Warum machen junge Frauen einen Bogen um Mathematik und Technik? NZZ, 30.9. von Stefan Häberli
Das muss nicht schlecht
sein. Denn Geschlechterparität ist kein Selbstzweck. Mädchen gegen ihre
Neigungen und Interessen in Berufe zu drängen, wäre absurd. Allerdings hat es
unliebsame Konsequenzen, dass junge Frauen den Mint-Bereich (Mathematik,
Informatik, Naturwissenschaften und Technik) meiden: erstens für Unternehmen in
«Männerdomänen», die sich um mehr Diversität bemühen. Wenn sich auf ein
Stelleninserat keine Elektronikerin bewirbt, ist ihre Mühe vergeblich. Zweitens
wirkt es sich negativ auf das Bankkonto der Frauen aus. Denn mathematische und
technische Ausbildungen sind bei Arbeitgebern gefragt. Wer Physik studiert hat,
verdient in der Regel mehr als eine Germanistin. Und ein Informatiker hat im
Schnitt einen höheren Lohn als eine Pflegefachfrau.
Mehr Mint-Frauen in Saudiarabien
Dass Frauen in den
Mint-Fächern untervertreten sind, trägt zum statistischen Lohnunterschied
zwischen den Geschlechtern bei. Dieser Lohn-Malus dürfte sich mit der
zunehmenden Digitalisierung der Wirtschaft noch verstärken. Die Frage, warum
trotzdem nicht mehr Frauen in «männliche» Berufe strömen, treibt auch die
Wissenschaft um. Zwei mögliche Erklärungen können mit grosser Sicherheit
ausgeschlossen werden: So gibt es keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass
Männer mathematisch begabter wären als Frauen. Zwar schneiden bei den
internationalen Pisa-Studien, für die das schulische Wissen 15-Jähriger mit
standardisierten Fragebögen getestet wird, die Knaben im Schnitt in Mathematik
besser ab als die Mädchen. Der Vorsprung der Knaben ist jedoch vergleichsweise
gering. Und er verschwindet in den meisten Ländern, wenn man den Mädchen das
sich selbst erfüllende Stereotyp ausredet, sie seien mathematisch unbedarfter.
Vor allem Schülerinnen
innerhalb der OECD, des Vereins der reichen Länder, schneiden schlechter ab als
ihre Klassenkameraden. In Staaten wie Jordanien oder Algerien ist es gerade
umgekehrt. Dass dies ausgerechnet in konservativen Gesellschaften so ist, mag
überraschen. Es bestätigt jedoch das sogenannte «Gender-Equality-Paradox». So
wird das Phänomen genannt, dass zwischen dem Grad der Gleichberechtigung der
Frauen und ihrer Zahl in Mint-Berufen ein negativer Zusammenhang besteht. Mit
anderen Worten: In den für ihre Fortschrittlichkeit in Frauenfragen bekannten
skandinavischen Ländern gibt es etwa nicht mehr, sondern weniger Frauen im
Mint-Bereich als in Saudiarabien. Damit ist auch die rechtliche Benachteiligung
keine plausible Erklärung für den geringen Frauenanteil.
Einen auf den ersten Blick
seltsamen Verdacht, woran es stattdessen liegen könnte, hegten Thomas Breda und
Clotilde Napp: Mädchen sind zu gut im Lesen. Die beiden Pariser Forscher
argumentieren mit einer wichtigen Lehre aus der Handelstheorie. Diese lautet
etwa so: Selbst im hypothetischen Fall, dass Schweizer Firmen günstigere Autos
produzieren könnten als Fiat oder Volkswagen, sollten sie dies nicht tun. Die
Schweizer Volkswirtschaft setzt ihre begrenzten Ressourcen besser dort ein, wo
sie ihre grössten Stärken hat – etwa in der Pharma- oder Uhrenbranche. Mit den
Einnahmen aus den Exporten kann sie sich unter dem Strich nämlich mehr
(importierte) Autos leisten, als wenn sie diese selbst herstellte.
In der Schule über Geld reden
Auch Schülerinnen müssen
sich Gedanken machen, wie viel Zeit und Aufmerksamkeit sie welchen Fächern
widmen. Eine mathematisch hoch begabte Schülerin, die im Deutschunterricht
allerdings noch mehr brilliert, wird eher Literaturwissenschaften als Physik
studieren. Die Forscher Breda und Napp haben mit den Daten der Pisa-Studie von
2012 diese Theorie überprüft. Offenbar viel: Schülerinnen scheinen sich
tatsächlich ähnlich «rational» zu verhalten wie Volkswirtschaften. In den
OECD-Ländern kann die relative Stärke der Schülerinnen in den Sprachen laut der
Studie rund 80 Prozent der «Frauenlücke» in mathematisch angehauchten Fächern
erklären.
Das mag gar hoch gegriffen
sein. Womöglich unterschätzt die Modellrechnung den Einfluss von Rollenbildern
und sozialen Normen auf die Bildungskarriere. Ein wichtiger Schluss lässt sich
aber daraus ziehen: Schülerinnen sollten nicht blindlings jenen Weg
einschlagen, der ihnen den höchsten Notendurchschnitt verspricht. Es wäre eine
gute Idee, wenn Eltern und Lehrer die erwartbaren Verdienstmöglichkeiten
thematisierten. Dass in der Schule über Geld gesprochen wird, mag zwar dem
humboldtschen Bildungsideal widersprechen. Doch dass das Thema ausgeklammert
wird, zementiert offenbar die Lohnungleichheit zwischen Frau und Mann.
Die Studie «Girls’ comparative advantage in reading can largely explain
the gender gap in math-related fields» von Thomas Breda und Clotilde Napp
können Sie hier lesen.
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