Erstmals ist eine Frau oberste Lehrerin der
Schweiz: Seit Anfang August steht die Solothurnerin Dagmar Rösler an der Spitze
des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz mit seinen 56'000 Mitgliedern.
«Manchmal bin ich schon ein bisschen am Schwimmen. Aber es fühlt sich trotzdem
gut an», sagt die 47-Jährige in ihrem ersten grösseren Interview.
Oberste Lehrerin der Schweiz: Wo Dagmar Rösler die Baustellen der Schule sieht, Aargauer Zeitung, 5.9. von Lucien Flury
Wir treffen sie im Schulhaus in Bellach SO. Hier
unterrichtet sie trotz ihres neuen Amtes jeden Dienstagmorgen eine vierte
Klasse. «Es ist ein grosser Aufwand, aber es lohnt sich.» Den Kontakt zur Basis
will sie nicht verlieren.
Gefiel es Ihnen in der Schule?
Dagmar Rösler: Ich ging
immer gerne in die Schule. Es gefiel mir, weil es abwechslungsreich war. In
einem Schulzimmer passiert so viel. Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen.
Die 1. bis 3. und die 4. bis 6. Klasse wurden zusammen unterrichtet.
Was für eine Schülerin waren Sie?
Ich war eine Schülerin, die sehr viel Energie hatte
– nicht gerade verhaltensauffällig, aber ich habe meine Lehrer teilweise schon
getestet (lacht).
Würden Sie lieber heute zur Schule gehen?
Nein, weil ich gute Erinnerungen an meine Schulzeit
habe. Aber es würde mir sicher auch heute in der Schule gefallen. Früher wurde
viel weniger auf das einzelne Kind eingegangen. Das hat sich stark verändert
und ist eine positive Entwicklung.
Sie sind seit einem Monat oberste Lehrerin. Was ist
das heisseste Eisen, das Sie anpacken müssen?
Der Mangel an Lehrpersonen ist ein riesiges
Problem, das auf uns zukommt. Kurz vor Beginn des Schuljahres 2019/20 gaben in
einer Umfrage des Deutschschweizer Schulleiterverbandes 90 Prozent der
Schulleitungen an, dass sie Mühe haben, adäquat ausgebildete Lehrpersonen zu
finden. Wenn man sieht, dass in den nächsten Jahren über 100 000 zusätzliche
Schülerinnen und Schüler in die Schule kommen und die Babyboomer unter den
Lehrern pensioniert werden, macht mir dies Sorgen. Dieser Fachkräftemangel
droht zu einer Qualitätsfrage zu werden.
Weshalb?
Man ist gezwungen, an den Schulen Notlösungen zu
suchen, um offene Stellen zu besetzen – mit PH-Studenten, Seniorinnen oder
Leuten, die die nötige Erfahrung oder die entsprechende Ausbildung nicht haben.
Dies greift die Qualität der Schulen an. Dafür werden am Ende wir Lehrerinnen
und Lehrer verantwortlich gemacht.
Es fehlen vor allem auch Männer im Lehrerberuf.
Das ist richtig. Es ist wichtig, dass Kinder auch
mit Lehrern in Kontakt kommen. Dass es weniger Männer im Beruf gibt, hat wohl
auch damit zu tun, dass sich Männer stärker mit Karriere oder Lohnentwicklung
auseinandersetzen. Im Lehrerberuf kann man sich nur in geringem Masse beruflich
weiterentwickeln. Daneben mangelt es an gesellschaftlicher Anerkennung. Es ist
bis heute nicht gelungen, sichtbar zu machen, was Lehrerinnen und Lehrer alles
leisten. Wenn man als Ferientechniker und ewiger Besserwisser abgestempelt wird,
ist es nicht attraktiv, den Job zu ergreifen.
Welche Themen stehen sonst an?
In meinen Augen muss etwas bei der Frühförderung
geschehen, also im Alter von 1 bis 4 Jahren. Dies ist eigentlich nicht unser
Gebiet, aber die Schule ist mit der Tatsache konfrontiert, dass vermehrt Kinder
in den Kindergarten kommen, die nicht richtig Deutsch sprechen oder nicht
sozialisiert sind. Man kann kaum mit diesen Kindern kommunizieren, oder sie
sind es nicht gewohnt, sich mit anderen Kindern auseinanderzusetzen.
Ist es wirklich eine Aufgabe des Staates, dies zu
leisten?
Klar kann man sagen, dass dies den Staat nichts
angeht und die Eltern verantwortlich sind. Die Realität sieht einfach anders
aus: Es gibt Kinder, die Unterstützung brauchen, bevor sie in den Kindergarten
kommen. Sie müssen eine Hilfestellung erhalten, Deutsch zu lernen und mit
anderen Kindern in Kontakt zu treten. Es geht nicht darum, alle gleich zu
machen. Es geht um eine Starthilfe ins Leben.
Ebenso umstritten sind Tagesstrukturen.
Ich finde das überhaupt keine umstrittene Sache.
Aber ja, in der Tat gibt es immer noch Leute, die meinen, man solle halt zu
Hause bleiben, wenn man Kinder haben will. Diese Zeiten sind vorbei. Die
Schweiz muss in Sachen Tagesstrukturen und Kinderbetreuung unbedingt
vorwärtsmachen. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Es ist ein grosser Effort,
zu arbeiten, wenn man gleichzeitig Kinder zu Hause hat. Es geht ja nicht darum,
dass der Staat alles kostenlos zur Verfügung stellt. Aber es sollte so
ausgestaltet sein, dass Familie und Beruf einfacher zu vereinbaren sind.
Wie wird sich die Schule künftig entwickeln?
Die Schule wird nicht umgepflügt. Aber die
Digitalisierung wird Veränderungen bringen. Der Computer wird im Unterricht
mehr eingesetzt werden. Das kann Möglichkeiten eröffnen, den Unterricht
individueller zu gestalten. Gleichzeitig werden das soziale Lernen, die
Kreativität, eigene Lösungswege zu finden, wichtiger.
Wie verändert die Digitalisierung die Schule
konkret?
Alle reden von Digitalisierung, aber niemand weiss,
wo sie hinführt. Wir können etwa noch nicht mit Sicherheit sagen, wie sich
bestehende Berufe verändern. Trotzdem müssen die Schülerinnen und Schüler auf
ihr späteres Berufsleben vorbereitet werden. Das finde ich eine grosse
Herausforderung.
Ist die Schule vorbereitet?
Die Frage ist: Können wir mit den Ressourcen, die
wir erhalten, die Erwartungen der Gesellschaft erfüllen? Man hat bei den
Fremdsprachen auch Erwartungen geschürt, die wir mit den vorgegebenen Lektionen
nicht erfüllen können.
Das heisst, die Erwartungen sind höher als die
Mittel?
Das kann man generell so nicht sagen. Aber je nach
Kanton und Gemeinde ist die Situation sehr unterschiedlich. Damit man die
Geräte im Unterricht wirklich effektiv einsetzen kann, muss jeder Schüler, jede
Schülerin ein Gerät zur persönlichen Nutzung erhalten. Es braucht gut
ausgerüstete Schulhäuser, in denen das Internet zuverlässig funktioniert. Es
braucht sowohl technischen also auch pädagogischen Support vor Ort. Bis es so
weit ist, dauert es jedoch noch, auch weil nicht jede Gemeinde sofort
investieren kann.
In elf Kantonen laufen Petitionen zur freien
Schulwahl.
Dies ist eine Bewegung, die uns Sorgen bereiten
muss. Die staatliche Volksschule ist eine wichtige Komponente unserer
demokratischen Gesellschaft. Sie sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche aus
allen Schichten und mit unterschiedlichen Leistungsniveaus gemeinsam zur Schule
gehen. Dieses Zusammenleben widerspiegelt unsere Gesellschaft. Sollte jeder
selbst entscheiden, wo sein Kind in die Schule geht, fördert dies eine Zweiklassengesellschaft.
Es könnte ja den Wettbewerb unter den Schulen
positiv anheizen.
Ein Stück weit ist dieser Gedanke nachvollziehbar.
Aber es funktioniert höchstens in der Theorie. Freie Schulwahl benachteiligt
die ländlichen Gegenden und gefährdet die Chancengerechtigkeit und den sozialen
Zusammenhalt. Es ist ein städtisches Konzept, das Reiche bevorzugt.
Man hört von Helikoptereltern oder Eltern, die sich
nicht um ihre Kinder kümmern.
Mit 80 Prozent der Eltern unserer Schülerinnen und
Schülern ist die Zusammenarbeit sehr gut. Wir nennen sie gerne unsere «critical
friends». Dann gibt es einige wenige, die uns das Leben schwermachen, da sie
sich nicht um ihre Kinder kümmern. Diese kommen übermüdet, ohne Frühstück oder
ohne gemachte Hausaufgaben in die Schule. Und ja, es gibt auch Eltern, bei
denen wir keine Chance haben, etwas richtig zu machen, weil es um ihr Kind
geht, das nur das Beste verdient.
Das ist ja nicht falsch.
Natürlich ist es zu begrüssen, wenn Eltern das
Beste für ihr Kind wollen. Es ist auch richtig, dass man sich als Eltern in der
Schule meldet, wenn etwas schiefläuft. Aber es ist schwierig für uns, wenn das
Beste einfach das ist, was die Eltern wollen, und Lehrerinnen und Lehrer keine
Chance haben, etwas richtig zu machen. Es gibt eine Tendenz, dass man versucht,
den Kindern alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Das ist kein Gefallen,
der da fürs Kind geleistet wird, denn irgendwann muss es selber in der grossen
weiten Welt bestehen.
Die Schule steht oft im Fokus der Politik. Sie soll
viele gesellschaftliche Probleme lösen.
Wir müssen unglaublich viel unter einen Hut
bringen. Die Ansprüche an die Schulen sind stetig gewachsen und damit ihre
Aufgaben: vom Velofahren über Zähneputzen, die Ernährung bis zum Littering. Man
muss dies zurückbinden. Irgendwann übersteigt sonst der Auftrag an die Schule
deren Kapazität. Es können nicht alle gesellschaftlichen Probleme in der Schule
behoben werden.
Wie haben Sie Ihren ersten Monat als höchste
Lehrerin erlebt?
Ich hatte ja ein Jahr Zeit, um mich und meine
Familie auf die Veränderung vorzubereiten. Trotzdem war es ein Sprung ins kalte
Wasser. Im Moment bin ich noch daran, viele neue Gesichter, Themen, Abkürzungen
und Arbeitsfelder kennen zu lernen, aber ich finde es sehr spannend.
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