9. September 2019

Wolter findet momentane Gymi-Quote richtig


Manche Ausländer verlassen wegen dem hiesigen Schulsystem die Schweiz. Für hoch qualifizierte Expats sind die niedrige Maturaquote, der hohe Selektionsdruck unattraktiv. 
Stefan Wolter: Oft wird übersehen:Deutschland hat zwar eine hohe sogenannte Studienberechtigtenquote. Schulabgänger mit Abitur und Fachhochschulreife: etwa 50 Prozent. Die Frage ist aber: Was machen diese Studienberechtigten dann damit? Schweizweit erreichen pro Jahrgang durchschnittlich nur 20 Prozent eine gymnasiale Matur. Aber am Ende besitzt in der Schweiz ein höherer Anteil der 25­ bis 34-­jährigen einen tertiären Abschluss als in Deutschland.
"Gymi-Quote von 20 Prozent ist richtig", Basler Zeitung, 9.9. von Alexandra Kedves


Was heisst das? 
Laut OECD hatten 2017 in der Schweiz 50,1 Prozent der 25­ bis 34­Jährigen einen tertiären Bildungsabschluss, in Deutschland nur 31,3 Prozent. Hier gibts auch nachderLehresehrguteMöglichkeiten,miteinerFachhochschule oder einer höheren Berufsbildung zu einem tertiären Bildungsabschluss zu kommen und auch einkommensmässig mit Universitätsabsolventen gleichzuziehen!

Deutschland kategorisiert tertiäre Abschlüsse anders. 
Diese sind tatsächlich teils national bestimmt.Aber eine höhere Berufsbildung in der Schweiz reicht vielfach klar über den Meisterbrief hinaus.Dazu gehören auch Abschlüsse, die als äquivalent zum Doktorat gelten. Zudem fährt man mit der höheren Berufsbildung vom Einkommen her nicht schlechter als mit einer Matura plus Studium. Zumindest in der Schweiz.

Expats wollen für ihre Kinder Perspektiven ausserhalb der Schweiz offenhalten. Zudem: Jeder vierte Lehrvertrag in derSchweiz wird vorzeitig aufgelöst. Presst man die Kinder nicht zu früh ins Berufsleben? 
Eine Lehrvertragsauflösung bedeutet in vielen Fällen keinen Lehrabbruch, sondern kann sogar eine Umstufung auf eine anspruchsvollere Lehre bedeuten. Die jährlichen Umfragen bei den neuen Lernenden zeigen sehr
hohe Zufriedensheitswerte. Und die Arbeitgeber suchen 15­ und 16­Jährige für ihre Ausbildungsplätze. Man braucht etwa bei den Banken keine Matura wie in Deutschland üblich. Bei einer höheren Maturaquote würden Banken oder Versicherungen hierzulande keine oder nur noch wenige Lehrstellen anbieten. In Kantonen mit hohen Maturitätsquoten kann man das heute schon beobachten.

Die UBS bietet einen Turbo-Einstieg für Mittelschulabsolventen. Und Philipp Gonon, Professor für Berufsbildung in Zürich, stellt fest: Die Berufsmatura sei wichtig, stagniere aber. Er sagt:«Man sollte die Gymi­-Quote sicher nicht senken.Sie müsste ansteigen.» 

Die Berufsmaturität, auch wenn sie stagniert, ist für 75 Prozent des Anstiegs der Maturitätsquote verantwortlich. Zusammen mit der Fachmaturität kommen wir in der Schweiz in die Nähe einer Maturitätsquote von 40Prozent. Nein, die Gymi­-Quote von rund 20 Prozent sollte nicht steigern.

Sollen unsere Kinder ihre Jugend als billige Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt vertun? 
Das ist doch kein «Vertun»! Im Gegenteil, bei der UBS und CS zum Beispiel wird erwartet, dass die Lehrlinge nebenher die Berufsmatura machen. Das erste Lehrjahr sind sie überhaupt nicht mehr im Betrieb. Mit 21 Jahren haben sie dann bereits viel Berufserfahrung,eine Berufsmatur und allenfalls den Bachelor in der Tasche! Das ist ein toller Weg mit einer fantastischen Bildungsrendite.Vergleichen Sie das mit einem jungen Menschen, der mit 18 Jahren die Matura gemacht hat, nach einem Zwischenjahr 2,5 Jahre an der Universität studierte, dann feststellen musste, dass es bei ihm doch nicht fürs Studium reicht. Wo ist da die Rendite?

Gehts bei humanistischer Bildung nur um Rendite? 
Natürlich nicht, sie hat ihre Qualität an sich. Aber anders als in Deutschland hat die Matura hier bis heute einen sehr spezifischen Zweck: das Erreichen der Studierfähigkeit, um an einer unserer hervorragenden, anspruchsvollen Universitäten bestehen zu können. Sieben hiesige Universitäten zählen zu den Top­ 200 der Welt. Und rund 60 Prozent unserer Studierenden besuchen eine dieser Universitäten. Wird dieses Ziel nicht erreicht, war das Gymnasium der falsche Weg. 20 Prozent Maturanden an Gymnasien sind nach unseren Berechnungen derzeit ungefähr die richtige Quote dafür.

Wie wird das berechnet? 
Wir haben die Studienbiografien aller Studierenden in der Schweiz seit 1974 analysiert. Die Studienabbrecherquote ist hier mit fast einem Viertel im Durchschnitt zwar immer noch zu hoch.Doch in Kantonen mit Maturitätsquoten von deutlich über 20 Prozent steigt die Abbruchquote exponentiell an, unabhängig von Studienfach oder­ -ort. Da besteht ein Zusammenhang. Also tun wir niemandem einen Gefallen, wenn wir weniger streng selektieren. Solche Abbrüche bedeuten für alle Seiten einen Verlust – nicht nur monetär.

In Deutschland liegt die Studienabbrecherquote nicht viele Prozentpunkte über der unseren. Dafür werden unsere Universitäten intensiv von ausländischen Studierenden genutzt. Und hiesige Firmen, die Ärzteschaft, Architekturbüros, Schulen werden beträchtlich durch Deutsche mit deutschem Abitur bestückt. Sie sind gut genug für die Posten
hier. 
Das kann kein Argument dafür sein, unsere Matura-­Standards zu senken. Bei uns arbeiten nicht Durchschnittsabiturienten, Durchschnittsärzte oder­anwälte aus dem Ausland. In Deutschland gibts einfach eine spätere Selektion. So lag dort jetzt fürs Wintersemester 2019/20 auf 40 Prozent der Studienfächer ein Numerus clausus: ohne einen bestimmten Abiturschnitt konnte man das Fach nicht studieren. Wollen wir unseren Maturanden gute Chancen in unseren Betrieben und Universitäten geben, müssen wir uns an einem Topniveau orientieren.

Dem Numerus clausus–den es hier für Medizin gibt– kann man in Deutschland mit Wartesemestern begegnen. 
Schon. Aber auch da frage ich mich, ob man etwa von einer Lehre mit Berufsmatura und angeschlossenem Fachhochschulstudium oder höherer Berufsbildung nicht mehr profitiert hätte. Denn nach einem Wartesemester kommt die nächste, wieder bessere Studierendenkohorte. Und mit einem schlechten Bachelor kann man an guten deutschen Universitäten–im Gegensatz zur Schweiz–nicht mal in den Master übertreten.

Wenn System, Schulausstattung und Lehrerlohn so gut sind, wieso müssen wir aus dem Ausland Lehrer anwerben? 
In der Schweiz ist es vor allem ein demografisches Pech. Die Lehrer der Babyboomer­Generation gehen in Rente, zugleich haben wir einen unerwarteten Kinderboom. Es braucht viel mehr Lehrer als geplant. Und woher will man diese nehmen, wenn auch die Firmen Fachkräfte suchen?

In den Bildungsnationen Kanada und Finnland herrscht ein Run aufs Lehrerstudium, trotz schlechtem Lohn. 
Für mich ist das eine Marketingfrage (lacht). Dort wird hart selektiert. Es kommen die Besten, und sie benutzen die Auszeichnung «Lehrer» oft als Sprungbrett für eine andere Karriere. Bei uns dagegen werden die Lehrer fast als «Negativselektion» angesehen. Das muss sich ändern.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen