Was
Erziehung und Bildung heute wesentlich beeinträchtigt, sind die Scheinwelten,
in denen Kinder und Jugendliche häufig aufwachsen. Konsumtempel,
Freizeitindustrie und vor allem die Medien prägen die Lebenswelt der
Heranwachsenden so stark, dass sie mit den Notwendigkeiten realen Lebens oft
kaum mehr zurechtkommen. Schule und Lernen erscheinen dann als lästige
Unterbrechung einer fortgesetzten Unterhaltungskultur und müssen daher
mindestens genauso viel Spass machen.
"Frontalunterricht effizienter als Lustprinzip": Mario Andreotti, Bild: Aargauer Zeitung
Muss Schule immer Spass machen? BZ Basel, 26.10. von Mario Andreotti
Dazu
kommt eine geistige Verunsicherung, die das Bildungswesen zunehmend bestimmt
und es widerstandslos macht gegen die nun einsetzenden Rezepte der
Radikalreformer. Vermeintliche Mängel, verbunden mit einer gewissen
Orientierungslosigkeit, innerhalb der schulischen Institutionen machen viele
empfänglich für ihre neuen Heilsversprechen. Wenn ohnehin fast niemand mehr
weiss, worum es bei der Bildung eigentlich geht, lauscht man den
Schalmaientönen der Reformer umso begieriger. Sich eigene Lernziele zu setzen,
erfordert Autonomie, welche die Kinder nicht haben Solche Radikalreformer
treten zurzeit mit geradezu missionarischem Eifer auf. Sie verkünden, die
heutige Schule mit ihrer Vorstellung, dass alle Kinder zur gleichen Zeit das
Gleiche lernen, sei veraltet, eine Revolution der Schule sei dringend: Nicht
mehr die Lehrer, sondern die Schüler sollen künftig bestimmen, was sie wann
lernen wollen. Stundenpläne würden verschwinden. Jedes Kind lege zu Beginn der
Woche selber fest, was es lernen möchte. Vielleicht will es mithilfe eines
Computerprogramms Englischvokabeln üben, vielleicht aber auch nur einige
Stunden mit seinem Smartphone verbringen. Eine Lehrperson, welche die Klasse
führt und Lernziele setzt, gibt es nicht mehr; sie ist höchstens noch Lerncoach
und hat als solche die Aufgabe, die Schüler individuell zu beraten und zu
motivieren. Es ist ein Lernen nach dem Lustprinzip, in der Fachwelt
«intrinsisches Lernen» genannt.
Das alles
hört sich zunächst verlockend an. Denn wer möchte nicht selber bestimmen, was
er wann und wie lernen will. Doch die schulische Realität ist eine andere. Die
Vorstellung, Schüler würden immer aus eigenem Antrieb lernen, könnten sich
eigenständig Lernziele setzen, erfordert eine Autonomie, über die Kinder noch
gar nicht verfügen. Wie sollen Volksschüler selbstständig entscheiden, was sie
in der Mathematik lernen wollen und was nicht? Sie fühlen sich allein gelassen,
was Überforderung und Stress auslöst. Mit Spass oder Lust hat das dann nichts
mehr zu tun.
Dazu
kommt ein Weiteres: Erziehung und Bildung bedeuten wesentlich Führung,
liebevolle, aber klare Anleitung. Wo jedoch, wie beim selbstorganisierten
Lernen, Lehrpersonen zu
reinen
Coaches herabgestuft werden, da leidet der persönliche Bezug von Lehrer und
Schüler, da bleibt auch der Lernerfolg weitgehend aus.
Der
Versuch, den Lehrer durch Computer, Internet und Lernsoftware mehr oder weniger
zu ersetzen, muss notwendigerweise scheitern, weil er dem menschlichen
Bedürfnis der Lernenden nicht gerecht wird. Frontalunterricht wäre möglicherweise
effizienter als Lernen nach Lustprinzip Was bei den Radikalreformern auffällt,
sind ihre dreisten Behauptungen, ohne dass sie durch Studien belegt sind. So
wird etwa behauptet, Schüler würden nur dann motiviert lernen, wenn sie den
Eindruck hätten, selbstbestimmt zu lernen. Oder: Vernetztes und
selbstorganisiertes Lernen, Unterrichtsformen also, bei denen jeder Schüler
nach seinen Bedürfnissen lernen kann, führten zu besseren Leistungen als der
bisherige Frontalunterricht. Solche Behauptungen wären erst noch zu beweisen,
indem man die Praxistauglichkeit der «revolutionären» und der klassischen
Unterrichtsformen einem vergleichenden Test unterzöge. Dann würde sich
möglicherweise zeigen, dass der von den Reformpädagogen verteufelte
Frontalunterricht im Hinblick auf das Erreichen der Lernziele wesentlich
effizienter ist als das Lernen nach dem Lustprinzip.
Keine
Frage: Unterrichtsformen gilt es immer wieder auf ihre fachliche und
pädagogische Wirkung hin zu überprüfen und den veränderten Bedingungen anzupassen.
Das heisst aber nicht, Bewährtes über Bord zu werfen, um fragwürdige, in keiner
Weise erprobte Lernformen an seine Stelle zu setzen.
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