Jochen Krautz:"Das Recht der Kinder auf Bildung wird verletzt". Bild: uk
Ökonomisierung der Kindheit als
Herausforderung für die Schule. Vortrag von Prof. Dr. phil. Jochen Krautz, St.
Gallen, 30. Oktober 2019, Veranstalter: Verein Ostschweizer Kinderärzte &
Ostschweizer Kinderspital, Bericht von Urs Kalberer
Kinder sind
keine Autos
Die
Umwandlung der Schule in einen Zulieferbetrieb für die Industrie – wie von der
UNO-Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) seit
den 1960-er Jahren angestrebt – widerspricht aber der Geschichte und Tradition
unseres Bildungswesens. In der Schule geht es – im Unterschied zur Wirtschaft –
nicht um Kundenzufriedenheit, sondern um einen Bildungsauftrag. Kinder sind
keine Autos, die man nach Standards fertigt. Am Beispiel des
Qualitäts-Managements der Volksschule des Kantons St. Gallen zeigt Krautz, wie
nahe sich die Schule bereits an wirtschaftliche Organisationsformen angenähert
hat. Jede Hierarchiestufe ist verantwortlich für die «Produktion» von Daten (Evaluation, Feedback,
Testsysteme), die weitergereicht werden. Eindrücklich ist
auch, wie in Fragen der Schulqualität die eigentlich zentrale Rolle der
Lehrpersonen zurückgestuft wird. Die Lehrerinnen und Lehrer sind für die «Lernprozesssteuerung»
gemäss den Direktiven von oben zuständig – ihre eigene professionelle Expertise
wird dadurch entwertet. Dabei wissen wir doch, dass pädagogische Qualität nicht
durch Bürokratisierung und Formalisierung erreicht werden kann.
Wie konnte
es soweit kommen?
Dass es nicht einfach ist, eine
jahrhundertealte pädagogische Tradition umzukehren, zeigen die Strategien, die
dabei angewendet werden. Die Initialzündung lieferte PISA: Um den Druck auf die
staatlichen Bildungswesen zu erhöhen, wurden in den Mitgliedstaaten Testserien durchgeführt,
welche grundverschiedene Schulsysteme ohne Rücksicht auf ihre Lehrpläne in
bestimmten, wirtschaftlich relevanten Fähigkeiten vergleichen. Die Wirkung der
breit in den Medien veröffentlichten Resultate verstärkte den Anpassungsdruck
auf die nationalen Bildungswesen. Fortan gilt es, im Wettbewerb zwischen den Ländern
mitzuhalten. Demokratisch legitimierte Lehrpläne werden durch
kompetenzorientierte ersetzt, wobei der Fokus auf der praktischen Anwendbarkeit
des Stoffes liegt. Dazu werden die Lerninhalte in Tausende von Kompetenzen zerstückelt,
welche alle einzeln überprüfbar sind. Dieser Paradigmenwechsel vom
ganzheitlichen, humanistisch geprägten Bildungsideal zu einem funktionalen Bildungsbegriff
erfolgte auch in einem Land wie der Schweiz mit ihren ausgebauten Volksrechten
nahezu reibungslos.
Als weitere Etappenziele in dieser
Entwicklung erwähnt Krautz Methoden wie Classroom Walkthrough und dem aus der
Wirtschaft bekannten Change Management. Beide Techniken sollen durch
manipulativen Druck den Widerstand der Lehrer brechen. Wer Fragen stellt, wird an
den Pranger gestellt und gilt als Ewiggestriger. In den Kollegien werden Angst
und eine Kultur der vorauseilenden Anpassung erzeugt. Aus selbständig denkenden,
zur kritischen Reflexion fähigen Lehrkräften entstehen so Marionetten der
Bildungsbürokratie. Die staatlichen Bildungswesen werden nun von ausserstaatlichen,
der demokratischen Kontrolle entrückten, Institutionen konkurrenziert, welche
die angestrebten Veränderungen jeweils als alternativlos bezeichnen.
Begleitet wird der Wechsel von schönfärberischen,
inflationär verwendeten Begriffen wie Individualisierung und
selbstorganisiertes Lernen. Man denkt, jedes Kind werde nun individuell
gefördert, doch in Wirklichkeit werden die Kinder separiert, jedes lernt nun
allein am Wochenplan oder am Computer. Es wird eben gerade nicht
individualisiert, sondern sozial atomisiert. Die für das Lernen unabdingbare
Beziehungs-Komponente wird unterbrochen. Beim selbstorganisierten Lernen findet
gar kein gemeinsamer Unterricht mehr statt. Es bildet eine Vorstufe zur Digitalisierung
im Grossraumbüro mit gegenseitiger Kontrolle. Die Hauptaufgabe der Lehrer
beschränkt sich dabei noch auf das Kopieren und die Hilfestellung bei
Computerproblemen. Die inhaltlichen Inputs werden als digitale Häppchen in
unterschiedlichen Zeitintervallen an die einzelnen Schüler weitergereicht.
Gefährdete
Demokratie
Die oben genannten Veränderungen im
Unterricht haben Folgen: Die Lehrer werden zu blossen Coaches degradiert und
deprofessionalisiert. Ihre pädagogische Freiheit (Methoden, Lehrmittel) wird
eingeschränkt. Die Förderung rein anwendungsbezogener Inhalte führt zu einem
Abbau von Wissen und Können bei den Schülern. Dabei werden ausgerechnet die
Schwachen geschwächt. Wer es sich leisten kann, bedient sich ausserhalb der öffentlichen
Schule: Privatschulen, Nachhilfeunterricht und vermehrte elterliche
Unterstützung sind die Folge. Unsere anspruchsvolle direkte Demokratie benötigt
Bürger, welche die elementaren Kulturtechniken beherrschen. Eine transparente
Bildungspolitik ohne manipulative Gängelung wird so zum staatstragenden Akt.
Was tun?
Angesichts der ernsten Lage müssen wir
Lehrerinnen und Lehrer uns auf unsere Professionalität besinnen und uns nicht durch
Kopien aus Management-Seminaren zu Befehlsempfängern degradieren lassen. Wir
als Lehrer und Lehrerinnen sind gefordert unsere Position mit Selbstvertrauen
und Beharrlichkeit gegenüber den Steuerungsorganen zu erklären. Die Kunst des
Unterrichtens erfordert in erster Linie die Freiheit, unser Wissen und Können
auch anzuwenden. Oder wie Carl Bossard zusammenfasst: «Wer den Gebrauch der
Freiheit fürchtet, ist ihr heimlicher Gegner. Man muss sich Freiheit nehmen.
Man muss sie wollen und sie erkämpfen – erst recht in ungewissen und
bedrohlichen Zeiten.»
Abbildung: Rahmenbedingungen Aufsicht und Schulqualität Kanton St. Gallen.
Quelle: Amt für Volksschule SG
Markus
Mendelin, Change Management bei der Einführung des Lehrplans 21 im Kanton
Thurgau
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