Heute
Morgen heisst es für die Zürcher Kinder wieder still sitzen und aufpassen. Zum
ersten Schultag gibt es aber auch für die kantonale Bildungspolitik eine
Herausforderung, denn der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband (ZLV)
präsentiert einen neuen Forderungskatalog. Im Fokus diesmal: die zu grossen
Schulklassen in der 4. bis 6. Klasse der Primarschule - auch Mittelstufe
genannt.
Lehrer und Experten streiten um die richtige Klassengrösse, Tages Anzeiger, 19.8. von Daniel Schneebeli
In
dieser Stufe werden die Lernprozesse schneller, der Stoff anspruchsvoller, und
die Kinder kommen langsam in die Vorpubertät. Gleichzeitig steigt die Zahl der
wöchentlichen Lektionen von 27 auf 30, es gibt neu auch noch «Medien und
Informatik», und dann kommt noch Selektionsstress dazu: Wer muss in die Sek C,
wer schaffts ins Gymnasium?
Damit
die Lehrerinnen und Lehrer diesen Übertritt mit der nötigen Sorgfalt
vorbereiten können, finden sie eine Verkleinerung der Klassen in der
Mittelstufe zwingend. Gemäss einem eben verabschiedeten Positionspapier will
der Verband einen neuen Richtwert von 20 Kindern pro Mittelstufenklasse. Würde
eine Klasse grösser, müssten die Gemeinden Massnahmen ergreifen, so die Forderung
- im Vordergrund stehen mehr Stellenprozente für die Lehrpersonen oder die
Aufteilung der Klasse in zwei kleinere Einheiten.
54 übergrosse Klassen
Mit
dem neuen Richtwert von 20 Schülern und Schülerinnen wäre in rund 900
Mittelstufenklassen zusätzliche Unterstützung nötig, oder sie müssten
aufgeteilt werden. Mit der heutigen Regelung sind Sondermassnahmen offiziell
erst ab Klassengrössen von 26 Schülerinnen und Schülern vorgesehen. Im letzten
Jahr waren das in der Primarschule 54 Klassen, etwa die Hälfte davon sind
Mittelstufenklassen.
Für
ZLV-Präsident Christian Hugi sind die Klassen heute eindeutig zu gross. Er
selber arbeitet im Schulhaus am Wasser in Zürich. 25 Kinder gehen in seine
Unterstufenklasse. «Da fühlt sich das Zimmer ziemlich voll an, wenn alle da
sind», sagt er.
Zum
Glück wird sich dies für Hugi jetzt ändern. Denn heute eröffnet Stadtrat und
Schulvorsteher Filippo Leutenegger (FDP) in der Nachbarschaft das neue
Schulhaus Pfingstweid. So werden die Klassen im Schulhaus am Wasser etwas kleiner
- wenigstens vorübergehend. In der Klasse von Hugi und dessen Stellenpartnerin
sind es heute Morgen lediglich 15 Kinder: «Das ist angenehm wenig, doch in den
nächsten Monaten wird bestimmt noch der eine oder andere Schüler dazukommen.»
Schweizer Rekord
Für
Hugi ist die Forderung nach massiver Verkleinerung der Mittelstufenklassen aus
drei Gründen gerechtfertigt. Erstens hat die jüngste Arbeitszeiterhebung des
Schweizerischen Lehrerverbands gezeigt, dass die Zürcher Lehrpersonen in der
ganzen Schweiz am meisten Überstunden machen. Zweitens gibt es heute mit der
Integration von ehemaligen Kleinklassenschülerinnen und -schülern und mit der
Individualisierung deutlich mehr Stress und Arbeit als früher, und drittens
sind die Klassen nirgends in der Schweiz so gross wie in Zürich.
Letzteres
wird durch die aktuellsten Daten aus dem eidgenössischen Bildungsbericht
bestätigt. Selbst wenn alle äusseren Einflussfaktoren wie Urbanität oder die
Grösse des Kantonsgebiets hinausgerechnet werden, sitzen in Zürcher Schulklassen
im Schnitt vier Kinder mehr als in Bündner Klassen. Sogar im Stadtkanton Basel
liegt die durchschnittliche Klassengrösse um 0,5 Schüler tiefer als im Kanton
Zürich.
Wer
die Zahlen aus dem Kanton Zürich genauer betrachtet, sieht zudem, dass die
Schulklassen in den letzten Jahren trotz der Integration von
Kleinklassenschülerinnen und -schülern nicht kleiner geworden sind. Im
Gegenteil: Im letzten Jahr lag die durchschnittliche Klassengrösse bei 20,7
Schülerinnen, Mitte der Achtzigerjahre lag sie deutlich unter der 20er-Marke.
Grösser als heute waren die Klassen seither einzig zwischen 2005 und 2010 - als
Folge des Sparprogramms San04, das eine Vergrösserung der Schulklassen vorsah.
Trotz
dieser Statistik meint die Chefin des Volksschulamtes, Marion Völger: «Solange
unser Stellenpool nicht ausgeschöpft wird, sehe ich keinen zusätzlichen
Handlungsbedarf.» Dieser wurde vor einigen Jahren zur Unterstützung für
speziell belastete Klassen geschaffen und im Jahr 2014 per Volksentscheid sogar
noch um weitere 100 Vollzeitstellen aufgestockt.
Antrag
auf Stellenprozente aus dem Pool können Gemeinden unter anderem auch für
überdurchschnittlich grosse und schwierige Klassen beantragen. Doch die
Nachfrage nach Pool-Stellen hielt sich in den letzten Jahren in Grenzen. 2018
sei sie zwar etwas gestiegen, sagt Völger - von den 252 Poolstellen sind
letztes Jahr 221 gebraucht worden. Weiter weist Völger darauf hin, dass die
Zusammensetzung und nicht die Grösse einer Klasse ausschlaggebend ist.
Verkleinerung bringt wenig
Diese
Aussage wird wissenschaftlich gestützt durch eine Vielzahl von Studien, unter
anderem durch die bekannteste und grösste nationale Untersuchung vom Institut
für Bildungsevaluation, das eng mit der Universität Zürich zusammenarbeitet.
Institutsleiter Urs Moser betonte vor einiger Zeit in einem TA-Interview, nicht
einmal die Lehrerinnen und Lehrer seien glücklicher in kleinen Klassen.
Moser
plädiert deshalb für eine gezielte Unterstützung von Lehrpersonen mit besonders
belasteten Klassen und nicht für die generelle Verkleinerung der Klassen. Für
die Mittelstufe erachtet er 25 Kinder pro Klasse als sinnvolle Maximalgrösse.
«In grösseren Klassen wird es wirklich schwieriger, die Lernziele gleich gut zu
erreichen wie in kleineren Klassen», sagt Moser.
Der
Verband der Lehrerinnen und Lehrer ist trotzdem entschlossen, für die Senkung
der Richtgrösse für Mittelstufenklassen von 25 auf 20 zu kämpfen. Derzeit
diskutiert die Lehrerschaft, wie die Forderung aufs politische Parkett gebracht
werden könnte. Einfach wird der Kampf nicht, denn 2014 hat das Volk eine
EVP-Initiative, die die Richtgrösse in der ganzen Volksschule auf 20 Schüler
pro Klasse senken wollte, mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt. Damalige
Hauptargumente der Gegner: jährliche Mehrkosten von über 100 Millionen Franken
und ein Mehrbedarf von weit über 1000 Lehrerinnen und Lehrern.
Vorstoss im Kantonsrat
Zum
Prüfstein wird in den nächsten Monaten ein Postulat von SP-Kantonsrätin Monika
Wicki. Sie verlangt die Senkung der durchschnittlichen Klassengrösse im
Kindergarten von 19,6 auf 18,5 Kinder. Der Regierungsrat beantragt Ablehnung.
Zum Vergleich: Bereits 1984 lag die Klassengrösse bei 18,5 Kindern. Der Rekord
aus den letzten 50 Jahren stammt aus dem Jahr 2002. Damals sassen im Schnitt
nur gerade 17,2 Knirpse in einer Zürcher Kindergartenklasse.
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