Die geheime Frühfranzösisch-Studie, Basler Zeitung, 28.9. von Stefan von Bergen.
Was tut
man, wenn man eine Studie in Auftrag gegeben hat, deren Ergebnisse
unbefriedigend ausfallen? Man kann sie zum Beispiel der breiteren
Öffentlichkeit gar nicht vorstellen und nur auf ein paar Internetseiten
aufschalten, die kaum konsultiert werden.
Nach
diesem Prinzip verschweigen die Bildungsbehörden der sechs Kantone Bern,
Basel-Stadt, Baselland, Solothurn, Freiburg und Wallis die Resultate einer
Studie. Diese untersuchte das Erreichen der Lernziele im
Frühfranzösischunterricht unter dem Einfluss des Passepartout-Lehrplans und des
Lehrmittels «Mille feuilles». Passepartout nannte sich der Verbund der Kantone,
die das Lehrmittel für Primarschulen entwickelten.
In
Auftrag gegeben haben sie die Studie beim Institut für Mehrsprachigkeit (IfM) der
Universität Freiburg und der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Die Ergebnisse
liegen schon seit Mai vor. Greifbar sind sie aber nur auf der Homepage des
Uni-Instituts und den Internetseiten einiger Bildungsportale.
Lieber
keine Medien
«Bei der
Planung des Projektabschlusses haben uns die Auftraggeber informiert, dass
sowohl auf eine Medienkonferenz wie auch eine Medienmitteilung verzichtet
wird», sagt auf Anfrage dieser Zeitung Professor Thomas Studer, der Direktor
des Freiburger Uni-Instituts. Eva Wiedenkeller, die Projektleiterin der Studie,
fügt an: «Weil wir denken, dass die Ergebnisse unserer Studie mit der Fachwelt
diskutiert werden sollten, haben wir in unserem Netzwerk die Aufschaltung des
Berichts auf unserer Homepage kommuniziert.»
Dort könnte
man seit Ende Mai in einer Kurz- und einer Langversion nachlesen, dass die
Studie über die Französischkompetenzen nicht besonders positiv ausgefallen ist.
Den Frühfranzösischkritikern dürfte das weiteren Auftrieb geben.
Das
Leistungsniveau A2.1, das die Passepartout-Kantone selber als Lernziel für den
Unterricht mit «Mille feuilles» festlegten, erreichten beim Leseverstehen nur
gerade 32,8 Prozent der Schülerinnen und Schüler. Beim Hörverstehen lag der vom
IfM eruierte Wert immerhin bei 57 Prozent, beim Sprechen aber nur bei 10,8
Prozent.
Für die
Kenntnisse einer Fremdsprache werden heute in der Regel die Leistungsstufen
nach dem europäischen Referenzrahmen vom Anfängerniveau A1 bis zum
Fortgeschrittenenlevel C2 angesetzt.
Lieber
bessere Resultate
Pikant an
der Sache: Am 24. Mai machte die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz
die Resultate ihres nationalen Monitorings der Grundkompetenzen am Ende der
Primarschule publik. Und zwar an einer nationalen Medienkonferenz. Untersucht
wurde dabei auch die erste Fremdsprache.
Weil für
die Grundkompetenzen das tiefere Leistungsniveau A1.2 gilt, erreichten mehr
Schülerinnen und Schüler diese Anforderung. Beim Hörverstehen waren es 86,8 und
beim Leseverstehen 62,6 Prozent, beim Sprechen 42,5 Prozent.
Das waren
Good News für eine Medienkonferenz. Jedenfalls bessere als in der Freiburger
Studie, die sich wie erwähnt auf das etwas höhere Niveau A2.1 bezog. Die Berner
Erziehungsdirektorin Christine Häsler (Grüne) erklärte dieser Zeitung nach der
nationalen Präsentation der Grundkompetenzen erfreut, man sei beim
Frühfranzösisch auf dem richtigen Weg.
Das IfM
hat für seine Erhebung laut Projektleiterin Eva Wiedenkeller Daten der
nationalen Grundkompetenzen-Erhebung verwenden können. Darüber hinaus hat das
Freiburger Forschungsteam die Französischkompetenzen im Sprechen von über 1000
Sechstklässlerinnen und Sechstklässlern an 193 Schulen untersucht.
Diese
gehören dem ersten Jahrgang an, der ab der 3. Primarklasse neu mit «Mille
feuilles» unterrichtet wurde. Dazu kamen Fragebogen für die Schulkinder und die
Französischlehrkräfte, etwa zur Motivation und zur Einschätzung des
Lehrmittels.
Schlussbericht
abbestellt
Was erst
jetzt bekannt wird: Die Bildungsbehörden haben der am Frühfranzösisch
interessierten Öffentlichkeit noch eine zweite Information vorenthalten. Noch
im letzten Jahr hatte die Erziehungsdirektion des Kantons Bern Kritiker des
Frühfranzösisch-Lehrmittels aufgefordert, den für 2021 erwarteten
Schlussbericht des Freiburger Uni-Instituts abzuwarten.
Nun aber
bestätigt Projektleiterin Eva Wiedenkeller auf Anfrage, dass es diesen
Schlussbericht nicht geben wird, weil die Auftraggeber auf den geplanten
zweiten Teil der Studie verzichtet haben. Eigentlich war vorgesehen, dass das
IfM auch die Erreichung der Lernziele mit dem Folgelehrmittel «Clin d’œil» in
der 7. bis 9. Klasse untersuchen sollte.
Waren die
unbefriedigenden «Mille feuilles»-Resultate womöglich der Grund, die zweite
Untersuchungsphase abzublasen? Laut Thomas Studer begründen die Auftraggeber
den Verzicht auf die Fortführung des Projekts mit der laufenden Überarbeitung
und Verbesserung von «Milles feuilles», wodurch sich die Ausgangslage für eine
weitere Evaluation geändert habe.
Eine
direkte Beeinflussung seiner wissenschaftlichen Arbeit hat das Freiburger
Forschungsteam nicht erlebt. «Was man während der Untersuchungen schon spürte,
waren die politische Grosswetterlage und die hohe Erwartung der
Verantwortlichen, dass das neue Lehrmittel und seine Didaktik funktionieren
sollen», sagt Eva Wiedenkeller.
Der
Institutsdirektor hat dafür auch ein gewisses Verständnis. «Wird viel
Steuergeld in ein grosses Bildungsprojekt investiert, entsteht eine gewisse
Eigendynamik», sagt Studer. 120000 Schülerinnen und Schüler in sechs Kantonen
werden mit den beiden Französischlehrmitteln unterrichtet.
Der
Schulverlag plus mit Sitz in Bern habe dafür einen tiefen zweistelligen
Millionenbetrag investiert, erklärte dessen Geschäftsführer 2018 gegenüber
dieser Zeitung. Ein Projekt dieser Dimension lässt sich nicht einfach
rückgängig machen.
Dennoch
bedauern Studer und Wiedenkeller, dass die Resultate der Studie bisher nicht in
die Diskussion um eine Optimierung des Französischunterrichts einflossen. «Was
kann man machen, wenn ein Befund teilweise unbefriedigend ist?», formuliert
Thomas Studer die Frage, die im Raum steht.
Darauf
gebe es zwei Antworten: Man könne Lernziele zurückschrauben, oder man könne
investieren, damit die Resultate besser würden. Zum Beispiel indem man mehr
Kontaktmöglichkeiten mit der französischen Sprache anbiete. Grundsätzlich zu
überlegen wäre aus seiner Sicht auch, wie die Forschung die Entwicklung und die
Einführung eines Lehrmittels wirksam begleiten könnte.
Didaktik
des Sprachbads
Auf
Anfrage erwähnt Projektleiterin Wiedenkeller noch weitere Erkenntnisse ihrer
Untersuchung. «Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den Resultaten im
Sprechen, Lese- und Hörverstehen einerseits und der Wortschatzkompetenz
andererseits», sagt sie.
Zur
Erklärung: «Mille feuilles» setzt auf die Didaktik des sogenannten Sprachbads.
Die Schülerinnen und Schüler sollen über den Direktkontakt mit französischen
Texten und Sachthemen quasi im Vorbeigehen auch Vokabeln erlernen. «Mille
feuilles» trainiert aber nicht gezielt Wortschatz und Grammatikkenntnisse.
Positiv sei aber, so Wiedenkeller, dass jetzt zusätzlich zum Lehrmittel
Zusatzmaterialien wie die Sprachbox «On bavarde» für das Wortschatztraining zur
Verfügung stehen.
Thomas
Studer hält die Didaktik des Sprachbads für interessant. Er fügt aber an: «In
bloss drei Wochenlektionen Französisch ein Sprachbad zu erleben, in dem man en
passant auch Vokabeln und Grammatik erlernt, ist eine Illusion.» Hinter «Mille
feuilles» steht laut dessen Machern der konstruktivistische Ansatz.
Er geht
laut Studer davon aus, dass sich jedes Subjekt lernend seine Welt konstruiert.
«Gerade für jüngere Lernende ist das schwer umsetzbar, weil es ein hohes Mass
an Selbstorganisation und selbstverantwortetem Lernen verlangt», findet Thomas
Studer.
Englisch
hat besseres Image
Eva
Wiedenkeller untersuchte für die Studie auch die Motivation, mit «Mille
feuilles» Französisch zu lernen. Selbst bei den Lehrkräften findet nur die
Hälfte, dass das Lehrmittel genügend Anreiz biete, sich mit Französisch zu
beschäftigen. «Gegen das starke Klischee, Französisch sei schwierig und uncool,
kommt man nur schwer an», sagt Wiedenkeller. Englisch lerne man informell,
freiwillig und sogar ohne Schulunterricht. Es sei Weltsprache und
Verkehrssprache im Internet.
Gegen den
Imagevorsprung des Englischen kommt wohl auch das beste Französischlehrmittel
nur schwer an.
Bildungsdirektionen
relativieren und machen kleine Zugeständnisse
Für die
heiklen Fragen dieser Zeitung verweist die Erziehungsdirektion des Kantons
Bern auf Frédéric Voisard, den Regionalsekretär der Nordwestschweizer
Erziehungsdirektorenkonferenz (NW EDK). Sie ist die Rechtsnachfolgerin des
Passepartout-Verbunds, der das Französischlehrmittel «Mille feuilles» in sechs
Kantonen lanciert hat. Dass die Studie des Instituts für Mehrsprachigkeit (IfM)
an der Universität Freiburg über das Erreichen der Frühfranzösisch-Lernziele
den Medien vorenthalten wurde, erklärt Voisard so: Die IfM-Untersuchung sei an
die nationale Erhebung über schulische Grundkompetenzen gekoppelt gewesen.
Diese lasse im Gegensatz zur IfM-Studie auch Aussagen über die einzelnen
Kantone zu. «Aus Gründen der Komplexitätsreduktion und der Verständlichkeit»
habe die NW EDK dann der nationalen Erhebung den Vorrang gegeben.
Voisard
bestätigt, dass ursprünglich eine zweite Evaluation zum Erreichen der Lernziele
im Französischunterricht auf der Sekundarstufe I geplant war. Weil die
Passepartout-Kantone den Unterricht aber laufend überprüfen und anpassen
würden, sei die Ausgangslage nun derart verändert, dass ein zweiter Evaluationsteil
zu aufwendig geworden wäre. «Es ist klar, dass Passepartout bei der mündlichen
Interaktion noch nicht auf Kurs ist», hält Voisard fest. Be- züglich Wortschatz
müsse man die Gesamtkonzeption überdenken.
Die
Erziehungsdirektion des Kantons Bern teilt auf Anfrage mit, dass die Ergebnisse
der Freiburger Untersuchung «tatsächlich nicht zufriedenstellend» gewesen
seien. In der Zwischenzeit habe man deshalb Hearings mit den Fachlehrpersonen
geführt und Massnahmen eingeleitet. Mit den anderen Passepartout-Kantonen habe
man Verbesserungen am Lehrmittel «Mille feuilles» initiiert.
So soll
ein Grundwortschatz samt Software zum Üben definiert werden. Die Verbenliste
werde ergänzt, und neue Materialien zum Training des Alltagswortschatzes würden
geschaffen. Insbesondere werde «Mille feuilles» in der 5. und der 6. Klasse
überarbeitet. In der neuen Version werde die Stoffmenge reduziert, und ein
neuer Übungsteil zum Vertiefen und Automatisieren stehe bereit. Für die
Französischlehrkräfte sei zudem die Weiterbildung verbreitert worden. Auch der
Schüler- und Klassenaustausch werde vermehrt gefördert. (svb)
Die Aussagen der EDK-Verantwortlichen stimmen nicht ganz mit den Begründungen im Schlussbericht von Reto Furter überein: Dort begründete man die Geheimhaltung mit Angst vor kritischer Ausschlachtung durch die Medien.
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