In seinem Kommentar «DieVisionen der ‹Bildungsrevolutionäre› sind intellektuell
unbedarft» (NZZ 27. 8. 19) blickt Konrad Paul Liessmann mit einiger
Skepsis auf Reformprozesse, die derzeit als Folge der Digitalisierung an den
Schulen umgesetzt werden. Selber seit Jahren im Lehrberuf tätig und an
Schulreformen, die uns nicht immer zielführend erscheinen, gewöhnt, sind wir
grundsätzlich dankbar für diese kritischen Worte. Liessmann schiesst aber über
das Ziel hinaus, wenn er im Zusammenhang mit dem Einbezug der neuen Medien in
den Unterricht von einer «Verachtung des Wissens» und von der
«Infantilisierung» der Schülerinnen und Schüler spricht.
Neue Medien als Chance für einen zeitgemässen Schulunterricht, NZZ, 31.8. von Stefan Hofer-Krucker Valderrama und Rémy Kauffmann
Auf die heutige Welt vorbereiten
Schule ist Teil der
heutigen Realität, soll deshalb unter den gleichen Bedingungen stattfinden wie
diese, das heisst mit den gleichen Mitteln und Medien, und den Kindern und
Jugendlichen derart das Rüstzeug mitgeben, um in der Welt bestehen zu können.
Verändert sich diese Welt, so muss sich entsprechend auch die Schule verändern.
Das heisst nicht, dass alles Aufgebaute verworfen werden muss. Auch im
digitalen Zeitalter sind Phasen, die in packender Weise frontal gestaltet sind,
sinnvoll. Wissen und schulischer Wissensaufbau sind nicht obsolet, im
Gegenteil. Mit den Worten der Kognitionspsychologin Elsbeth Stern: «Wissen
schlägt Intelligenz.» Auf die Digitalisierung der Gesellschaft bezogen: Es
braucht Wissen darüber, wie das Internet und wie die sozialen Netzwerke
funktionieren, wie eine Suchmaschine arbeitet, was mit «KI» genau gemeint ist
oder wie Fake-News generiert werden und welche gesellschaftlichen Folgen damit
verbunden sind.
Ein kritischer Blick ist
gerade heute und gerade hinsichtlich der technologischen Entwicklung besonders
wichtig. Die neuen Medien sollten daher in der Schule ganz selbstverständlicher
Lerngegenstand sein. Tatsächlich wird dies seit der Einführung des Lehrplans 21
an der Volksschule auch umgesetzt: Das neue Fach «Medien und Informatik» und
das Lehrmittel «connected», das begleitend eingesetzt wird, unterstützen Kinder
ab der fünften Klasse darin, einen differenzierten und kritischen Umgang mit
digitalen Medien zu entwickeln. Dies ist nicht zuletzt angesichts der Tatsache
zentral, dass Jugendliche in der Schweiz heute im Schnitt vier Stunden online
sind. Der profunde Wissensaufbau in diesem Bereich wirkt damit nicht zuletzt
auch als Prävention gegen mögliches Suchtverhalten und schützt davor, Opfer von
Mobbing oder anderer Verbrechen zu werden.
Medien sind Lehr- und Kommunikationsmittel
Neue Medien sind aber
nicht nur als Gegenstand der intellektuellen Auseinandersetzung in der Schule
unabdingbar; sie leisten auch wertvolle Dienste, um Lernprozesse zu begleiten
und zu befördern – vor allem auch dann, wenn Lernen als dialogischer Prozess verstanden
wird, im Sinne eines intensiven Austauschs zwischen der Lehrperson und den
Lernenden, aber auch unter den Lernenden selber. Hier bieten die neuen Medien
vielfältige Möglichkeiten, die Schülerinnen und Schüler aktiv einzubinden und
sie aus ihrer Rolle als passive Rezipierende zu befreien. Sie erhalten mehr
Wahlfreiheiten und mehr Mitbestimmungsrecht, verfolgen (auch) persönliche
Lernziele und sind wesentlich (mit-)verantwortlich für den eigenen Wissens-
und Kompetenzaufbau. Und sie sind nicht zuletzt gefordert, sich mit eigenen
Ressourcen und eigenen Produkten in den Unterricht einzubringen. Es entstehen
auf diese Weise Podcast-Beiträge über ein historisches Thema, Reportagen zu
einer aktuellen Abstimmungsfrage, Infografiken zu einem biologischen Sachverhalt
oder Bildstrecken zu einem literarischen Text.
Der Einbezug von «avancierten technischen und didaktischen Möglichkeiten», der
Liessmann vorschwebt, ist heute an der Schule also tatsächlich unabdingbar. Und
hierzu gehören nicht zuletzt die digitalen Medien, die wir dann tatsächlich als
Chance für die Schule verstehen, wenn die Lehrperson das schulische Lernen
dialogisch, interaktiv und produktorientiert organisiert. Denn in einem solchen
Rahmen wirken die neuen Medien lernförderlich und spielen damit ihr grosses
Potenzial aus.
Stefan
Hofer-Krucker Valderrama lehrt an der Kantonsschule Enge in Zürich und ist
Fachdidaktiker an der Universität Zürich; Rémy Kauffmann lehrt
an der Kantonsschule Baden und beschäftigt sich seit Jahren vertieft mit dem Einsatz
von digitalen Medien im Unterricht.
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