Noch nie
musste er den Pass zücken. Wenn Heiko Vollmer zu Hause im deutschen Weil am
Rhein losradelt und 30 Minuten später vor dem Basler Schulhaus steht, in dem
erarbeitet, nimmt er die Landesgrenze gar nicht wahr.Vorbei amTöggelikasten–
das Wort musste er erst lernen–, und schon ist er Herr Vollmer, der Lehrer. «Guten
Morgen!»
Herr Vollmer will nicht zurück, Basler Zeitung, 9.9. von Tim Wirth
Der Anteil ausländischer Lehrerinnen und Lehrer, die in der Schweiz an
obligatorischen Schulen unterrichten, hat sich in den vergangenen zehn Jahren
verdoppelt, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen. Zwischen Deutschland und
der Schweiz verlief dieser Zustrom lange reibungslos, doch jetzt ist die
Situation angespannt. Schweizer Schulen werben vermehrt deutsche
Lehrpersonenan, weil sie sonst nicht über die Runden kommen. Der Deutsche
Lehrerverband in Baden-Württemberg bedauert diese Abwanderung sehr. «EsisteineKatastrophe», sagt der Vorsitzende
Gerhard Brand, wenn man ihn auf den Lehrermangel anspricht. «Wenn uns die
Lehrkräfte auch noch in die Schweiz abwandern, tut das richtig weh.»
Enormer Lehrermangel
Der Deutsche Lehrerverband schätzt, dass dieses Jahr an jeder
zweiten Schule in Deutschland nicht alle Lehrerstellen besetzt werden können.
Es sei mit Ausnahme der unmittelbaren Nachkriegszeit der grösste
Lehrermangel, den Deutschland jemals erlebe: 35000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen
bis 2025. Nahe der Grenze ist die Situation besonders prekär. Der Schulleiter
in Wehr, 20 Autominuten bis ins Aargauische, musste vor den Sommerferien kapitulieren:
«Am Dienstag bleiben
diese Kinder zu Hause, am Mittwoch jene–zu wenige Lehrpersonen», verordnete er und bekam
Ärger.Schliesslich improvisierte die Schule, sagt Gerhard Brand: zwei Klassen
zusammenlegen, Überstunden, Comebacks von Pensionären. Derweil kämpft auch die
Schweiz damit, alle Stellen zu besetzen. Immer mehr Kinder treffen auf immer weniger
Lehrer. Eine wichtige Massnahme:Lehrer wie Herrn Vollmer in die Schweiz
locken. Der Aargauer Regierungsrat ermöglicht den Schulen seit diesem Sommer,
Stelleninserate in Deutschland zu schalten. Die Stadt Schaffhausen inseriert
neu in der Zeitung «Südkurier» und versucht, Lehrkräfte von den Vorzügen der
Stadt zu überzeugen. Auch fragt Schaffhausen deutsche Lehrerinnen und Lehrer,
die schon
hier arbeiten, ob sie weitere pendelfreudige Kollegen kennen. Genau so kam auch
Heiko Vollmer in die Schweiz. Vor 18 Jahren. In Deutschland können abgehende
Pädagogikstudenten nicht selbst wählen, wo sie arbeiten wollen.Schwäbische
Alb hiess es für Vollmer. Da wollte er nicht hin. Also ab nach
Basel,er fand eine Stelle als Sekundarlehrer, zwei Tage die Woche, dann mehr Prozente
– und jetzt ist er immer noch hier. Ein Zusatzdiplom musste Vollmer nie machen. Wegen des Lehrermangels ist es für deutsche Lehrkräfte heute sogar noch einfacher, in
derSchweiz arbeiten zu können.
Klotzen statt kleckern
Nun bringt Herr Vollmer den Beqirs,
Ömerüls und Love Alizées im Basler Theobald-Baerwart Schulhaus die Umrechnung von
Kubikdezimetern bei. Seine Schülerinnen und Schüler kommen aus dem Kongo, aus Afghanistan oder Italien.Sie verstehen
Vollmers Hochdeutsch wohl besser als das eines Schweizers.
«Ich hatte nie Probleme hier», sagt der 44-Jährige. Spricht er
von seiner Schule, kommt er ins Schwärmen. Anders als in Deutschland, gehen hier
alle Sekundarschüler gemeinsam zur Schule, vom tiefsten bis zum höchsten Niveau.
«Hier bewegt sich etwas», sagt Vollmer. Er könne experimentieren und erhalte die
nötige Infrastruktur dafür. 2016 wurde das Schulhaus, in dem Vollmer arbeitet, für 21 Millionen
renoviert. Genial, wie er findet. Hier werde geklotzt, in Deutschland
gekleckert. Auch das bereichere seine Arbeit. Zudem erhält er etwa ein Drittel
mehr Lohn.In Baden-Württemberg verdienen Sekundarlehrer zwischen 4383 und 5413
Euro monatlich. In Basel-Stadt ist schon der Einstiegslohn über 7000 Franken.
Nicht
alle haben eine so hohe Meinung von der Arbeit in Schweizer Schulen. Eine
deutsche Primarlehrerin, die im Kanton St. Gallen unterrichtet, hat
Mühe, sich im Team zu integrieren. «Die Schweizer sind freundlich, werden aber nur selten dein
Freund»,sagt sie, die schon über 20 Jahre in der Schweiz arbeitet.
Ihre«deutsche Art»werde oft als übergriffig und rau wahrgenommen.Bleiben will sie
trotzdem.
Eigentlich fantastisch
«Viele Schweizer Schulen
würden ohne ausländische Kollegen nicht funktionieren, weil es auch hier zu wenige
eigene Lehrpersonen gibt», sagt Franziska Peterhans vom Dachverband Lehrerinnen
und Lehrer Schweiz gegenüber Radio SRF. Allerdings habe es auch schon
Probleme gegeben,wenn fast nur noch deutsche Lehrerinnen und Lehrer in einem Schulhaus
angestellt waren.Die Fächer könnten sie
zwar unterrichten. Aber es sei auch wichtig, das
Schulsystem und die Gepflogenheiten in Schweizer Schulen zu kennen – beispielsweise,
wie man ein Zeugnis korrekt ausfüllt. Gerhard Brand aus Baden-Württemberg wirkt
derweil etwas ernüchtert. Nein,
momentan sehe er wirklich keinen Ausweg. Die Qualität in den Schulen werde sinken.
Deutschen Lehrpersonen davon abraten, in der Schweiz zu arbeiten,will er trotzdem
nicht. «Es ist doch fantastisch für die jungen Menschen», sagt Brand. Eigentlich.
Wieso zurückgehen? Heiko Vollmer wird den Lehrermangel in Deutschland kaum beheben.
Der Wechselkurs spielt gerade für ihn. Und vor allem: Wieso zurückgehen, wenn
es ihm hier so gut gefällt? Im Schulzimmer rascheln die Etuis, die
Hände sind schon am Rucksack. «Wer hat Tafeldienst?» – «Halt, die Hausaufgaben!»
Nur Vollmer bleibt im Schulzimmer übrig,räumt seine Fahrradtasche ein. «War etwas
harzig heute», sagt er. Doch wenn beim Abschlussball ein angehender Maurerlehrling
mit einer Gymnasiastin tanzt, dann rührt ihn das.Wie stehen die Chancen
für eine Rückkehr in die Heimat? «Bei fünf Prozent.»
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