eltern sind stark mit dem Handy beschäftigt – etwa im Tram:
Anstatt ihre Aufmerksamkeit dem Kind zu schenken, schauen Mutter oder Vater
aufs Handy.
Hier sehe ich
eine grosse Gefahr. Kinder lernen Sprache vor allem durch interaktives Zuhören.
Wenn man mit ihnen im Tram fährt, sollte man die Zeit nutzen, schauen, wo sie
hinschauen, und ihnen die Sachen erklären: «Hier ist die Schlaufe zum
Festhalten, dort ist der Halteknopf.» Dieses handlungsbegleitende Sprechen ist
für Kinder wichtig. Ich finde es erstaunlich, dass Eltern sich beim Einkaufen,
im Tram oder in anderen Alltagssituationen nicht um das Kind kümmern, es nicht
anschauen, nicht mit ihm sprechen, sondern auf das Handy starren. Das trägt
nicht zur Intelligenzentwicklung bei, im Gegenteil.
Wann im Leben ist man am intelligentesten?
Zwischen achtzehn
und achtzig Jahren. Mit achtzehn haben die meisten Menschen ihr individuelles
Intelligenzniveau erreicht, und wenn die Gehirnfunktionen nicht durch
Krankheiten und Verletzungen beeinträchtigt werden, kann man dieses bis etwa
achtzig halten – wobei sich auch diese Grenze langsam ausdehnt.
Viele Gymnasiasten zeigen gute Leistungen in sprachlichen Fächern,
in Mathematik sind sie dagegen eine Null. Woran liegt das?
Man wäre nicht
aufs Gymnasium gekommen, wenn man eine völlige Null in Mathematik wäre. Wenn
man auf Algebra keine Lust hat, lässt das noch lange nicht auf ein
Rechendefizit schliessen. Man macht es vielen Schülern und noch mehr den
Schülerinnen zu einfach, sich von Mathematik und Naturwissenschaften zu
verabschieden und zu sagen: «Ich bin eben sprachbegabt.» Wenn ich am Schweizer
Bildungssystem etwas ändern dürfte, dann würde ich hier ansetzen.
Man kann also nicht einseitig intelligent sein?
Es ist nicht
möglich, einen hohen IQ zu haben und nicht addieren zu können – das gibt es
nicht. Aber man kann sich natürlich entscheiden, sich nicht mehr um Mathematik
oder um Physik zu kümmern, weil man das Fach mühsam findet. Anders gesagt: Man
kann eine schlechte Mathematiknote haben und trotzdem sehr intelligent sein.
Man kann aber nicht sehr intelligent sein und in einem numerischen
Mathematiktest, wo es beispielsweise um Zahlenreihen geht, schlecht abschneiden.
Was halten Sie von der Idee, für die Matura eine Mindestnote in
Mathematik zu verlangen?
Da wäre ich
absolut dafür.
Heute machen mehr Mädchen als Jungs die Matura. Warum?
Ich habe keine
endgültige Erklärung, aber eine Hypothese. So wie man im Gymnasium den Mädchen
zugesteht, dass sie Mathematik und Physik aufgeben, so gesteht man den Jungs in
der Primarschule zu, dass sie nicht genügend lesen. Es wird fast schon als
normal angesehen, dass Jungs sich nicht mit Büchern befassen – man ermutigt sie
nicht ausreichend, ihre sprachlichen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Man lässt
es zu sehr laufen, und das rächt sich dann, wenn es um den Übertritt geht.
Was sagt die Forschung zur Intelligenz von Frau und Mann?
Im mittleren
Intelligenzbereich schneiden die beiden Geschlechter gleich ab. Im obersten und
im untersten Bereich sind die Männer überrepräsentiert. Es gibt mehr
hochbegabte Jungs als hochbegabte Mädchen, aber auch im absoluten
Spitzenbereich findet man noch 30 Prozent Mädchen. Sind in einem Studiengang oder
an einer Eliteuniversität weniger als 30 Prozent Frauen, sind andere Gründe als
die Intelligenz dafür verantwortlich.
Was ist der Grund für die Geschlechtsunterschiede im
Extrembereich?
Genau weiss man
es noch nicht. Es könnte mit dem X-Chromosom zu tun haben, von denen Männer nur
eines haben. Dort sitzen möglicherweise viele Gene, die die
Intelligenzentwicklung beeinflussen. In Abhängigkeit von der jeweiligen
Genvariation kann sich das besonders negativ oder besonders positiv auswirken.
Damit sind wir bei der Kernfrage: Ist Intelligenz vererbbar?
Ja,
Intelligenzunterschiede lassen sich mit genetischen Unterschieden erklären.
Aber auch wenn Genvariationen das Intelligenzpotenzial eines Menschen
bestimmen, kann sich Intelligenz nur in einer förderlichen Umwelt entwickeln.
Zu Intelligenzunterschieden tragen sehr viele Genvariationen bei, die auf
unterschiedlichen Chromosomen lokalisiert sind. Sehr intelligente Eltern geben
nicht zwangsläufig alle «guten» Genvariationen an ihre Kinder weiter. Das zeigt
der sogenannte Regressionseffekt zur Mitte: Die Wahrscheinlichkeit, dass sehr
intelligente Eltern Kinder bekommen, die etwas weniger intelligent sind als sie
selber, ist grösser als 50 Prozent. Eltern mit hohem IQ stellen also nicht
zwangsläufig Kinder mit hohem IQ auf die Welt, und das Umgekehrte gilt auch.
Vor allem aus Amerika ist das Phänomen bekannt, dass Mitglieder
der intellektuellen Elite immer mehr unter sich bleiben und sich einen Partner
mit ähnlicher Ausbildung suchen. Muss man nicht annehmen, dass diese Gruppen
mit der Zeit immer intelligenter werden?
Es ist schon
wahrscheinlich, dass aus den Verbindungen Hochintelligenter im Laufe der Jahre
weit überdurchschnittlich intelligente Kinder hervorgehen. Doch die Karten
werden auch bei solchen Konstellationen von Generation zu Generation neu
gemischt, bei der Entscheidung für einen Partner spielen noch viele andere
Umstände mit hinein – es handelt sich ja glücklicherweise nicht um eine
«Menschenzucht», wie man sie im Dritten Reich mit «Lebensborn» hatte.
Inwieweit spielt die Intelligenz eine Rolle in der Partnerschaft?
Wird man glücklicher mit einem ähnlich intelligenten Partner?
Dafür sprechen
einige Studien und auch der gesunde Menschenverstand. Intelligenz steuert ja
auch die Interessen, und es kann nicht lange gutgehen, wenn der eine immer nur
Disco-Ferien auf Mallorca machen möchte und es den anderen in Florentiner
Museen zieht. Man darf in einer freien Gesellschaft wie unserer die Tendenz zur
Selbstselektion nicht unterschätzen. Die Menschen wählen das, was zum eigenen
IQ passt, sowohl beruflich wie privat.
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