Die
Zukunft unserer Volkschule hängt weitgehend davon ab, wieweit brav ausführende
Lernbegleiter oder selbständig handelnde Lehrerpersönlichkeiten die Schulen
prägen werden.
Andere Vorstellungen von gutem Unterricht, 19.10. von Hanspeter Amstutz
Erprobte Erfolgswege statt didaktischer
Dschungelpfade
Schülerinnen
und Schüler haben ein Recht auf attraktiven Unterricht durch kompetente Lehrpersonen.
Schulstunden sollen nicht einfach dahinplätschern oder nur an Bildschirmen
stattfinden. Doch wie sieht das konkret aus, wenn ein anspruchsvolles Thema den
Schülern schmackhaft präsentiert werden soll?
Die
Aufgabe lautet, den gesellschaftlichen Zustand Europas in der Zeit vor Ausbruch
des Ersten Weltkriegs den Schülern näherzubringen. Ich kann ihnen Quellentexte
aus Lehrmitteln vorlegen und Textstellen markieren lassen, welche Aufschluss
über das Leben von damals geben. Angeleitetes Forschen ist heute didaktischer
Standard, kommt aber bei vielen Schülern nicht an oder erweist sich als sehr
aufwändig. Warum nicht die Bildungsziele in eine spannende
Fortsetzungsgeschichte über mehrere Geschichtslektionen verpacken? Die Tragödie
der Titanic bietet sich geradezu an, um während einer Woche die Fahrt auf dem
Unglücksriesen mitzuerleben.
In
Southampton steigen wir an Bord und beobachten, wer das Fallreep hochsteigt und
wie unterschiedlich die Passagiere in den streng getrennten Decks untergebracht
sind. Eindrückliches Bildmaterial ist in Hülle und Fülle vorhanden. Beim
Schildern bin ich ganz auf dem Schiff, und es ist nicht schwierig, die
Jugendlichen für einen Rundgang an Bord zu holen. Die Gegensätze zwischen Arm
und Reich, die neuste Technik mit drahtloser Morsetelegraphie oder die
gigantische Maschinenanlage mit den hart arbeitenden Männern im Kesselraum
sorgen für gespannte Aufmerksamkeit.
Ich
breche hier die Schilderung ab. Die nachfolgende Dramatik der Unglücksfahrt
sorgt für eine anhaltende Grundspannung. Sobald es gelingt, Jugendliche für ein
konzentriertes Mitverfolgen eines lebendigen Geschehens zu gewinnen, öffnet
sich der Zugang zu den Bildungszielen von selbst. In den dialogischen
Lektionsteilen zeigt sich, welche bedeutenden Zusammenhänge die Schüler erkannt
haben und wie viele interessante Details abgespeichert wurden.
Unterschätzte Dynamik des gemeinsamen
Trainierens
Das alles
tönt penetrant nach Frontalunterricht, werden sicher einige einwenden. Stimmt,
nur verdeckt das ziemlich bösartige Wort Frontalunterricht die grossartigen
Möglichkeiten, die in einem gemeinsamen Klassenunterricht stecken. Dieser
umfasst weit mehr als unterhaltsame narrative Sequenzen. Er bildet vielmehr die
eigentliche Grundlage für das anregende Miteinander beim Lernen. Die Lehrperson
ist dabei aufs Höchste gefordert, das dynamische Geschehen im Klassenverband
geschickt zu steuern und mit richtigen Impulsen die Schüler zu ermutigen. Dies
gilt ganz besonders für das formale Training, sei es beim Einüben von
sprachlichen Strukturen oder beim Vertrautwerden mit dem Zahlenraum.
Dass
dieses aufbauende Üben völlig zu Unrecht in Verruf geraten ist, zeigen die
schwachen Resultate mit dem spielerischen Sprachbad-Konzept im
Fremdsprachenunterricht. Was da in den Nordwestschweizer Kantonen mit den neuen
Passepartout-Lehrmitteln den Lehrpersonen und Schülern zugemutet wird,
übersteigt die generelle Akzeptanz didaktischer Wege bei Weitem. Hätte man
etwas mehr auf die Stimmen der Schulpraktiker gehört, wäre das teure Debakel
vermeidbar gewesen.
Ein Kapitän ist kein Schiffsbegleiter
Mir
schaudert bei der Vorstellung, dass das Erlebnis des gemeinsamen Übens durch
individuelles Arbeiten am Bildschirm in einem zum Grossraumbüro
umfunktionierten Schulzimmer verdrängt werden könnte. Einem Erfolgstrainer im
Fussball käme es auch nicht in den Sinn, das Training seiner Spieler via
Bildschirme zu lenken und kaum Präsenz zu zeigen. Selbstverständlich kann ich
bei Projektarbeiten in meiner Lehrerrolle vom Kapitän zum Navigationsoffizier
oder bei Bedarf gar zum Schiffsarzt wechseln. Doch wie die Erfahrung zeigt,
gelingt dieser Wechsel zum Lernbegleiter am besten, wenn die Schüler wissen,
was der Kapitän grundsätzlich erwartet. Nur in Klassen, wo dies klar ist,
können die neuen Lernformen auf fruchtbaren Boden fallen und wirklich
erfreuliche Resultate hervorbringen.
Es wäre
ein krasses Missverständnis zu glauben, dass ein vor der Klasse stehender
Lehrer seine eigene Person in den Vordergrund rücken müsse. Beim fairen Üben
stehen Schulstoff und Schüler im Zentrum und nicht die Lehrperson. Die Schüler
erwarten aber wie bei einem guten Schiedsrichter, dass er die gemeinsamen
Grundregeln ohne viel Aufhebens durchsetzt und die Bildungsziele klar im Auge
behält. Geschieht dies nicht, rebellieren Buben als erste und verweigern eine
konstruktive Mitarbeit. Wenn sie aber eine sichere Führung spüren und auch ein
gewisser Wettbewerbsgeist im Unterricht zugelassen wird, ist die
Leistungsbereitschaft in der Regel erfreulich.
Mit Fachkompetenz und Musse Begeisterung wecken
Schülerinnen
und Schüler wollen aber keinesfalls graue Mäuse als Lehrpersonen. Jugendliche
schätzen vielmehr Lehrerpersönlichkeiten, die in ihren Fachbereichen etwas
verstehen. Schüler merken sofort, wo ein Lehrer etwas zu bieten hat. Haben
Schüler das Glück, Zoologiestunden bei einem Amphibienkenner oder passionierten
Schlangenkundler zu erleben, wird der Funke der Begeisterung rasch auf die
Klasse überspringen. Dies gilt für den gesamten Realienunterricht. Die Breite
der Stofffülle im Sachunterricht erlaubt es, dass die Lehrpersonen dort im
Gegensatz zu den stark programmorientierten Fächern in aller Freiheit prägende
Akzente setzen können.
Leider
schränkt der vollgestopfte Lehrplan diese gestalterische Freiheit heute stark
ein. Zudem findet durch die ergebnisorientierte Fokussierung auf PISA und
andere Vergleichstests eine Konzentration auf die einfacher überprüfbaren
Hauptfächer statt. Die spannenden Realienfächer geraten so mehr und mehr ins
Hintertreffen. Zwar zählt der Lehrplan auf, was alles in den Nebenfächern
behandelt werden könnte, doch alle wissen, dass dafür die Zeit bei Weitem nicht
reicht. Lehrpersonen fühlen sich zusehends als Ausführende, die vorgeschriebene
Bildungsprogramme zu erfüllen haben.
Vorstellungen über guten Unterricht mutiger vertreten
Wir alle
kennen Lehrerinnen und Lehrer, die den Mut haben, ihre Stoffvermittlung aufs
Wesentliche zu konzentrieren und einen Freiraum für die vielseitigen
Nebenfächer zu sichern. Wer mit seiner Klasse ein grossartiges Musical aufführt
oder die moderne Geschichte der Schweiz den Schülern farbig näherbringt, wird
zwar keine PISA-Ehrenmeldung bekommen. Aber er wird das untrügliche Gefühl
haben, das Richtige getan zu haben. Und die Schülerinnen und Schüler werden
dies schätzen.
Schade
nur, dass erfahrenere Lehrerinnen und Lehrer ihren pädagogisch konsequenten Weg
allzu oft im Alleingang bewältigen. Das hilft den jüngeren Kolleginnen und
Kollegen, die zurzeit arg unter Druck stehen, nur wenig. Nicht starre Dogmen
und bis ins Detail vorgeschriebene Lehrpläne sind für eine gute Schule
wegleitend, sondern unternehmerische Freiheiten und mehr Vertrauen ins Können
der Lehrpersonen. Liebe engagierte Kolleginnen und Kollegen, rührt die Trommel
und sagt laut, worauf es aufgrund eurer Erfahrung in unserem schönen Beruf
wirklich ankommt.
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