Gingen Sie, werte Leserin, werter Leser, noch in die «Gvätterlischuel»
oder schon in den «Chindsgi»? Abgesehen von einer ungefähren
Generationenzuschreibung des Sprechenden offenbaren diese Mundartausdrücke für
den Kindergarten auch dessen gesellschaftlichen Stellenwert. «Erwachsene, die
sich spielend zu Kindern herablassen», erläutert das Schweizerische Idiotikon
den Ausdruck «gvätterle». Das Zürichdeutsche Wörterbuch ergänzt: «etwas ohne
Ernst betreiben». Beim verniedlichenden «Chindsgi» schwingt ebenfalls wenig
Achtung vor dieser Institution mit. Nicht viel besser ergeht es den dort
tätigen Frauen – die Unterrichtenden sind zu 98 Prozent weiblich –, die in den
Köpfen vieler ein bisschen Bauklötze stapeln, Papierstreifen kleistern oder mit
Fingerpuppen eine nette Geschichte erzählen.
Der Kindergarten darf ruhig wieder mehr zur "Gvätterlischuel" werden, NZZ, 2.10. von Lena Schenkel
Dabei sind diese Aktivitäten alles andere als triviale Beschäftigungstherapie.
Vor allem das freie Spiel ist in diesem Alter essenziell für vielfältige
Lernprozesse. Beim Bauklötzestapeln trainieren Kinder ihre motorischen
Fähigkeiten und ihr räumliches Denken. Sie lernen, sich selbständig zu
beschäftigen, oder stärken im Spiel mit anderen ihre sozialen Kompetenzen. Die
Schule, genauer die Unterstufe, könnte viel von diesen im Kindergarten
praktizierten spielerischen und individualisierten Lernformen profitieren.
Bildungspolitisch ist der Wert des Kindergartens längst anerkannt, und
es ist wissenschaftlich erwiesen, wie wichtig die ersten Lebensjahre für die
kindliche und schulische Entwicklung sind. Besuchten Zürcher Kleinkinder diese
«Vorschule» lange freiwillig, ist sie seit 2008 obligatorisch. Seither ist der
Kindergarten in die Volksschule eingegliedert und markiert den Eintritt in die
Bildungslaufbahn. Die traditionelle Kindergarten-Trias «Betreuung, Erziehung,
Bildung» – die bereits in der Bezeichnung der ersten, 1830 in Zürich eröffneten
Schweizer «Kleinkinderschule» mitschwingt – hat sich allerdings zunehmend hin
zur Bildung verlagert. Die einstigen «Gvätterlitanten» und Kindergärtnerinnen
fördern die Kinder professionell, erlernen ihren Beruf an einer Hochschule und
heissen heute offiziell Lehrpersonen für den Kindergarten.
Aus pädagogischer Sicht eine
Grundstufe
Durch diese Integration ist der Kindergarten formell näher an die
Primarschule gerückt. Seit zehn Jahren können sich angehende Lehrerinnen und
Lehrer in Zürich gleichzeitig für die Kindergarten- und die Unterstufe
ausbilden. Eine Grundstufe, wie sie Schulgemeinden in Bern, Luzern, Glarus oder
Appenzell fakultativ führen dürfen, lehnte Zürich 2012 ab. Seit den Versuchen
mit dieser hat der Kindergarten in Zürich die Scheu vor der Schule aber etwas
verloren; so wurde etwa das Schreib- und Rechenverbot aufgehoben.
Im interkantonal harmonisierten Lehrplan 21 erlebt die Grundstufe seit
letztem Schuljahr insofern ein Revival, als die beiden Kindergarten- und die
ersten beiden Primarschuljahre zusammen den ersten von drei Lernzyklen bilden.
Im Zyklus 1 sind bestimmte gemeinsame Kompetenzen definiert, welche die
Kinder dort lernen sollen. So sollen sie an dessen Ende zum Beispiel im Fach
Deutsch Buchstaben und Laute verbinden können oder im Fachbereich Mathematik
Begriffe wie grösser/kleiner oder am meisten / am wenigsten verwenden.
Auf dem Papier ist der Kindergarten also ein vollwertiger Teil der
Schule, und die Kindergärtnerinnen sind vollwertige Mitglieder der jeweiligen
Schulteams. Ganz anders präsentiert sich das Bild, das eine kürzlich von der
Zürcher Bildungsdirektion veröffentlichte Situationsanalyse der Stufe zeichnet.
Die wissenschaftliche Untersuchung von zwanzig Kindergärten, kombiniert mit
einer Umfrage unter allen Kindergärtnerinnen, zeigt: Der Kindergarten ist in
der Zürcher Volksschule bis heute ein Fremdkörper geblieben, sowohl systemisch
als auch pädagogisch und oft auch räumlich. Die Lehr- und Fachpersonen auf
Kindergartenstufe sind auch bei gleicher Ausbildung schlechter entlöhnt als
ihre Kollegen der Unterstufe und arbeiten nicht systematisch mit diesen
zusammen.
Lohnangleichung auf Stufe
Primarlehrer richtig
Dass die Bildungsdirektion nun Kindergärtnerinnen mit kombinierter
Ausbildung eine Lohnklasse höher einstufen und damit Primarlehrern
gleichstellen will, ist ein wichtiger erster Schritt. Angesichts des
Lehrermangels auf dieser Stufe ist es dringend notwendig, den Beruf attraktiver
zu machen – hoffentlich zunehmend auch für Männer. Unschön ist freilich, dass
zwei Drittel der Kindergärtnerinnen vorerst leer ausgehen würden, weil sie über
keine kombinierte oder gar keine Hochschulausbildung verfügen. Betroffen sind
vor allem ältere und erfahrene Lehrkräfte, die ihre Ausbildungen noch an
Lehrerseminaren absolvierten. Dabei sollten gerade sie möglichst lange im Beruf
gehalten werden. Bleibt zu hoffen, dass die geplante Nachqualifizierung für sie
so schlank ausfallen wird wie angedacht.
Unbestritten ist, dass die Anforderungen an ihren Beruf hoch und in den
letzten Jahren noch gestiegen sind. Im Kindergarten treffen erstmals alle
Kinder eines Quartiers aufeinander und bilden eine sehr durchmischte
Lerngruppe. Gemeinsam ist den Kindern bloss ihr Alter, nicht ihr
Entwicklungsstand. Kommt hinzu: Sie werden aufgrund des Schülerwachstums immer
mehr, wegen des harmonisierten Schuleintritts immer jünger und wegen der
Inklusion immer heterogener. Leichter wird die Aufgabe der Kindergärtnerinnen
dadurch nicht, alle gleichermassen fit für die Primarschule zu machen.
Jammern auf hohem Niveau
Doch sind auch die Anforderungen an die Primarlehrer, mit denen sich die
Kindergärtnerinnen stets vergleichen, gestiegen; ebenso an viele andere Berufe,
vom Pflegefachmann bis zur Polizistin. Lohntechnisch jammern Kindergärtnerinnen
auf hohem Niveau: In ihrer gegenwärtigen Lohnklasse sind auch Architektinnen,
Gerichtsschreiber oder Psychologinnen eingereiht, und mit einem Einstiegsgehalt
von mindestens 76 000 Franken dürfen in der Privatwirtschaft längst nicht
alle Bachelor-Absolventen rechnen. Ganz zu schweigen von den deutlich schlechter
bezahlten Betreuerinnen im Frühbereich, die es mit ähnlich heterogenen
Kindergruppen und herausfordernden Arbeitsbedingungen zu tun haben.
Ausserdem sollten manche Kindergärtnerinnen vielleicht ihre
Erwartungshaltung überdenken. In Österreich gehen die Kinder mit zweieinhalb,
in Deutschland mit drei Jahren in den Kindergarten. Anstatt resignativ zu
beklagen, was die Kinder beim Kindergarteneintritt mit vier alles noch nicht
können, könnten sie es ihren konstruktiv handelnden Kolleginnen gleichtun und Spiel-
und Lernumgebungen sowie Didaktik den veränderten Bedingungen anpassen.
Dasselbe gilt freilich für Primarlehrer, die sich bewusst sein müssen, dass die
Kinder heute beim Schuleintritt jünger und mitunter unreifer sind.
Entsprechend wichtig wäre es, dass sich Kindergärtnerinnen mit
Primarlehrern – und genauso übrigens mit Kleinkindbetreuerinnen oder anderen
Fachkräften im Frühbereich – austauschen. Dadurch verbesserte sich das
gegenseitige Verständnis für die Anforderungen der jeweiligen Stufen. Das wiederum
erleichterte den Kindern und ihren Eltern den Kindergarten- und den
Primarschuleintritt. Laut dem neuen Monitoring-Bericht findet eine solche
Kooperation noch zu wenig oder zu informell statt. Die Bildungsdirektion plant
deshalb folgerichtig ein entsprechendes Schnittstellenprojekt.
Keine weitere Verschulung bitte
Trotz diesen notwendigen Annäherungen sollte der Bildungsaspekt im
Kindergarten nicht übermarchen. Die bereits bei der Grundstufendiskussion
geäusserte Befürchtung, dass sich die Leistungslogik der Schule auf den
Kindergarten überträgt, erweist sich mit Blick auf die Kompetenzorientierung
des Lehrplans 21 als nicht ganz unbegründet. Von der Betreuungs- und
Erziehungsaufgabe des Kindergartens ist dort nämlich keine Rede. Dabei sollten
Pädagogik und Didaktik des Kindergartens genauso in die Volksschule einfliessen
wie bisher umgekehrt. Vereinfacht gesagt: Statt den Kindergarten weiter zu
verschulen, sollte die Schule spielerischer und kindgerechter werden.
Dies gilt es besonders bei der geplanten Verschmelzung der Aus- und
Weiterbildungen der beiden Stufen zu beachten. Der Kanton will nämlich nicht
nur die kombinierte Ausbildung stärken, sondern auch die reine
Kindergartenausbildung abschaffen. Das ergibt im Hinblick auf die gemäss
Lehrplan zu vermittelnden Kompetenzen Sinn, die sich die Stufen des ersten
Zyklus teilen. Es dürfte auch den Lehrermangel abschwächen, da die
Unterrichtenden flexibel auf beiden Stufen eingesetzt werden können.
Doch es birgt die Gefahr einer weiteren Akademisierung des Berufs, da
der prüfungsfreie Zugang zur Kindergartenausbildung mit einem Fach- oder
Diplommittelschulabschluss künftig nicht mehr vorgesehen ist. Obwohl der Kanton
damit Bestrebungen auf Bundesebene nachkommen möchte, wird das in Zürich noch
zu reden geben. Zumindest die höheren Ausbildungskosten betreffend würde die
Grundstufe so quasi durch die Hintertür eingeführt.
Umso wichtiger ist es, dass Politikerinnen und Kindergartenlehrpersonen
auf die Chancen der nächsten Integrationsetappe fokussieren und auf mehr
Wertschätzung für diese Eingangsstufe pochen. Schliesslich sollte auch die
Gesellschaft anerkennen, dass es nicht per se schlecht sein muss, etwas
spielerisch und ohne Ernst zu tun. Dann darf der Kindergarten im positiven Sinn
ein idyllischer Tollgarten bleiben, an den sich künftige Schülergenerationen
hoffentlich nicht als «Zyklus 1» erinnern werden.
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