Ein
normales Klassenzimmer, Linoleumboden, Neonlicht, Stifte liegen auf den Pulten,
an den
Wänden
hängen Kinderzeichnungen. Und im Regal steht die Box mit den Ohrenschützern. Den
Pamir kennt man aus dem Militär, wo er das Trommelfell gegen Lärm von
knatternden
Sturmgewehren und explodierenden Handgranaten schützt. Heute gehört er zum
Inventar in
vielen
Schweizer Klassenzimmern – und
schützt die Schüler vor lärmiger Hektik und einem
Schulklima, das die Zürcher
Lehrerin Yasmine Bourgeois als «Bahnhofsstimmung» bezeichnet.
Wichtiges Schulgerät: Der Gehörschutz
Lärmschutz im Klassenzimmer, Sonntagszeitung, 20.10. von Nadja Pastega
«Heute
herrscht in vielen Klassen ein Kommen und Gehen», sagt Bourgeois. Ständig würden
Schüler einzeln aus der Klasse geholt, um ein spezielles Förderprogramm zu
besuchen. «Die
Schüler gehen in die Logopädie, in die Psychomotorik oder ins Deutsch für
Fremdsprachige»,
sagt Bourgeois. «Alles während der regulären Unterrichtszeit. Das scha fft
Unruhe im Klassen - zimmer.
Viele Schüler haben Mühe,
konzentriert zu arbeiten, und setzen sich einen Gehörschutz auf.»
Bourgeois,
die auf der Mittelstufe 10- bis
12 - Jährige
unterrichtet, hatte schon eine Klasse, in
der mehr als die Hälfte der Schüler «b esondere
Bedürfnisse» hatte, wie es im Fachjargon
heisst. «Hinzu kommt, dass sehr oft auch noch eine Heilpädagogin, eine
Klassenassistenz oder
ein Zivildienstleistender im Schulzimmer ist, um einem Kind etwas zu erklären»,
sagt
Bourgeois. «Es ist extrem st örend,
wenn jemand ständig
redet, während die anderen Schüler zum Beispiel konzentriert
Rechenaufgaben machen sollen.» Abhilfe schafft der lärmdämpfende Pamir.
Gehörschutz kommt in der «Stillarbeitsphase»
zum Einsatz
Kein
Wunder, fürchten Eltern um das Wohl
ihrer Kinder. Barbara Beckenbauer aus Zürich,
Mutter von zwei Kindern, kennt das Klima in den Schulzimmern. «Es herrscht oft
eine
wahnsinnige Unruhe», sagt sie. Es gehöre heute zum «Standard», dass die Schüler
mit einem
Gehörschutz ausgerüstet würden. In
einigen Schulzimmern seien zudem Trennwände
montiert, damit die Kinder nicht laufend abgelenkt würden, sagt Beckenbauer.
«Als Eltern atmet
man auf, wenn das eigene Kind aus der Volksschule draussen ist.»
Schüler,
die mit Ohrenschützern im Klassenzimmer sitzen,
gibt es nicht nur in der Stadt
Zürich. Das «Phänomen» ist laut Dani Kachel, Präsident des Sekundarlehrkräfte - Vereins
SekZH, auch andernorts im Kanton Zürich bekannt. Der Gehörschutz werde zum
Beispiel eingesetzt,
«wenn Schüler eine Prüfung absolviere n
müssen, während andere Schüler im
Klassenzimmer miteinander kommunizieren.» Auch in Basel werden Primar -
und
Sekundarschüler mit einem Gehörschutz ausgerüstet, sagt Jean - Michel
Héritier von der
Freiwilligen Schulsynode Basel - Stadt.
Der «Konzentrations verstärker»
werde vor allem in der «Stillarbeitsphase»
eingesetzt.
Ein
Fünftel mehr Kinder- Ohrenschützer
hat der Internethändler Gehoerschutz - shop.ch
in den
ersten neun Monaten 2019 verkauft, verglichen mit dem Vorjahr, sagt
Geschäftsführer Tobias
Studer. «D ie
Bestellungen kommen
zum grössten Teil von Schulen.»
Mit
Lärmschutz lernen
–so
hatte es die Bildungspolitik nicht geplant. Als 2004 das
Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft trat, gaben die Schulreformer ein
grosses
Versprechen ab: Alle Kinder solle n
gemeinsam lernen, unabhängig von Behinderungen,
Lernproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten. Doch in der Praxis bringt der
gemeinsame
Schulbesuch das Schulsystem an Grenzen .
–
Nebeneinander schafft «zum Teil chaotische
Verhältnisse»
Wie gross
die Integrationsaufgabe
der Schulen ist, zeigen Zahlen aus der Stadt Zürich. Von den 32
500 Volksschülern wurde bei fast jedem Fünften ein besonderer Förderbedarf
diagnostiziert. Konkret: 2919 Schüler besuchen ein sonderpädagogisches Angebot,
zum
Beispiel, weil sie e ine
Lese -
oder Rechenschwäche haben. 3716 Kinder sitzen in einer
logopädischen oder psychomotorischen Therapie. Hinzu kommen 346 Sonderschüler
mit
einer körperlichen oder kognitiven Behinderung, die ebenfalls in den normalen
Regelklassen lernen
sollen. Wei tere
8869 Schüler besuchen «Deutsch für Fremdsprachige».
Es sei
heute schlicht «unmöglich», dass alle Kinder demselben Lernstoff folgen würden,
sagt
Lehrerin Bourgeois. Durch die Sondersettings würden die betroffenen Kinder
zudem ständig
Schulstunden verpa ssen.
«Man muss ihnen den Stoff nachträglich erklären, während der Rest
der Klasse mit anderen Aufgaben beschäftigt ist», sagt Bourgeois. Dieses
Nebeneinander von
verschiedenen Tätigkeiten schaffe «zum Teil chaotische Verhältnisse».
Auch für
Marion Völger,
Chefin des Volksschulamts des Kantons Zürich, ist der Unterricht von
heterogenen Klassen «anspruchsvoll». «Unsere Lehrpersonen werden aber darauf in
ihrer
Ausbildung gut vorbereitet», sagt Völger. Untersuchungen hätten zudem gezeigt,
«dass die
Integratio n
keine negativen Auswirkungen auf die Lernleistungen der stärkeren
Mitschülerinnen und Mitschüler hat», sagt Völger. «Der integrative Unterrich t
ist insgesamt erfolgreich.»
Das sehen
Praktiker anders. «Wir machen einem Teil unserer Kinder damit keinen Gefallen»,
sagt Yasmine Bourgeois. «Unter der Situation leiden gerade die durchschnittlichen Schulkinder,
weil die Aufmerksamkeitsspanne von Lehrpersonen nun mal beschränkt ist und
sie ihre Kräfte automatisch auf die schwächsten Schülerinnen und Schüler konzentrieren.»
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