2. Oktober 2019

Frauenanteil in Mint-Fächern stagniert

Informatikerinnen sind in der Schweiz etwa gleich rar wie Pflegefachmänner. Dass es typische Frauen- und Männerberufe gibt, ist mitnichten ein Überbleibsel aus finsteren patriarchalischen Zeiten. Die berufliche Segregation zwischen den Geschlechtern ist nicht in Auflösung begriffen. Das zeigen Zahlen des Bundesamtes für Statistik zu den Abschlüssen an Fachhochschulen (FH): In gesundheitlich oder sprachlich ausgerichteten Fächern dominierten 2018 die Studentinnen mit Anteilen von zumeist über 80 Prozent. Zugleich wurde weniger als eines von zehn Bachelor-Diplomen in Elektrotechnik oder Informatik einer jungen Frau verliehen. Der jüngste Bildungsbericht konstatiert: «Die ungleiche Verteilung von Frauen und Männern auf die einzelnen Lehrberufe hat sich trotz Schaffung neuer Lehrberufe nicht vermindert.»
Warum machen junge Frauen einen Bogen um Mathematik und Technik? NZZ, 30.9. von Stefan Häberli

Das muss nicht schlecht sein. Denn Geschlechterparität ist kein Selbstzweck. Mädchen gegen ihre Neigungen und Interessen in Berufe zu drängen, wäre absurd. Allerdings hat es unliebsame Konsequenzen, dass junge Frauen den Mint-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) meiden: erstens für Unternehmen in «Männerdomänen», die sich um mehr Diversität bemühen. Wenn sich auf ein Stelleninserat keine Elektronikerin bewirbt, ist ihre Mühe vergeblich. Zweitens wirkt es sich negativ auf das Bankkonto der Frauen aus. Denn mathematische und technische Ausbildungen sind bei Arbeitgebern gefragt. Wer Physik studiert hat, verdient in der Regel mehr als eine Germanistin. Und ein Informatiker hat im Schnitt einen höheren Lohn als eine Pflegefachfrau.

Mehr Mint-Frauen in Saudiarabien

Dass Frauen in den Mint-Fächern untervertreten sind, trägt zum statistischen Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern bei. Dieser Lohn-Malus dürfte sich mit der zunehmenden Digitalisierung der Wirtschaft noch verstärken. Die Frage, warum trotzdem nicht mehr Frauen in «männliche» Berufe strömen, treibt auch die Wissenschaft um. Zwei mögliche Erklärungen können mit grosser Sicherheit ausgeschlossen werden: So gibt es keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass Männer mathematisch begabter wären als Frauen. Zwar schneiden bei den internationalen Pisa-Studien, für die das schulische Wissen 15-Jähriger mit standardisierten Fragebögen getestet wird, die Knaben im Schnitt in Mathematik besser ab als die Mädchen. Der Vorsprung der Knaben ist jedoch vergleichsweise gering. Und er verschwindet in den meisten Ländern, wenn man den Mädchen das sich selbst erfüllende Stereotyp ausredet, sie seien mathematisch unbedarfter.

Vor allem Schülerinnen innerhalb der OECD, des Vereins der reichen Länder, schneiden schlechter ab als ihre Klassenkameraden. In Staaten wie Jordanien oder Algerien ist es gerade umgekehrt. Dass dies ausgerechnet in konservativen Gesellschaften so ist, mag überraschen. Es bestätigt jedoch das sogenannte «Gender-Equality-Paradox». So wird das Phänomen genannt, dass zwischen dem Grad der Gleichberechtigung der Frauen und ihrer Zahl in Mint-Berufen ein negativer Zusammenhang besteht. Mit anderen Worten: In den für ihre Fortschrittlichkeit in Frauenfragen bekannten skandinavischen Ländern gibt es etwa nicht mehr, sondern weniger Frauen im Mint-Bereich als in Saudiarabien. Damit ist auch die rechtliche Benachteiligung keine plausible Erklärung für den geringen Frauenanteil.
Einen auf den ersten Blick seltsamen Verdacht, woran es stattdessen liegen könnte, hegten Thomas Breda und Clotilde Napp: Mädchen sind zu gut im Lesen. Die beiden Pariser Forscher argumentieren mit einer wichtigen Lehre aus der Handelstheorie. Diese lautet etwa so: Selbst im hypothetischen Fall, dass Schweizer Firmen günstigere Autos produzieren könnten als Fiat oder Volkswagen, sollten sie dies nicht tun. Die Schweizer Volkswirtschaft setzt ihre begrenzten Ressourcen besser dort ein, wo sie ihre grössten Stärken hat – etwa in der Pharma- oder Uhrenbranche. Mit den Einnahmen aus den Exporten kann sie sich unter dem Strich nämlich mehr (importierte) Autos leisten, als wenn sie diese selbst herstellte.

In der Schule über Geld reden

Auch Schülerinnen müssen sich Gedanken machen, wie viel Zeit und Aufmerksamkeit sie welchen Fächern widmen. Eine mathematisch hoch begabte Schülerin, die im Deutschunterricht allerdings noch mehr brilliert, wird eher Literaturwissenschaften als Physik studieren. Die Forscher Breda und Napp haben mit den Daten der Pisa-Studie von 2012 diese Theorie überprüft. Offenbar viel: Schülerinnen scheinen sich tatsächlich ähnlich «rational» zu verhalten wie Volkswirtschaften. In den OECD-Ländern kann die relative Stärke der Schülerinnen in den Sprachen laut der Studie rund 80 Prozent der «Frauenlücke» in mathematisch angehauchten Fächern erklären.

Das mag gar hoch gegriffen sein. Womöglich unterschätzt die Modellrechnung den Einfluss von Rollenbildern und sozialen Normen auf die Bildungskarriere. Ein wichtiger Schluss lässt sich aber daraus ziehen: Schülerinnen sollten nicht blindlings jenen Weg einschlagen, der ihnen den höchsten Notendurchschnitt verspricht. Es wäre eine gute Idee, wenn Eltern und Lehrer die erwartbaren Verdienstmöglichkeiten thematisierten. Dass in der Schule über Geld gesprochen wird, mag zwar dem humboldtschen Bildungsideal widersprechen. Doch dass das Thema ausgeklammert wird, zementiert offenbar die Lohnungleichheit zwischen Frau und Mann.
Die Studie «Girls’ comparative advantage in reading can largely explain the gender gap in math-related fields» von Thomas Breda und Clotilde Napp können Sie hier lesen.


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