12. August 2015

Change Management am Beispiel des Lehrplans 21

Die Bildungsverantwortlichen in den kantonalen Erziehungsdirektionen haben es während Jahren versäumt, ihre mündigen Lehrerinnen und Lehrer mit stichhaltigen und einsichtigen Argumenten von der Überlegenheit des neuen Lehrplans 21 zu überzeugen. Die unentwegt behauptete Unverzichtbarkeit der Kompetenzorientierung bleibt für viele aufgeklärte Lehrpersonen dubios. Lapidare Erklärungsversuche zeugen von der despektierlichen Haltung gegenüber dem Intellekt der Lehrerschaft.








Matthias Burchardt: "Lehrer sollen mental umprogrammiert werden", Bild: Bildung-Wissen.eu


Wie mit "Change Management" kritische Lehrerkollegen auf Linie gebracht werden sollen, von Fritz Tschudi, 10.8.





In Wahrheit pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Die Kompetenzorientierung hat sich weder bei Lehrplänen noch im entsprechenden Unterricht bewährt. Alarmierende Signale, vor allem aus Deutschland, sind für Interessierte zwar nicht zu überhören, trotzdem nehmen unseren Medien keine Notiz davon und selbst der LCH verzichtet aus naheliegenden Gründen auf dieses Thema.

Die Reformrhetoriker werden trotz allem nicht müde, unentwegt das gleiche zu proklamieren, dass nämlich keine Reform gegen den Willen der Lehrerschaft möglich sei und dass kein Weg an der Kompetenzorientierung vorbei führe. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass gerade die Umsetzung des LP21 zum Musterbeispiel für eine faktisch erzwungene Massnahme werden könnte. Wie kann aber ein drohendes Desaster am ehesten vermieden werden?- Ganz einfach: Man mache Böcke zu Gärtnern! – Das  ist ein wesentliches Element des „Change Management“.

Matthias Burchardt, Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie der Universität Köln, nimmt in einem Interview unter dem Titel Change, Reform und Wandel u.a. zu diesem  Thema Stellung, welchem der folgende Auszug entnommen ist.
(Hervorhebungen F. Tschudi)

„Change Management bedeutet, dass die beteiligten Menschen - also Mitarbeiter eines Unternehmens oder ein Lehrerkollegium - mit Psychotechniken mental umprogrammiert werden sollen, so dass sie Dinge, die sie möglicherweise aus guten Gründen ablehnen, nicht nur akzeptieren, sondern sich sogar zu eigen machen und anschliessend selbst mit vorantreiben. Die Change-Agenten wenden sich dabei nicht an den anderen Menschen als eine freie und urteilsfähige Person, sondern unterlaufen geschickt dessen Freiheit und Urteilskraft - eine klare Verletzung der Menschenwürde.

Im äusserst sehenswerten Film "Work hard - Play hard" von Carmen Losmann verkündet eine DHL-Führungskraft, sie wolle Mitarbeiter verändern und ihnen den Change in die DNA einschreiben. Tatsächlich geht es um die Einpflanzung von Eigenschaften, Sicht- und Handlungsweisen. Ein gewaltiges Umerziehungsprogramm, wenn man so will. Im Hintergrund stehen dabei die Erkenntnisse aus der Gruppendynamik von Kurt Lewin, der festgestellt hatte, dass die Veränderung von Personen besser gelingt, wenn sie nicht von einer sichtbaren Autorität angestossen wird, sondern durch subtilen weil unsichtbaren Gruppendruck erzeugt wird.

Lewin unterscheidet 3 Phasen des Change: Zunächst muss die Integrität der Personen aufgebrochen werden, damit sie bereit sind, sich zu verändern. "Unfreezing" nennt er das. Danach werden die neuen Konzepte etabliert, also der "Change" im engeren Sinne. Und schliesslich werden diese Muster verfestigt, damit der Change auch nachhaltig ist. "Refreezing" heisst das dann.
Hätten Sie vielleicht ein konkretes Beispiel parat?
Ja, ich komme einfach auf die Schweiz, die ich kürzlich bereist habe, zurück. Aufschlussreich ist hier vor allem ein Dokument, das man als eine Art Leitfaden von offizieller Stelle entnehmen kann, wie man zögerliche oder widerspenstige Kollegien im Kanton Thurgau auf die Linie des "Lehrplan" 21 bringen will.
Als erster Schritt der Auftau-Phase wird dabei angeraten, den Leidensdruck unter den Lehrern zu erhöhen - "Ziele so anspruchsvoll setzen, dass sie mit bisherigem Verhalten nicht erreicht werden können." - und "Das 'Schön-Wetter-Gerede' (zu) unterbinden (Alles ist doch bestens …)". Dann soll ein neues Führungsteam entwickelt und installiert werden, eine Koalition der Willigen, wenn man so will: "Zusammenstellen einer Koalition, die den Wandel verwirklichen kann. Die richtigen Leute auswählen, die richtigen Leute für die Zukunft (nicht der Vergangenheit)." Und in dieser Dynamik aus Druck und Propaganda wird als Zielsetzung ausgegeben: "Lehrerinnen und Lehrer begeistern sich für den Lehrplan 21 und setzen ihn um“,  wobei als Konfliktpotential ausgewiesen wird: "Die über 50-jährigen Lehrpersonen gewöhnen sich an nichts Neues." Als wäre die Transformation einer Schulkultur eine Sache von Gewöhnung und nicht des politischen Diskurses, der niemanden ausschliessen darf.
Die skizzierten Strategien der Organisationsentwicklung durch Change Management dürften vielen Lehrern und Hochschulkollegen bekannt vorkommen. Insbesondere bei der Durchsetzung des Bologna-Prozesses sind auf diese Weise vielfältig Strukturen, Prozeduren und Personen verändert worden. Und viele der Kritiker sind bis heute kaltgestellt als Leute der Vergangenheit.
Burchardt: Mir geht es nicht darum, Ohnmachtsgefühle auszulösen. Davon profitieren nur die selbsternannten Reformer! Sobald ich aber die Strategien und Ziele verstehe, haben die Change-Profis aber keine uneingeschränkte Macht mehr über mich. Wenn ich weiss, dass im Bücherregal der Schulleitung Bücher zum Change im Lehrerkollegium stehen, kann ich die Angriffe auf die Schuldemokratie frühzeitig erkennen und abwehren.“ (Ende Auszug)

Es bleibt zu hoffen, dass die Lehrpersonen Indoktrinationsversuchen aus den eigenen Reihen nicht allzu leicht erliegen. Überzeugungen, welche auf dem Boden der Erfahrung und guter Argumente gewachsen sind, bilden als Teil der Persönlichkeit eine sinngebende Schranke, welche nicht respektlos niedergerissen werden darf – auch nicht auf Befehl von oben! Begeisterten Agitatoren ist es selbstverständlich unbenommen, ihre Überzeugungen im eigenen Unterricht umzusetzen und sich darüber nach Belieben austauschen. Was die gezielte Beeinflussung der Kolleginnen und Kollegen im Sinne des Change Managements betrifft, müssten aber zumindest die Warnlampen aufleuchten. Es sei daran erinnert, dass es einzig die Praktiker an der Schulfront sind, welche Erfolge vorzeigen müssen und Misserfolge zu rechtfertigen haben. Die Konstrukteure des Lehrplans 21 haften dagegen in keiner Weise für ihr „Produkt“. Die möglichen Versager stehen mit oder ohne Change von vornherein fest.

Burchardt: „Entscheidend dabei ist, dass sich das Kollegium nicht spalten lässt und selbst auf die Verfahrenshoheit achtet. Denn nur eine Stärkung der demokratischen Kultur kann diesen Tendenzen etwas entgegensetzen. Ich bin im Grunde sehr optimistisch, weil die Menschen glücklicherweise aus dem politischen Schlummer aufwachen und zunehmend Erfolge durch politisches Engagement zu feiern sind.“

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