20. Oktober 2019

Lernbegleiter oder Lehrerpersönlichkeiten


Die Zukunft unserer Volkschule hängt weitgehend davon ab, wieweit brav ausführende Lernbegleiter oder selbständig handelnde Lehrerpersönlichkeiten die Schulen prägen werden.
Andere Vorstellungen von gutem Unterricht, 19.10. von Hanspeter Amstutz


Erprobte Erfolgswege statt didaktischer Dschungelpfade
Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf attraktiven Unterricht durch kompetente Lehrpersonen. Schulstunden sollen nicht einfach dahinplätschern oder nur an Bildschirmen stattfinden. Doch wie sieht das konkret aus, wenn ein anspruchsvolles Thema den Schülern schmackhaft präsentiert werden soll?

Die Aufgabe lautet, den gesellschaftlichen Zustand Europas in der Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs den Schülern näherzubringen. Ich kann ihnen Quellentexte aus Lehrmitteln vorlegen und Textstellen markieren lassen, welche Aufschluss über das Leben von damals geben. Angeleitetes Forschen ist heute didaktischer Standard, kommt aber bei vielen Schülern nicht an oder erweist sich als sehr aufwändig. Warum nicht die Bildungsziele in eine spannende Fortsetzungsgeschichte über mehrere Geschichtslektionen verpacken? Die Tragödie der Titanic bietet sich geradezu an, um während einer Woche die Fahrt auf dem Unglücksriesen mitzuerleben.

In Southampton steigen wir an Bord und beobachten, wer das Fallreep hochsteigt und wie unterschiedlich die Passagiere in den streng getrennten Decks untergebracht sind. Eindrückliches Bildmaterial ist in Hülle und Fülle vorhanden. Beim Schildern bin ich ganz auf dem Schiff, und es ist nicht schwierig, die Jugendlichen für einen Rundgang an Bord zu holen. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich, die neuste Technik mit drahtloser Morsetelegraphie oder die gigantische Maschinenanlage mit den hart arbeitenden Männern im Kesselraum sorgen für gespannte Aufmerksamkeit.

Ich breche hier die Schilderung ab. Die nachfolgende Dramatik der Unglücksfahrt sorgt für eine anhaltende Grundspannung. Sobald es gelingt, Jugendliche für ein konzentriertes Mitverfolgen eines lebendigen Geschehens zu gewinnen, öffnet sich der Zugang zu den Bildungszielen von selbst. In den dialogischen Lektionsteilen zeigt sich, welche bedeutenden Zusammenhänge die Schüler erkannt haben und wie viele interessante Details abgespeichert wurden.

Unterschätzte Dynamik des gemeinsamen Trainierens
Das alles tönt penetrant nach Frontalunterricht, werden sicher einige einwenden. Stimmt, nur verdeckt das ziemlich bösartige Wort Frontalunterricht die grossartigen Möglichkeiten, die in einem gemeinsamen Klassenunterricht stecken. Dieser umfasst weit mehr als unterhaltsame narrative Sequenzen. Er bildet vielmehr die eigentliche Grundlage für das anregende Miteinander beim Lernen. Die Lehrperson ist dabei aufs Höchste gefordert, das dynamische Geschehen im Klassenverband geschickt zu steuern und mit richtigen Impulsen die Schüler zu ermutigen. Dies gilt ganz besonders für das formale Training, sei es beim Einüben von sprachlichen Strukturen oder beim Vertrautwerden mit dem Zahlenraum.

Dass dieses aufbauende Üben völlig zu Unrecht in Verruf geraten ist, zeigen die schwachen Resultate mit dem spielerischen Sprachbad-Konzept im Fremdsprachenunterricht. Was da in den Nordwestschweizer Kantonen mit den neuen Passepartout-Lehrmitteln den Lehrpersonen und Schülern zugemutet wird, übersteigt die generelle Akzeptanz didaktischer Wege bei Weitem. Hätte man etwas mehr auf die Stimmen der Schulpraktiker gehört, wäre das teure Debakel vermeidbar gewesen.

Ein Kapitän ist kein Schiffsbegleiter
Mir schaudert bei der Vorstellung, dass das Erlebnis des gemeinsamen Übens durch individuelles Arbeiten am Bildschirm in einem zum Grossraumbüro umfunktionierten Schulzimmer verdrängt werden könnte. Einem Erfolgstrainer im Fussball käme es auch nicht in den Sinn, das Training seiner Spieler via Bildschirme zu lenken und kaum Präsenz zu zeigen. Selbstverständlich kann ich bei Projektarbeiten in meiner Lehrerrolle vom Kapitän zum Navigationsoffizier oder bei Bedarf gar zum Schiffsarzt wechseln. Doch wie die Erfahrung zeigt, gelingt dieser Wechsel zum Lernbegleiter am besten, wenn die Schüler wissen, was der Kapitän grundsätzlich erwartet. Nur in Klassen, wo dies klar ist, können die neuen Lernformen auf fruchtbaren Boden fallen und wirklich erfreuliche Resultate hervorbringen.

Es wäre ein krasses Missverständnis zu glauben, dass ein vor der Klasse stehender Lehrer seine eigene Person in den Vordergrund rücken müsse. Beim fairen Üben stehen Schulstoff und Schüler im Zentrum und nicht die Lehrperson. Die Schüler erwarten aber wie bei einem guten Schiedsrichter, dass er die gemeinsamen Grundregeln ohne viel Aufhebens durchsetzt und die Bildungsziele klar im Auge behält. Geschieht dies nicht, rebellieren Buben als erste und verweigern eine konstruktive Mitarbeit. Wenn sie aber eine sichere Führung spüren und auch ein gewisser Wettbewerbsgeist im Unterricht zugelassen wird, ist die Leistungsbereitschaft in der Regel erfreulich.

Mit Fachkompetenz und Musse Begeisterung wecken
Schülerinnen und Schüler wollen aber keinesfalls graue Mäuse als Lehrpersonen. Jugendliche schätzen vielmehr Lehrerpersönlichkeiten, die in ihren Fachbereichen etwas verstehen. Schüler merken sofort, wo ein Lehrer etwas zu bieten hat. Haben Schüler das Glück, Zoologiestunden bei einem Amphibienkenner oder passionierten Schlangenkundler zu erleben, wird der Funke der Begeisterung rasch auf die Klasse überspringen. Dies gilt für den gesamten Realienunterricht. Die Breite der Stofffülle im Sachunterricht erlaubt es, dass die Lehrpersonen dort im Gegensatz zu den stark programmorientierten Fächern in aller Freiheit prägende Akzente setzen können.

Leider schränkt der vollgestopfte Lehrplan diese gestalterische Freiheit heute stark ein. Zudem findet durch die ergebnisorientierte Fokussierung auf PISA und andere Vergleichstests eine Konzentration auf die einfacher überprüfbaren Hauptfächer statt. Die spannenden Realienfächer geraten so mehr und mehr ins Hintertreffen. Zwar zählt der Lehrplan auf, was alles in den Nebenfächern behandelt werden könnte, doch alle wissen, dass dafür die Zeit bei Weitem nicht reicht. Lehrpersonen fühlen sich zusehends als Ausführende, die vorgeschriebene Bildungsprogramme zu erfüllen haben.

Vorstellungen über guten Unterricht mutiger vertreten
Wir alle kennen Lehrerinnen und Lehrer, die den Mut haben, ihre Stoffvermittlung aufs Wesentliche zu konzentrieren und einen Freiraum für die vielseitigen Nebenfächer zu sichern. Wer mit seiner Klasse ein grossartiges Musical aufführt oder die moderne Geschichte der Schweiz den Schülern farbig näherbringt, wird zwar keine PISA-Ehrenmeldung bekommen. Aber er wird das untrügliche Gefühl haben, das Richtige getan zu haben. Und die Schülerinnen und Schüler werden dies schätzen.

Schade nur, dass erfahrenere Lehrerinnen und Lehrer ihren pädagogisch konsequenten Weg allzu oft im Alleingang bewältigen. Das hilft den jüngeren Kolleginnen und Kollegen, die zurzeit arg unter Druck stehen, nur wenig. Nicht starre Dogmen und bis ins Detail vorgeschriebene Lehrpläne sind für eine gute Schule wegleitend, sondern unternehmerische Freiheiten und mehr Vertrauen ins Können der Lehrpersonen. Liebe engagierte Kolleginnen und Kollegen, rührt die Trommel und sagt laut, worauf es aufgrund eurer Erfahrung in unserem schönen Beruf wirklich ankommt.

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