Manche Ausländer verlassen
wegen dem hiesigen Schulsystem die Schweiz. Für hoch qualifizierte Expats sind die
niedrige Maturaquote, der hohe Selektionsdruck unattraktiv.
Stefan Wolter: Oft wird übersehen:Deutschland hat zwar eine hohe sogenannte
Studienberechtigtenquote. Schulabgänger mit Abitur und
Fachhochschulreife: etwa 50 Prozent. Die Frage ist aber: Was machen diese
Studienberechtigten dann damit? Schweizweit erreichen pro Jahrgang
durchschnittlich nur 20 Prozent eine gymnasiale Matur. Aber am Ende besitzt in
der Schweiz ein höherer Anteil der 25 bis 34-jährigen einen
tertiären Abschluss als in Deutschland.
"Gymi-Quote von 20 Prozent ist richtig", Basler Zeitung, 9.9. von Alexandra Kedves
Was heisst das?
Laut OECD hatten 2017 in der Schweiz 50,1 Prozent der 25 bis 34Jährigen einen
tertiären Bildungsabschluss, in Deutschland nur 31,3 Prozent. Hier gibts auch
nachderLehresehrguteMöglichkeiten,miteinerFachhochschule
oder einer höheren Berufsbildung zu einem tertiären
Bildungsabschluss zu kommen und auch einkommensmässig mit
Universitätsabsolventen gleichzuziehen!
Deutschland kategorisiert
tertiäre Abschlüsse anders.
Diese sind tatsächlich teils
national bestimmt.Aber eine höhere Berufsbildung in der Schweiz reicht vielfach klar
über den Meisterbrief hinaus.Dazu gehören auch Abschlüsse, die als
äquivalent zum Doktorat gelten. Zudem fährt man mit der höheren Berufsbildung vom Einkommen her nicht schlechter als mit
einer Matura plus Studium. Zumindest in der Schweiz.
Expats wollen für ihre Kinder
Perspektiven ausserhalb der Schweiz offenhalten. Zudem: Jeder vierte Lehrvertrag in
derSchweiz wird vorzeitig aufgelöst. Presst man die Kinder nicht zu früh ins
Berufsleben?
Eine Lehrvertragsauflösung bedeutet in vielen Fällen keinen
Lehrabbruch, sondern kann sogar eine Umstufung auf eine anspruchsvollere Lehre
bedeuten. Die jährlichen Umfragen bei den neuen Lernenden zeigen sehr
hohe Zufriedensheitswerte. Und
die Arbeitgeber suchen 15 und 16Jährige für ihre Ausbildungsplätze. Man braucht
etwa bei den Banken keine Matura wie in Deutschland üblich. Bei einer höheren
Maturaquote würden Banken oder Versicherungen hierzulande keine oder nur noch
wenige Lehrstellen anbieten. In Kantonen mit hohen Maturitätsquoten kann man das
heute schon beobachten.
Die UBS bietet einen Turbo-Einstieg für Mittelschulabsolventen. Und Philipp
Gonon, Professor für Berufsbildung in Zürich, stellt fest: Die Berufsmatura sei wichtig,
stagniere aber. Er sagt:«Man sollte die Gymi-Quote sicher nicht senken.Sie müsste
ansteigen.»
Die Berufsmaturität, auch wenn sie stagniert, ist für 75 Prozent des Anstiegs der Maturitätsquote
verantwortlich. Zusammen mit der Fachmaturität kommen wir
in der Schweiz in die Nähe einer Maturitätsquote von 40Prozent. Nein, die Gymi-Quote
von rund 20 Prozent sollte nicht steigern.
Sollen unsere Kinder ihre
Jugend als billige Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt vertun?
Das ist doch kein
«Vertun»! Im Gegenteil, bei der UBS und CS zum Beispiel wird erwartet, dass die
Lehrlinge nebenher die Berufsmatura machen. Das erste
Lehrjahr sind sie überhaupt nicht mehr im Betrieb. Mit 21 Jahren haben sie dann
bereits viel Berufserfahrung,eine Berufsmatur und allenfalls den Bachelor in der
Tasche! Das ist ein toller Weg mit einer fantastischen Bildungsrendite.Vergleichen
Sie das mit einem jungen Menschen, der mit 18 Jahren die Matura gemacht hat, nach
einem Zwischenjahr 2,5 Jahre an der Universität studierte, dann feststellen
musste, dass es bei ihm doch nicht fürs Studium reicht. Wo ist da die Rendite?
Gehts bei humanistischer
Bildung nur um Rendite?
Natürlich nicht, sie hat ihre Qualität an sich. Aber anders als
in Deutschland hat die Matura hier bis heute einen sehr spezifischen Zweck: das
Erreichen der
Studierfähigkeit, um an einer unserer hervorragenden, anspruchsvollen Universitäten bestehen zu
können. Sieben hiesige Universitäten zählen zu den Top 200 der Welt. Und rund
60 Prozent unserer Studierenden besuchen eine dieser Universitäten. Wird
dieses Ziel nicht erreicht, war das Gymnasium der falsche Weg.
20 Prozent Maturanden an Gymnasien
sind nach unseren Berechnungen derzeit ungefähr die richtige Quote dafür.
Wie wird das berechnet?
Wir haben die Studienbiografien aller Studierenden in der Schweiz
seit 1974 analysiert. Die Studienabbrecherquote ist hier mit fast einem Viertel im
Durchschnitt zwar immer noch zu hoch.Doch
in Kantonen mit Maturitätsquoten von deutlich über 20 Prozent steigt die Abbruchquote
exponentiell an, unabhängig von Studienfach oder -ort. Da besteht
ein Zusammenhang. Also tun wir niemandem einen Gefallen, wenn wir weniger streng
selektieren. Solche Abbrüche bedeuten für alle Seiten einen Verlust – nicht nur
monetär.
In Deutschland liegt die
Studienabbrecherquote nicht viele Prozentpunkte über der unseren. Dafür werden unsere
Universitäten intensiv von ausländischen Studierenden genutzt. Und hiesige Firmen,
die Ärzteschaft, Architekturbüros, Schulen werden beträchtlich durch Deutsche
mit deutschem Abitur bestückt. Sie sind gut genug für die Posten
hier.
Das kann kein
Argument dafür sein, unsere Matura-Standards zu senken. Bei uns arbeiten
nicht Durchschnittsabiturienten, Durchschnittsärzte oderanwälte aus dem Ausland. In Deutschland
gibts einfach eine spätere Selektion. So lag dort jetzt fürs Wintersemester
2019/20 auf 40 Prozent der Studienfächer ein Numerus clausus: ohne einen
bestimmten Abiturschnitt konnte man das Fach nicht studieren. Wollen wir unseren Maturanden
gute Chancen in unseren Betrieben und
Universitäten geben, müssen wir uns an einem Topniveau orientieren.
Dem Numerus clausus–den
es hier für Medizin gibt– kann man in Deutschland mit Wartesemestern begegnen.
Schon.
Aber auch da frage ich mich, ob man etwa von einer
Lehre mit Berufsmatura und angeschlossenem
Fachhochschulstudium oder höherer Berufsbildung nicht mehr profitiert hätte.
Denn nach einem Wartesemester kommt die nächste, wieder bessere
Studierendenkohorte. Und mit einem schlechten Bachelor kann man an guten
deutschen Universitäten–im Gegensatz zur Schweiz–nicht mal in den Master übertreten.
Wenn System, Schulausstattung
und Lehrerlohn so gut sind, wieso müssen wir aus dem Ausland Lehrer anwerben?
In der
Schweiz ist es vor allem ein demografisches Pech. Die
Lehrer der BabyboomerGeneration gehen in Rente, zugleich haben wir einen unerwarteten
Kinderboom. Es braucht viel mehr Lehrer als geplant. Und woher will man diese
nehmen, wenn auch die Firmen Fachkräfte suchen?
In den Bildungsnationen
Kanada und Finnland herrscht ein Run aufs Lehrerstudium, trotz schlechtem Lohn.
Für mich ist das eine Marketingfrage (lacht). Dort wird hart selektiert. Es kommen
die Besten, und sie benutzen die Auszeichnung «Lehrer» oft als
Sprungbrett für eine andere Karriere. Bei uns dagegen werden die Lehrer fast als
«Negativselektion» angesehen. Das muss sich ändern.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen