2. Oktober 2019

Kindergarten nicht noch weiter verschulen


Gingen Sie, werte Leserin, werter Leser, noch in die «Gvätterlischuel» oder schon in den «Chindsgi»? Abgesehen von einer ungefähren Generationenzuschreibung des Sprechenden offenbaren diese Mundartausdrücke für den Kindergarten auch dessen gesellschaftlichen Stellenwert. «Erwachsene, die sich spielend zu Kindern herablassen», erläutert das Schweizerische Idiotikon den Ausdruck «gvätterle». Das Zürichdeutsche Wörterbuch ergänzt: «etwas ohne Ernst betreiben». Beim verniedlichenden «Chindsgi» schwingt ebenfalls wenig Achtung vor dieser Institution mit. Nicht viel besser ergeht es den dort tätigen Frauen – die Unterrichtenden sind zu 98 Prozent weiblich –, die in den Köpfen vieler ein bisschen Bauklötze stapeln, Papierstreifen kleistern oder mit Fingerpuppen eine nette Geschichte erzählen.
Der Kindergarten darf ruhig wieder mehr zur "Gvätterlischuel" werden, NZZ, 2.10. von Lena Schenkel


Dabei sind diese Aktivitäten alles andere als triviale Beschäftigungstherapie. Vor allem das freie Spiel ist in diesem Alter essenziell für vielfältige Lernprozesse. Beim Bauklötzestapeln trainieren Kinder ihre motorischen Fähigkeiten und ihr räumliches Denken. Sie lernen, sich selbständig zu beschäftigen, oder stärken im Spiel mit anderen ihre sozialen Kompetenzen. Die Schule, genauer die Unterstufe, könnte viel von diesen im Kindergarten praktizierten spielerischen und individualisierten Lernformen profitieren.

Bildungspolitisch ist der Wert des Kindergartens längst anerkannt, und es ist wissenschaftlich erwiesen, wie wichtig die ersten Lebensjahre für die kindliche und schulische Entwicklung sind. Besuchten Zürcher Kleinkinder diese «Vorschule» lange freiwillig, ist sie seit 2008 obligatorisch. Seither ist der Kindergarten in die Volksschule eingegliedert und markiert den Eintritt in die Bildungslaufbahn. Die traditionelle Kindergarten-Trias «Betreuung, Erziehung, Bildung» – die bereits in der Bezeichnung der ersten, 1830 in Zürich eröffneten Schweizer «Kleinkinderschule» mitschwingt – hat sich allerdings zunehmend hin zur Bildung verlagert. Die einstigen «Gvätterlitanten» und Kindergärtnerinnen fördern die Kinder professionell, erlernen ihren Beruf an einer Hochschule und heissen heute offiziell Lehrpersonen für den Kindergarten.

Aus pädagogischer Sicht eine Grundstufe
Durch diese Integration ist der Kindergarten formell näher an die Primarschule gerückt. Seit zehn Jahren können sich angehende Lehrerinnen und Lehrer in Zürich gleichzeitig für die Kindergarten- und die Unterstufe ausbilden. Eine Grundstufe, wie sie Schulgemeinden in Bern, Luzern, Glarus oder Appenzell fakultativ führen dürfen, lehnte Zürich 2012 ab. Seit den Versuchen mit dieser hat der Kindergarten in Zürich die Scheu vor der Schule aber etwas verloren; so wurde etwa das Schreib- und Rechenverbot aufgehoben.

Im interkantonal harmonisierten Lehrplan 21 erlebt die Grundstufe seit letztem Schuljahr insofern ein Revival, als die beiden Kindergarten- und die ersten beiden Primarschuljahre zusammen den ersten von drei Lernzyklen bilden. Im Zyklus 1 sind bestimmte gemeinsame Kompetenzen definiert, welche die Kinder dort lernen sollen. So sollen sie an dessen Ende zum Beispiel im Fach Deutsch Buchstaben und Laute verbinden können oder im Fachbereich Mathematik Begriffe wie grösser/kleiner oder am meisten / am wenigsten verwenden.

Auf dem Papier ist der Kindergarten also ein vollwertiger Teil der Schule, und die Kindergärtnerinnen sind vollwertige Mitglieder der jeweiligen Schulteams. Ganz anders präsentiert sich das Bild, das eine kürzlich von der Zürcher Bildungsdirektion veröffentlichte Situationsanalyse der Stufe zeichnet. Die wissenschaftliche Untersuchung von zwanzig Kindergärten, kombiniert mit einer Umfrage unter allen Kindergärtnerinnen, zeigt: Der Kindergarten ist in der Zürcher Volksschule bis heute ein Fremdkörper geblieben, sowohl systemisch als auch pädagogisch und oft auch räumlich. Die Lehr- und Fachpersonen auf Kindergartenstufe sind auch bei gleicher Ausbildung schlechter entlöhnt als ihre Kollegen der Unterstufe und arbeiten nicht systematisch mit diesen zusammen.

Lohnangleichung auf Stufe Primarlehrer richtig
Dass die Bildungsdirektion nun Kindergärtnerinnen mit kombinierter Ausbildung eine Lohnklasse höher einstufen und damit Primarlehrern gleichstellen will, ist ein wichtiger erster Schritt. Angesichts des Lehrermangels auf dieser Stufe ist es dringend notwendig, den Beruf attraktiver zu machen – hoffentlich zunehmend auch für Männer. Unschön ist freilich, dass zwei Drittel der Kindergärtnerinnen vorerst leer ausgehen würden, weil sie über keine kombinierte oder gar keine Hochschulausbildung verfügen. Betroffen sind vor allem ältere und erfahrene Lehrkräfte, die ihre Ausbildungen noch an Lehrerseminaren absolvierten. Dabei sollten gerade sie möglichst lange im Beruf gehalten werden. Bleibt zu hoffen, dass die geplante Nachqualifizierung für sie so schlank ausfallen wird wie angedacht.

Unbestritten ist, dass die Anforderungen an ihren Beruf hoch und in den letzten Jahren noch gestiegen sind. Im Kindergarten treffen erstmals alle Kinder eines Quartiers aufeinander und bilden eine sehr durchmischte Lerngruppe. Gemeinsam ist den Kindern bloss ihr Alter, nicht ihr Entwicklungsstand. Kommt hinzu: Sie werden aufgrund des Schülerwachstums immer mehr, wegen des harmonisierten Schuleintritts immer jünger und wegen der Inklusion immer heterogener. Leichter wird die Aufgabe der Kindergärtnerinnen dadurch nicht, alle gleichermassen fit für die Primarschule zu machen.

Jammern auf hohem Niveau
Doch sind auch die Anforderungen an die Primarlehrer, mit denen sich die Kindergärtnerinnen stets vergleichen, gestiegen; ebenso an viele andere Berufe, vom Pflegefachmann bis zur Polizistin. Lohntechnisch jammern Kindergärtnerinnen auf hohem Niveau: In ihrer gegenwärtigen Lohnklasse sind auch Architektinnen, Gerichtsschreiber oder Psychologinnen eingereiht, und mit einem Einstiegsgehalt von mindestens 76 000 Franken dürfen in der Privatwirtschaft längst nicht alle Bachelor-Absolventen rechnen. Ganz zu schweigen von den deutlich schlechter bezahlten Betreuerinnen im Frühbereich, die es mit ähnlich heterogenen Kindergruppen und herausfordernden Arbeitsbedingungen zu tun haben.

Ausserdem sollten manche Kindergärtnerinnen vielleicht ihre Erwartungshaltung überdenken. In Österreich gehen die Kinder mit zweieinhalb, in Deutschland mit drei Jahren in den Kindergarten. Anstatt resignativ zu beklagen, was die Kinder beim Kindergarteneintritt mit vier alles noch nicht können, könnten sie es ihren konstruktiv handelnden Kolleginnen gleichtun und Spiel- und Lernumgebungen sowie Didaktik den veränderten Bedingungen anpassen. Dasselbe gilt freilich für Primarlehrer, die sich bewusst sein müssen, dass die Kinder heute beim Schuleintritt jünger und mitunter unreifer sind.

Entsprechend wichtig wäre es, dass sich Kindergärtnerinnen mit Primarlehrern – und genauso übrigens mit Kleinkindbetreuerinnen oder anderen Fachkräften im Frühbereich – austauschen. Dadurch verbesserte sich das gegenseitige Verständnis für die Anforderungen der jeweiligen Stufen. Das wiederum erleichterte den Kindern und ihren Eltern den Kindergarten- und den Primarschuleintritt. Laut dem neuen Monitoring-Bericht findet eine solche Kooperation noch zu wenig oder zu informell statt. Die Bildungsdirektion plant deshalb folgerichtig ein entsprechendes Schnittstellenprojekt.

Keine weitere Verschulung bitte
Trotz diesen notwendigen Annäherungen sollte der Bildungsaspekt im Kindergarten nicht übermarchen. Die bereits bei der Grundstufendiskussion geäusserte Befürchtung, dass sich die Leistungslogik der Schule auf den Kindergarten überträgt, erweist sich mit Blick auf die Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 als nicht ganz unbegründet. Von der Betreuungs- und Erziehungsaufgabe des Kindergartens ist dort nämlich keine Rede. Dabei sollten Pädagogik und Didaktik des Kindergartens genauso in die Volksschule einfliessen wie bisher umgekehrt. Vereinfacht gesagt: Statt den Kindergarten weiter zu verschulen, sollte die Schule spielerischer und kindgerechter werden.

Dies gilt es besonders bei der geplanten Verschmelzung der Aus- und Weiterbildungen der beiden Stufen zu beachten. Der Kanton will nämlich nicht nur die kombinierte Ausbildung stärken, sondern auch die reine Kindergartenausbildung abschaffen. Das ergibt im Hinblick auf die gemäss Lehrplan zu vermittelnden Kompetenzen Sinn, die sich die Stufen des ersten Zyklus teilen. Es dürfte auch den Lehrermangel abschwächen, da die Unterrichtenden flexibel auf beiden Stufen eingesetzt werden können.

Doch es birgt die Gefahr einer weiteren Akademisierung des Berufs, da der prüfungsfreie Zugang zur Kindergartenausbildung mit einem Fach- oder Diplommittelschulabschluss künftig nicht mehr vorgesehen ist. Obwohl der Kanton damit Bestrebungen auf Bundesebene nachkommen möchte, wird das in Zürich noch zu reden geben. Zumindest die höheren Ausbildungskosten betreffend würde die Grundstufe so quasi durch die Hintertür eingeführt.

Umso wichtiger ist es, dass Politikerinnen und Kindergartenlehrpersonen auf die Chancen der nächsten Integrationsetappe fokussieren und auf mehr Wertschätzung für diese Eingangsstufe pochen. Schliesslich sollte auch die Gesellschaft anerkennen, dass es nicht per se schlecht sein muss, etwas spielerisch und ohne Ernst zu tun. Dann darf der Kindergarten im positiven Sinn ein idyllischer Tollgarten bleiben, an den sich künftige Schülergenerationen hoffentlich nicht als «Zyklus 1» erinnern werden.

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