Kennen
Sie Ihren Intelligenzquotienten? Oder den Ihrer Kinder? Wenn nicht, sollten Sie
dies vielleicht nachholen. Denn nur so können Sie abschätzen, ob Sie oder Ihr
Nachwuchs zu den 70 Prozent der Bevölkerung gehören, die in der Nähe des
Mittelwertes liegen (100 Punkte), zu den 15 Prozent der überdurchschnittlich
Begabten oder sogar zu den 2 Prozent Hochbegabten mit einem IQ von 130 und
mehr. Wenn dies zutrifft, sind Sie vielleicht ein bisschen stolz.
Margrit Stamm ist Prof. em. für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Fribourg. Bild: www.margritstamm.ch
Lebenskompetenz schlägt Intelligenz, BZ Basel, 23.10. von Margrit Stamm
Manche
Eltern tun deshalb einiges für ein hochbegabtes Kind und rennen von einer
Abklärung zu nächsten, bis die Diagnose endlich vorliegt. Man sollte ihnen
dafür keine Vorwürfe machen, weil sie nach dem Besten für ihr Kind suchen. Doch
blenden sie dabei oft andere wichtige Fähigkeiten aus.
Intelligenz
wird überschätzt – das ist die These der Expertiseforschung. Man kann auch ohne
hohe Intelligenz beruflich bis zur Spitze vordringen. Auch ETH-Kollegin Elsbeth
Stern argumentiert, dass zu viele Jugendliche mit unterdurchschnittlicher
Intelligenz ins Gymnasium gehen würden. Sie seien deshalb fehl am Platz. Nur:
Warum schaffen es viele dieser weniger Intelligenten trotzdem?
Weil ihre
Eltern sie ins und durchs Gymnasium pushen, im Lernstudio zusätzliche
Förderunterstützung einkaufen und Rekurse schreiben, sobald Leistungsprobleme
auftauchen. Solche Erklärungsmuster sind zwar in aller Leute Munde, doch nur
die eine Seite der Medaille. Es gibt auch Jugendliche, die gerade wegen dem
fehlenden Push-Elternhaus nur durchschnittliche, manchmal sogar schlechte Noten
haben, später aber trotzdem Karriere machen. Ein Beispiel sind die Besten der
Schweizer Berufsmeisterschaften – von denen zwar ein gutes Drittel in der
Schule schlechte Schüler waren, – die sich aber in
unserer Swiss Skills-Studie durch Selbstdisziplin, Stressresistenz,
Hartnäckigkeit und Neugier am Lernen auszeichneten. Das sind Fähigkeiten,
welche die WHO als Lebenskompetenzen bezeichnet. Lebenskompetenzen schlagen
Schulintelligenz.
Zwar gibt
es einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Noten, weshalb es auch bei
durchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten genug Leistungsspielraum nach
oben gibt. Ab einer gewissen IQ-Schwelle werden die Lebenskompetenzen jedoch
wichtiger. Doch ohne dies zu berücksichtigen, setzt man gute Schulnoten immer
noch mit hoher Intelligenz gleich, während Lebenskompetenzen zweite Garnitur
geblieben sind. Dies wird in manchen Aufnahmeverfahren ans Gymnasium oder in
Rekrutierungsmassnahmen für die Berufslehre deutlich. Angesichts unserer
akademisierungsorientierten Leistungskultur ist das kaum überraschend.
Solche
Einseitigkeiten hat die Schule erkannt und im Lehrplan 21 das mit den
Lebenskompetenzen vergleichbare Konzept der überfachlichen Kompetenzen
eingeführt. Obwohl es auf den
schulischen Kontext und weniger auf eine erfolgreiche Lebensbewältigung
ausgerichtet ist, beinhaltet es die wichtigste Frage überhaupt: Wie fördert man
solche Kompetenzen in Elternhaus und Schule?
Sicher
nicht, indem man den Eltern eintrichtert, sich einfach weniger auf die Noten
des Nachwuchses zu konzentrieren und ihn etwas entspannter zu erziehen. Aber
auch nicht dadurch, dass die Schule nun die Kinder mit Selbstbeurteilungsbögen
bombardiert und daraus den Schluss ableitet, die Schüler würden sich so
Lebenskompetenzen aneignen. Lebenskompetenzen werden in einer Schule gefördert,
die Beziehungen hoch gewichtet; die herausfordernde Situationen schafft, um
Durchsetzungsfähigkeit zu erproben; die ermöglicht, Frustrationstoleranz durch
die Überwindung von Hindernissen einzuüben und Hartnäckigkeit zu entwickeln,
und die von Schülerinnen und Schülern verlangt, an einer Sache dranzubleiben.
Doch
allein kann es die Schule nicht richten. Deshalb gelten die gleichen
Förderprinzipien für das Elternhaus. Mütter und Väter, welche auch auf solche
Kompetenzen setzen, erleichtern nicht nur die Arbeit der Lehrkräfte, sondern
stärken auch die Leistungsfähigkeit und Lebenstüchtigkeit ihrer Kinder.
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