Flüchtlingskinder besuchen in Graubünden teilweise
jahrelang nicht die Volksschule, sondern werden direkt in den Asylzentren
unterrichtet, wie Radio SRF berichtete. Dies sorgt für Kritik von vier
renommierten Fachleuten, aber auch für Diskussionen in der Politik.
Fachleute kritisieren die Schulen in Bündner Asylzentren, SRF, 28.8 von Stefanie Hablützel
Fachleute kritisieren dieses Bündner Modell. Der
Grundsatz, das Wohl des Kindes in den Vordergrund zu stellen, werde «in
untragbarer Weise verletzt».
In einem Brief an die Regierung fordern sie, dass
Kinder und Jugendliche spätestens nach einem Jahr die Volksschule besuchen.
Vor den Sommerferien dieses Jahres schlugen
besorgte Eltern Alarm. Sie erzählten Radio SRF von ihren Sorgen um die Zukunft
ihrer Kinder (siehe «Passend zum Thema»)
Aufgrund der Berichterstattung melden sich nun
mehrere Fachleute zu Wort. In einem Brief an die Bündner Regierung fordern sie
Reformen. Initiantin des Briefs ist Bettina Looser von der Pädagogischen
Hochschule Schaffhausen. Sie seien vier Fachleute, «die sich seit Jahren mit
geflüchteten Kindern und deren Bildung befassen».
Im Brief an die Regierung – der Radio SRF vorliegt
– kritisieren sie, dass die Kinder in Bündner Asylzentren länger als ein Jahr
separat in speziellen Klassen unterrichtet werden. Ziel müsse sein, dass geflüchtete
Kinder so gut wie möglich die Sprache lernen, sagt Looser. Doch «bei einem
Verbleib in der Heimschule länger als ein Jahr ist das einfach nicht gegeben».
Wenn nur die Lehrerin richtig Deutsch
kann
Laut den aktuellen Zahlen des Bündner
Migrationsamts besuchen mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen die
heiminterne Schule länger als zwei Jahre.
Wenn im Schulzimmer die Lehrerin die einzige Person
sei, die gut Deutsch könne, dann würden die Kinder langsamer lernen, sagt auch
Mitunterzeichner Andrea Lanfranchi. Der Puschlaver ist Professor an der
Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich und Mitglied der
Eidgenössischen Kommission für Migration. «Der Kanton Graubünden muss die Praxis
überdenken und wahrscheinlich auch ändern», sagt Lanfranchi.
Kritik am Schulkonzept
Kinder bräuchten einen normalen Alltag mit Schulweg
und einem Pausenplatz zum spielen, das alles fehle während Jahren. Der
Heilpädagogikprofessor kritisiert auch, dass laut Schulkonzept die Lehrperson
normalerweise zwei Stunden pro Monat von einer Heilpädagogin unterstützt wird.
Das sei viel zuwenig, «vor allem bei Kindern, deren Familien geflüchtet sind».
Statt zwei Stunden pro Monat müssten es zwei Stunden pro Tag sein, sagt Andrea
Lanfranchi.
Unterschrieben hat den Brief auch die Ärztin Fana
Asefaw sowie der Bildungsexperte Markus Truniger. Die NZZ hatte ihn 2017 bei
seiner Pensionierung als «Pionier für Deutschförderung» im Kanton Zürich
bezeichnet. Der frühere Mitarbeiter der Zürcher Bildungsdirektion bemängelt das
Bündner Modell. Die Interessen der Kinder seien zweitrangig, der Reformbedarf
gross.
Zürcher Modell als Vorbild?
Truniger sagt, er habe den Brief auch
unterschrieben, «weil ich dank meiner jahrelangen Berufserfahrung im Kanton
Zürich weiss, dass es auch anders geht». Im Kanton Zürich würden die Kinder ein
Jahr lang intensiv Deutsch in einer Vorbereitungsklasse lernen und dann die
normale Volksschule besuchen. Der Bildungsexperte sagt aber auch, das
funktioniere nur, wenn die Schulen die nötigen Ressourcen dafür hätten.
Die Forderung der Fachleute ist bei der Bündner
Regierung angekommen. «Wir haben den Brief zur Kenntnis genommen», sagt der
zuständige Regierungsrat Peter Peyer. «Wir haben derzeit ein anderes Regime in
Graubünden, wir glauben, dass wir damit nicht schlecht gefahren sind». Er
rechne jedoch mit einem Vorstoss aus dem Grossen Rat, der einen Regimewechsel
verlangt, sagt Peyer weiter: «Wenn wir diesen Vorstoss haben, werden wir ihn
prüfen».
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen