Die Schweizer Elternlobby
fordert seit Jahren die freie Schulwahl. Die neue Lehrerpräsidentin Dagmar
Rösler befürchtet, dass das schlecht ist für die Chancengerechtigkeit und die
soziale Entmischung verstärkt.
"Die freie Schulwahl würde die Volksschule massiv schwächen", Bluewin.ch, 21.8.
Frau Rösler, leistungsstarke Bildungssysteme haben ein
gemeinsames Merkmal: Schulautonomie. Was ist damit gemeint?
Schulautonomie bezieht
sich auf die Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb des
bestehenden öffentlichen Schulsystems. Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer
Schweiz und das Syndicat des Enseignants romands begrüssen es, dass Schulen
ihre eigenen Profile und Kulturen entwickeln. Durch die geleiteten Schulen mit
grösserer Autonomie gibt es heute bessere Anpassungsmöglichkeiten an lokale
Interessen und Bedürfnisse der Eltern. Aus diesem Grund fordern wir, dass
Schulleitungen die Ressourcen und eine angemessene Autonomie erhalten, um ihre
Schule zu gestalten und zu entwickeln. Lehrpersonen brauchen auf allen Stufen
die Freiheit, für ihre Klassen geeignete Lehrmittel und Lehrmethoden bestimmen
zu können.
Was ist der Unterschied zur freien Schulwahl, wie es die
Schweizer Elternlobby in kantonalen Petitionen fordert?
Hinter der Forderung nach
freier Schulwahl steht die neoliberale Sichtweise, dass die Eltern als «freie
Kunden» die Schule auswählen können und die Schulen untereinander dadurch in
Konkurrenz geraten. Es ist gefährlich, die öffentlichen Schulen, die einen
Grundpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft darstellen, wie
profitorientierte Unternehmen zu behandeln. Die öffentlichen Schulen sind ein
Kernstück des Service public und sind verpflichtet, ausreichende Grundbildung
für alle Kinder anzubieten. Künstliche Konkurrenz unter den Schulen ist
unproduktiv und schwächt das System, da so zunehmend Ressourcen für Marketing
statt Bildung eingesetzt werden müssten. Wir lehnen die Forderungen nach freier
Schulwahl kategorisch ab.
Durch die freie Schulwahl würden Eltern und Schüler zu Kunden,
was Schulen dazu zwingt, um sie zu werben und ihre Anliegen ernst zu nehmen.
Dieser Wettbewerb soll die Schulen besser machen. Eignet sich die Volksschule
denn für den freien Wettbewerb?
Eben nicht! Nochmals: Die
öffentliche Schule ist kein Unternehmen und darf nicht nach
marktwirtschaftlichen Prinzipien regiert werden. Durch eine «freie» Schulwahl
würde das Volksschulsystem der Schweiz geschwächt und unterwandert, damit
einige Wenige zum Schaden vieler profitieren könnten.
Freie Schulwahl und mit ihr staatlich bezuschusster
Privatschulbesuch sollte gemäss den Initianten aber genau das Gegenteil bewirken:
So entstehe Chancengleichheit zwischen Arm und Reich, die individuelle Auswahl
der für ein Kind passendsten Schule ermöglichen und die bestmögliche Förderung
im Unterricht erreichen. Sind diese Ziele realistisch?
Die Forderung nach freier
Schulwahl würde bedeuten, dass Steuergelder von der öffentlichen Schule
abgezogen würden. Das würde die Volksschule massiv schwächen. Empirische
Studien aus anderen Ländern zeigen, dass Charter Schools nicht generell bessere
Leistungen hervorbringen, aber dafür das gesamte Bildungssystem gefährden,
indem sie die Chancengerechtigkeit verschlechtern und zu mehr sozialer
Segregation führen. Kurz gesagt: Die Privatisierung der Volksschule würde zu
einer Verteuerung des Bildungssystems führen sowie grossen Schaden an den
demokratischen Grundwerten und am hohen Bildungsniveau für alle
Bevölkerungsschichten in unserem Land anrichten.
Inwiefern würden einkommensschwächere Familien durch eine freie
Schulwahl sogar benachteiligt?
Die Behauptung der
Initianten, dass freie Schulwahl auch benachteiligten Familien erlauben würde,
ihre Kinder in andere Schulen zu senden, trifft nicht zu. Einerseits erfordert
die Wahl der Schule ein vertieftes Verständnis des Bildungssystems. Und hier
sind bildungsferne Familien benachteiligt, da sie nicht über solche
Informationen verfügen. Momentan haben wir in der Schweiz aber ohnehin keine
Messwerte, welche einen direkten Vergleich zwischen Schulen ermöglichen würde.
Ausserdem zeigen empirische Studien aus anderen Ländern, dass für den Besuch einer
besseren, aber weit entfernten Schule sowohl Zeit als auch Geld aufgewendet
werden müssen. Hier dürfen nicht die Fehler anderer Länder wiederholt werden!
Die Möglichkeiten und der Wille, diese Kosten zu tragen, unterscheiden sich
zwischen Eltern mit einem hohen und niedrigen Sozialstatus. Dies hätte zur
Folge, dass Kinder aus bildungsnahen und bildungsfernen Familien, auch wenn sie
im selben Quartier wohnen, zunehmend in andere Schulen gehen würden.
Und eine soziale Durchmischung von Klassen ist wichtig?
Ja. Dass Kinder aus allen
Schichten zusammenkommen und so voneinander lernen, ist die Stärke der
staatlichen Schulen. Eine freie Wahl der Grundschule durch Eltern verschärft
nach Ansicht von Experten jedoch die soziale Spaltung der Gesellschaft, die
Entstehung von Parallelgesellschaften und die Gettoisierung der Volksschule.
Gibt es denn keine Beispiele, die zeigen, dass die freie
Schulwahl die Durchmischung beziehungsweise den sozialen Ausgleich auch fördern
kann?
Zahlreiche Studien aus
verschiedenen Ländern zeichnen ein deutliches Bild: Die freie Schulwahl führt
zu einer sozialen Segregation. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die
Wahl einer Schule oftmals nicht eine pädagogische, sondern eine soziale Wahl
ist. Bildungsnahe Eltern wählen – bewusst oder unbewusst – meist Schulen,
welche vor allem von Kindern aus anderen bildungsnahen Familien besucht werden.
Auch internationale Organisationen wie die Unesco und Education International
(EI) warnen eindringlich davor, dass die Privatisierung und Kommerzialisierung
der öffentlichen Schulen durch freie Schulwahl die Chancengerechtigkeit und
soziale Durchmischung der Schulen gefährdet. Dadurch wird der soziale
Zusammenhalt unserer Gesellschaft geschwächt.
Welche staatlichen Massnahmen bräuchte es, wenn das Schulsystem
flexibler im Sinne von freier wäre, um die Qualität sicherzustellen?
Um die Qualität von
«freien Schulen», welche dem Lehrplan 21 oder dem Plan d’étude (PER)
verpflichtet sind, zu sichern, müssten komplexe und kostspielige
standardisierte Tests durchgeführt werden.
Kann die Ablehnung der freien Schulwahl durch das Stimmvolk –
mehrere Volksinitiativen wurden in den vergangenen Jahren an der Urne versenkt
– durch diese einigermassen widersprüchliche Mischung aus Liberalismus und
Staatsintervenismus zur Sicherung der Qualität erklärt werden?
Die wiederholte deutliche
Absage an der Urne zeigt, dass es sich bei der Forderung nach «freier
Schulwahl» um die Partikularinteressen einer kleinen Gruppe handelt, welche
nicht das Wohl des gesamten Bildungssystems im Sinne hat. Weder die
Elternschaft noch die Privatschulen stehen geschlossen hinter dieser
Initiative. Es ist ein deutliches Signal, dass die «freie Schulwahl» in der
Schweiz nicht mehrheitsfähig ist. Die breite Allianz für eine starke Volksschule,
von links bis rechts, von der SVP bis zur SP, vom Gewerbeverband bis zum
Gewerkschaftsbund, ist ein Beleg dafür, dass die Volksschule als Basis unseres
Bildungssystems einem breiten gesellschaftlichen Konsens entspricht.
Geniesst die Volksschule noch das Vertrauen der Bevölkerung?
Die starke öffentliche
Schule ist eine bedeutende, historische Errungenschaft der Schweiz. Im
Unterschied zu anderen Ländern besucht in der Schweiz die überwiegende Mehrheit
der Kinder die öffentliche Schule. Es gehört zur Rhetorik neoliberaler Kreise,
unsere öffentlichen Institutionen – und dazu gehört auch die Volksschule –
schlechtzureden. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die öffentlichen Schulen
in der Schweiz leisten eine hervorragende Arbeit auf hohem Niveau, wie sich regelmässig
in internationalen Vergleichsstudien zeigt. Umfangreiche Vergleichsstudien
legen klar dar, dass private Schulen nicht besser sind als unsere Volksschule.
Eine «Privatisierung» des Bildungswesens würde die Qualität also nicht
verbessern – im Gegenteil. Wie die Abstimmungsresultate gezeigt haben, geniesst
die Volksschule ein starkes Vertrauen und Unterstützung der breiten
Bevölkerung.
Und schliesslich: Wie kann die Qualität an den Volksschulen auch
in Zukunft sichergestellt und wie Durchmischung gefördert werden?
Die Volksschule ist ein
wichtiger Ort für den sozialen Zusammenhalt in einer demokratischen
Gesellschaft. Die verfassungmässig garantierte Unentgeltlichkeit der
Grundbildung ermöglicht einen chancengerechten Zugang zu Bildung. Die Schulen leisten
auch eine zentrale Rolle bei der Integration von aus dem Ausland zugezogenen
Kindern. Die Volksschule kann diese Aufgaben aber nur mit den entsprechenden
Ressourcen leisten. Dazu gehört eine zeitgemässe Infrastruktur sowie gute
Anstellungsbedingungen für Lehrpersonen. Hochqualifizierte Lehrpersonen sind
das Kernstück einer erfolgreichen Schule. Die beruflichen Rahmenbedingungen,
dazu gehören unter anderem Löhne, Arbeitszeiten und Laufbahnentwicklungen,
müssen so gestaltet werden, dass qualifizierte junge Leute den Lehrberuf
ergreifen und langfristig ausüben wollen und können.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
Die "freie" Schule ist ein neoliberales NPM-Projekt. Milton Friedman plädierte erstmals 1955 für eine alternative Bildungsfinanzierung durch die Einführung von Bildungsgutscheinen. Die Chicago Boys, jene radikalen Ökonomen, die an der University of Chicago studiert hatten und die monetaristischen Theorien ihres Gurus Milton Friedman konnten diese ab 1975 unter der Diktator in Chile "ausprobieren". In Chile sind Bildungsgutscheine ab 1981 weiträumig eingesetzt worden und haben zur Schaffung von über 1000 Privatschulen geführt. Eine 2005 veröffentlichte Studie über die Folgen zeigte nicht eine objektive Verbesserung der Lernergebnisse, sondern eine deutliche Trennung der Schülerschaft auf. Gutschein-Experimente in Dayton, Milwaukee scheinen das Ergebnis zu bestätigen. Deswegen sehen viele Wissenschaftler Bildungsgutscheine nicht als geeignetes Mittel an, um die Schulleistungen benachteiligter Gruppen zu verbessern.https://de.wikipedia.org/wiki/Bildungsgutschein#Das_klassische_Gutscheinmodell_von_Milton_Friedman
AntwortenLöschen