Phrasen und Leerformeln der Bildungsrevolutionäre kosten nichts
Der Sommer neigt sich
seinem Ende zu, die Schulen öffnen wieder ihre Pforten, und die Bildungsrevolutionäre
hämmern in die Tasten. Mit schöner Regelmässigkeit wird die ohnehin von
Dauerreformen geplagte Schule der Gegenwart ihres Ungenügens überführt, und es
werden Visionen entwickelt, von denen man nicht zu sagen wüsste, was schlimmer
ist: ihre intellektuelle Unbedarftheit oder die Vorstellung ihrer Realisierung.
Die Visionen der "Bildungsrevolutionäre" sind intellektuell unbedarft, NZZ, 27.8. von Konrad Paul Liessmann
Derzeit dominieren zwei Konzepte die Köpfe der Bildungsrevolutionäre. Das eine
könnte man «Erlösung durch Technik» nennen. Alles wird besser, wenn endlich die
Digitalisierung in den Klassenzimmern Einzug gehalten hat. Dass die kritische
Begleitmusik, die seit geraumer Zeit dem Digitalisierungsdiskurs folgt, von den
Bildungsexperten geflissentlich überhört wird, zeugt davon, dass es ihnen
durchwegs an jenem kritischen Sensorium mangelt, das sie sonst unter dem
Stichwort Medienkompetenz gerne einmahnen. Im blauäugigen Vertrauen in eine
digitale Welt, in der niemand mehr etwas wissen muss, weil sich alles im
Internet findet, drückt sich weniger eine didaktische Perspektive als vielmehr
eine veritable Verachtung des Wissens aus, die umso paradoxer erscheint, als ja
angesichts der Lügen und Halbwahrheiten in den sozialen Netzwerken gerne vor
dem Verlust der Urteilskraft gewarnt wird.
Das andere Konzept liesse
sich trefflich unter dem Titel «Erlösung durch Infantilisierung»
zusammenfassen. Alles wird besser, wenn Lehrer und andere Erwachsene endlich
damit aufhören, Kinder und Jugendliche zu belehren, und diese individuell,
selbstbestimmt und ihren Interessen folgend tun und lassen können, was sie
wollen. Herkömmliche Strukturen müssen deshalb aufgelöst, Schulen in
«Lernhäuser» umgewandelt, die Fächer und Disziplinen abgeschafft und in
«Projekte» transformiert werden. Dass der Erfolg einer wissensbasierten Kultur
auch von einer Ökonomie des Lernens abhängt, die es erlaubt, sich etwas in
kurzer Zeit – etwa durch einen spannenden Frontalunterricht – anzueignen, was
andere in mühsamer Arbeit zusammengetragen haben, wird dabei vergessen.
Es lohnt sich, kurz bei dem Phantasma des interessengeleiteten Lernens zu
verweilen. Dieses unterschlägt nämlich, dass die Herausbildung von Interessen
selbst das Resultat eines Lernprozesses ist, der nicht zuletzt von den
Fähigkeiten und dem Einsatz der Lehrpersonen abhängt, mit denen Kinder und
Jugendliche konfrontiert werden. Man könnte Schule geradezu umgekehrt als jene
Institution beschreiben, die die Aufgabe hat, junge Menschen mit Dingen bekannt
zu machen, die sie nicht kennen und für die sie sich (noch) nicht
interessieren. Dass dies auch mit den avancierten technischen und didaktischen
Möglichkeiten versucht werden soll, versteht sich eigentlich von selbst.
Wer sich einmal in einige
Gebiete der Kultur und des Wissens vertieft hat, weiss, dass es nahezu nichts
gibt, was nicht interessant werden könnte. Keine Vorgaben zu machen, keine
Leistungsanreize zu bieten, sondern auf die irgendwie zustande gekommenen
Interessen und intrinsischen Motivationen der Schüler zu hoffen, schreibt auch
deren von infantilen Regungen dominierten Bewusstseinszustand fest. Ähnlich
unsinnig ist die Vorstellung, in Schulen nur noch das zu vermitteln, was später
einmal gebraucht werden kann. Kultur bedeutet schlechthin, mehr zu wissen und
auch anderes zu tun als das Notwendige.
Die grossen Revolutionen
im Bildungsbereich zu verkünden, ist wohlfeil. Phrasen und hochtrabende
Leerformeln kosten nichts. Diese billige Bildung, setzt sie sich in den Köpfen
von Entscheidungsträgern und Lehrpersonen einmal fest, wird uns aber noch teuer
zu stehen kommen.
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