Eric Scherer ist Präsident von «Inklusion Aargau»
und Vater einer Tochter mit Trisomie 21. Als Einstieg in die erste
Veranstaltung des neuen Vereins erzählte er aus der Sicht eines Betroffenen,
wie sehr im Aargau die Inklusion noch in den Kinderschuhen stecke. Zwar habe
sich der Regierungsrat zum Grundsatz der Inklusion bekannt.
Jedoch sei die aktuelle Situation im Kanton Aargau
für Kinder mit besonderen Bedürfnissen von Ungewissheit und Willkür geprägt.
«Eltern müssen bereits ab dem ersten Kindergartenjahr Angst haben, dass ihr
Kind nicht in die Regelschulen aufgenommen oder nur reduziert beschult wird»,
sagte Scherer und schilderte, wie seine Tochter erst in den Regelkindergarten
durfte, nachdem er einen Rechtsanwalt eingeschaltet hatte. Dabei sei doch das
Prinzip der Inklusion im Behindertengleichstellungsgesetz von 2004 genau
geregelt; und die Schweiz habe zudem 2014 als 144. Staat die
UNO-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet.
"Inklusive Bildung ist bis auf weiteres ein Kampfgebiet, Aargauer Zeitung, 9.11. von Jörg Meier
Inklusion steckt noch in den Kinderschuhen
Die Realität im Aargau aber sehe anders aus, sagte
Scherer. «In unserem Kanton ist die Inklusion ein Glücksspiel.» So schaffe es
nur jedes zehnte Kind mit Downsyndrom in eine Regelklasse. Entscheidende
Faktoren seien etwa Wille und Ausdauer der Eltern im Kampf gegen die
Bürokratie, ihre finanziellen Möglichkeiten, um sich das Recht erstreiten zu
können, aber vor allem die Haltung von Schulen und Lehrpersonen im Umgang mit
Kindern mit besonderen Bedürfnissen. «Inklusive Bildung ist bis auf weiteres
ein Kampfgebiet», resümierte Scherer.
Rund 50 Interessierte, meist betroffene Eltern oder
Fachleute, besuchten die erste Veranstaltung des Vereins «Inklusion Aargau».
Der Verein will sich für Kinder mit besonderen Bedürfnissen einsetzen, die im
Aargau bisher keine Lobby hatten. Der grosse Besucheraufmarsch bestätige, dass
der Verein einem Bedürfnis entspreche, sagte Vorstandsmitglied Claudia
Casanova, welche die Podiumsdiskussion im «Aarauerhof» in Aarau moderierte.
Sie verstehe die Wut vieler Eltern, sagte Denise
Widmer, Leiterin der Gesamtschule Suhr. Inklusion stecke tatsächlich noch in
den Anfängen. In der Politik sei das Menschenbild noch nicht angekommen;
monetäre Argumente dominierten. «Deshalb darf man nicht einzelne Lehrpersonen
zum Sündenbock machen», sagte Widmer, «es sind die gesellschaftlichen
Voraussetzungen, die Inklusion oft verunmöglichen.» Zudem sei Inklusion nicht
bei jeder Beeinträchtigung möglich.
John Steggerda, Leiter der Pro Infirmis AG/SO, wies
auf den Unterschied zwischen Integration und Inklusion hin: Die Inklusion
bedeute mehr als nur integrative Schulung. Inklusion sei eine andere
Wertorientierung, ein neues Gesellschaftsmodell, das erst im Entstehen sei.
Gian-Claudio Crifo sprach aus der Sicht eines betroffenen Vaters. Er erzählte,
wie belastend es für seinen autistischen Sohn, aber auch für die betroffenen
Eltern sei, wenn es überall heisse «luege mer emol», wenn der Bub irgendwo
mitmachen möchte: in der Regelklasse, in der Bibliothek, beim Fussball.
CVP-Grossrat André Rotzetter spielte den Ball auch
ans Publikum zurück: «An der Situation ist auch das Stimmvolk mitschuldig»,
sagte Rotzetter, denn es habe im Aargau ein Parlament gewählt, das andere
Prioritäten setze. Einig war sich die Runde, dass schulische Inklusion dann
erreicht ist, wenn es die Sonderschule gar nicht mehr braucht. Die Stadt Basel
macht es vor: Dort brauchen heute nur noch gerade 4 Prozent der Kinder eine
separative Schulung. Im Aargau sind es noch immer rund 30 Prozent.
Grossratswahlen bieten die Möglichkeit zur
Korrektur
Für Grossrätin Maya Bally (BDP) ist klar, dass eine
solche «Schule für alle» entsprechende Strukturen, Ressourcen und Lehrpersonen
braucht. «Sonst kann man den Kindern gar nicht gerecht werden», sagte Bally.
Schulleiterin Denise Widmer zeigte auf, wie schwierig Inklusion an der Regelschule
ist, wenn die Ressourcen fehlen, auch wenn die Lehrpersonen sich noch so sehr
einsetzen. Zudem spürten die Schulen den akuten Lehrermangel. «Wir haben über
ein Jahr lang eine schulische Heilpädagogin gesucht», sagte Widmer. «Auf die
Ausschreibung erhielten wir eine einzige Bewerbung. Von einer nicht deutsch
sprechenden Krankenschwester aus Osteuropa.»
Die intensiv geführte Debatte und die zahlreichen
emotionalen Beiträge aus dem Publikum machten an der Podiumsdiskussion klar,
dass da viel Arbeit auf den neuen Verein «Inklusion Aargau» zukommt.
Schulleiterin Denise Widmer, früher auch SP-Grossrätin, gab den Anwesenden
gleich einen ersten Auftrag mit: «Offensichtlich fehlt bisher der politische
Wille im rechtsbürgerlich dominierten Grossen Rat. Nächstes Jahr sind
Grossratswahlen. Ziehen wir die Konsequenzen und stellen wir die Weichen
richtig.»
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