20. Oktober 2019

Die Pamirschulen


Ein normales Klassenzimmer, Linoleumboden, Neonlicht, Stifte liegen auf den Pulten, an den Wänden hängen Kinderzeichnungen. Und im Regal steht die Box mit den Ohrenschützern. Den Pamir kennt man aus dem Militär, wo er das Trommelfell gegen Lärm von knatternden Sturmgewehren und explodierenden Handgranaten schützt. Heute gehört er zum Inventar in vielen Schweizer Klassenzimmernund schützt die Schüler vor lärmiger Hektik und einem Schulklima, das die Zürcher Lehrerin Yasmine Bourgeois als «Bahnhofsstimmung» bezeichnet.
Wichtiges Schulgerät: Der Gehörschutz

Lärmschutz im Klassenzimmer, Sonntagszeitung, 20.10. von Nadja Pastega

«Heute herrscht in vielen Klassen ein Kommen und Gehen», sagt Bourgeois. Ständig würden Schüler einzeln aus der Klasse geholt, um ein spezielles Förderprogramm zu besuchen. «Die Schüler gehen in die Logopädie, in die Psychomotorik oder ins Deutsch für Fremdsprachige», sagt Bourgeois. «Alles während der regulären Unterrichtszeit. Das schafft Unruhe im Klassen-zimmer. Viele Schüler haben Mühe, konzentriert zu arbeiten, und setzen sich einen Gehörschutz auf.»

Bourgeois, die auf der Mittelstufe 10-bis 12-Jährige unterrichtet, hatte schon eine Klasse, in der mehr als die Hälfte der Schüler «besondere Bedürfnisse» hatte, wie es im Fachjargon heisst. «Hinzu kommt, dass sehr oft auch noch eine Heilpädagogin, eine Klassenassistenz oder ein Zivildienstleistender im Schulzimmer ist, um einem Kind etwas zu erklären», sagt Bourgeois. «Es ist extrem störend, wenn jemand ständig redet, während die anderen Schüler zum Beispiel konzentriert Rechenaufgaben machen sollen.» Abhilfe schafft der lärmdämpfende Pamir.

Gehörschutz kommt in der «Stillarbeitsphase» zum Einsatz
Kein Wunder, fürchten Eltern um das Wohl ihrer Kinder. Barbara Beckenbauer aus Zürich, Mutter von zwei Kindern, kennt das Klima in den Schulzimmern. «Es herrscht oft eine wahnsinnige Unruhe», sagt sie. Es gehöre heute zum «Standard», dass die Schüler mit einem Gehörschutz ausgerüstet würden. In einigen Schulzimmern seien zudem Trennwände montiert, damit die Kinder nicht laufend abgelenkt würden, sagt Beckenbauer. «Als Elternatmet man auf, wenn das eigene Kind aus der Volksschule draussen ist.»

Schüler, die mit Ohrenschützern im Klassenzimmer sitzen, gibt es nicht nur in der Stadt Zürich. Das «Phänomen» ist laut Dani Kachel, Präsident des Sekundarlehrkräfte-Vereins SekZH, auch andernorts im Kanton Zürich bekannt. Der Gehörschutz werde zum Beispieleingesetzt, «wenn Schüler eine Prüfung absolvieren müssen, während andere Schüler im Klassenzimmer miteinander kommunizieren.» Auch in Basel werden Primar- und Sekundarschüler mit einem Gehörschutz ausgerüstet, sagt Jean-Michel Héritier von der Freiwilligen Schulsynode Basel-Stadt. Der «Konzentrationsverstärker» werde vor allem in der «Stillarbeitsphase» eingesetzt.

Ein Fünftel mehr Kinder-Ohrenschützer hat der Internethändler Gehoerschutz-shop.ch in den ersten neun Monaten 2019 verkauft, verglichen mit dem Vorjahr, sagt Geschäftsführer Tobias Studer. «Die Bestellungen kommen zum grössten Teil von Schulen.»

Mit Lärmschutz lernen
so hatte es die Bildungspolitik nicht geplant. Als 2004 das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft trat, gaben die Schulreformer ein grosses Versprechen ab: Alle Kinder sollen gemeinsam lernen, unabhängig von Behinderungen, Lernproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten. Doch in der Praxis bringt der gemeinsame Schulbesuch das Schulsystem an Grenzen.

Nebeneinander schafft «zum Teil chaotische Verhältnisse»
Wie gross die Integrationsaufgabe der Schulen ist, zeigen Zahlen aus der Stadt Zürich. Von den32 500 Volksschülern wurde bei fast jedem Fünften ein besonderer Förderbedarf diagnostiziert. Konkret: 2919 Schüler besuchen ein sonderpädagogisches Angebot, zum Beispiel, weil sie eine Lese- oder Rechenschwäche haben. 3716 Kinder sitzen in einer logopädischen oder psychomotorischen Therapie. Hinzu kommen 346 Sonderschüler mit einer körperlichen oder kognitiven Behinderung, die ebenfalls in den normalen Regelklassenlernen sollen. Weitere 8869 Schüler besuchen «Deutsch für Fremdsprachige».

Es sei heute schlicht «unmöglich», dass alle Kinder demselben Lernstoff folgen würden, sagt Lehrerin Bourgeois. Durch die Sondersettings würden die betroffenen Kinder zudem ständig Schulstunden verpassen. «Man muss ihnen den Stoff nachträglich erklären, während der Rest der Klasse mit anderen Aufgaben beschäftigt ist», sagt Bourgeois. Dieses Nebeneinander von verschiedenen Tätigkeiten schaffe «zum Teil chaotische Verhältnisse».

Auch für Marion Völger, Chefin des Volksschulamts des Kantons Zürich, ist der Unterricht von heterogenen Klassen «anspruchsvoll». «Unsere Lehrpersonen werden aber darauf in ihrer Ausbildung gut vorbereitet», sagt Völger. Untersuchungen hätten zudem gezeigt, «dass die Integration keine negativen Auswirkungen auf die Lernleistungen der stärkeren Mitschülerinnen und Mitschüler hat», sagt Völger. «Der integrative Unterricht  ist insgesamt erfolgreich.»


Das sehen Praktiker anders. «Wir machen einem Teil unserer Kinder damit keinen Gefallen», sagt Yasmine Bourgeois. «Unter der Situation leiden gerade die durchschnittlichen Schulkinder, weil die Aufmerksamkeitsspanne von Lehrpersonen nun mal beschränkt ist und sie ihre Kräfte automatisch auf die schwächsten Schülerinnen und Schüler konzentrieren.»

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