28. August 2019

Phrasen und Leerformeln der Bildungsrevolutionäre kosten nichts

Der Sommer neigt sich seinem Ende zu, die Schulen öffnen wieder ihre Pforten, und die Bildungsrevolutionäre hämmern in die Tasten. Mit schöner Regelmässigkeit wird die ohnehin von Dauerreformen geplagte Schule der Gegenwart ihres Ungenügens überführt, und es werden Visionen entwickelt, von denen man nicht zu sagen wüsste, was schlimmer ist: ihre intellektuelle Unbedarftheit oder die Vorstellung ihrer Realisierung.

Die Visionen der "Bildungsrevolutionäre" sind intellektuell unbedarft, NZZ, 27.8. von Konrad Paul Liessmann


Derzeit dominieren zwei Konzepte die Köpfe der Bildungsrevolutionäre. Das eine könnte man «Erlösung durch Technik» nennen. Alles wird besser, wenn endlich die Digitalisierung in den Klassenzimmern Einzug gehalten hat. Dass die kritische Begleitmusik, die seit geraumer Zeit dem Digitalisierungsdiskurs folgt, von den Bildungsexperten geflissentlich überhört wird, zeugt davon, dass es ihnen durchwegs an jenem kritischen Sensorium mangelt, das sie sonst unter dem Stichwort Medienkompetenz gerne einmahnen. Im blauäugigen Vertrauen in eine digitale Welt, in der niemand mehr etwas wissen muss, weil sich alles im Internet findet, drückt sich weniger eine didaktische Perspektive als vielmehr eine veritable Verachtung des Wissens aus, die umso paradoxer erscheint, als ja angesichts der Lügen und Halbwahrheiten in den sozialen Netzwerken gerne vor dem Verlust der Urteilskraft gewarnt wird.


Das andere Konzept liesse sich trefflich unter dem Titel «Erlösung durch Infantilisierung» zusammenfassen. Alles wird besser, wenn Lehrer und andere Erwachsene endlich damit aufhören, Kinder und Jugendliche zu belehren, und diese individuell, selbstbestimmt und ihren Interessen folgend tun und lassen können, was sie wollen. Herkömmliche Strukturen müssen deshalb aufgelöst, Schulen in «Lernhäuser» umgewandelt, die Fächer und Disziplinen abgeschafft und in «Projekte» transformiert werden. Dass der Erfolg einer wissensbasierten Kultur auch von einer Ökonomie des Lernens abhängt, die es erlaubt, sich etwas in kurzer Zeit – etwa durch einen spannenden Frontalunterricht – anzueignen, was andere in mühsamer Arbeit zusammengetragen haben, wird dabei vergessen.

Es lohnt sich, kurz bei dem Phantasma des interessengeleiteten Lernens zu verweilen. Dieses unterschlägt nämlich, dass die Herausbildung von Interessen selbst das Resultat eines Lernprozesses ist, der nicht zuletzt von den Fähigkeiten und dem Einsatz der Lehrpersonen abhängt, mit denen Kinder und Jugendliche konfrontiert werden. Man könnte Schule geradezu umgekehrt als jene Institution beschreiben, die die Aufgabe hat, junge Menschen mit Dingen bekannt zu machen, die sie nicht kennen und für die sie sich (noch) nicht interessieren. Dass dies auch mit den avancierten technischen und didaktischen Möglichkeiten versucht werden soll, versteht sich eigentlich von selbst.

Wer sich einmal in einige Gebiete der Kultur und des Wissens vertieft hat, weiss, dass es nahezu nichts gibt, was nicht interessant werden könnte. Keine Vorgaben zu machen, keine Leistungsanreize zu bieten, sondern auf die irgendwie zustande gekommenen Interessen und intrinsischen Motivationen der Schüler zu hoffen, schreibt auch deren von infantilen Regungen dominierten Bewusstseinszustand fest. Ähnlich unsinnig ist die Vorstellung, in Schulen nur noch das zu vermitteln, was später einmal gebraucht werden kann. Kultur bedeutet schlechthin, mehr zu wissen und auch anderes zu tun als das Notwendige.

Die grossen Revolutionen im Bildungsbereich zu verkünden, ist wohlfeil. Phrasen und hochtrabende Leerformeln kosten nichts. Diese billige Bildung, setzt sie sich in den Köpfen von Entscheidungsträgern und Lehrpersonen einmal fest, wird uns aber noch teuer zu stehen kommen.

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