Der
prägnante Schnauz. Der akkurate Haarschnitt. Die imposante Körpergrösse. Und
ja, auch das sorgfältig eingesteckte Pochettli. Beat W. Zemp ist
eine auffällige Erscheinung–jenerTyp Mensch,der in jedem Raum
unweigerlich die Blicke auf sich zieht, ohne sie zu suchen. Auch jetzt, da er auf die
Minute pünktlich die Bar des Berner Hotels Schweizerhof betritt und
zielsicher auf den für den Gesprächstermin reservierten Tisch zusteuert.
Der oberste Lehrer geht, Basler Zeitung, 16.7. von Raphaela Birrer
Zemps Auftritt wirktf reilich auch etwas aus der Zeit gefallen. Aus einer Zeit, als der
Lehrer neben dem Arzt noch als höchste Autorität im Dorf galt. Wie damals, als
der Baselbieter nach dem Studium mit Bestnoten seine erste Stelle als Mathematikund Geografielehrer antrat.
Das war 1986 am Gymnasium Liestal, und manche Schüler sprachen ihn anfangs noch
mit «Herr Lehrer» an. Nur vierJahrespäter stieg Zemp bereits zum
obersten Lehrer der Nation auf: Er wurde Präsident des Dachverbands der
Schweizer Lehrerinnen und Lehrer(LCH) –und ist es bis heute geblieben.Nun tritt er nach
29 Jahren auf Ende Juli zurück. In seiner Amtszeit haben sich die
Machtverhältnisse im Klassenzimmer jedoch fundamental verändert:Die Lehrer sind
heute für viele Eltern Lerncoachs, den Respekt der Schüler müssen
sie sich täglich hart erarbeiten, ihre Leistung wird von Schulleitern bewertet.
Doch Zemp,dieser vermeintliche Lehrer alter Schule, mag den früheren Zeiten
nicht nachtrauern.
«Lehrer dürfen zwar nicht zu Lerncoachs degradiert werden;
der Unterricht bleibt eine Zwangsveranstaltung», sagt der 64Jährige, vor ihm ein
geöffnetes Notizbuch, eine Gedankenstütze, er braucht sie nicht. «Aber vieles
ist doch besser geworden in den letzten 30 Jahren! Lehrer dürfen zum
Beispiel ihre Schüler nicht mehr ohrfeigen–das ist seit einem Bundesgerichtsentscheid
1991verboten.»
Eine Antwort auf jede Frage
Es ist eine typische Zemp Antwort: ein
knappes, aber knackiges Statement, eloquent vorgetragen, gespickt mit Detailwissen,
geprägt von den grossen bildungspolitischen Linien. Die Medien mögen Zemp für
diese schnörkellose Kommunikation. Sie gewähren ihm bald
mehr Präsenz als manchen Bundesräten. Ob Mathe-Tests, Mobbing, Handyverbot,
Lehrermangel, Schullager, Integration, Sprachaustausch oder Digitalisierung: In
der Schule, diesem Mikrokosmos der Gesellschaft, kommen alle grossen Fragen im
Kleinen zusammen – und Zemp
hält zu jeder eine rasch verwertbare Antwort bereit.
«‹20Minuten› ruft jedenTag
an»,sagt er,und in seinem Blick mischt sich Belustigung mit Stolz. Keine Frage: Der
Baselbieter weiss um seine kommunikative Stärke.Sie ist schliesslich der Grund, warum der Lehrerverband zur schlagkräftigsten Organisation im Bildungsbereich geworden
ist:Als Sprachrohr der Lehrerschaft hat Zemp sämtliche tiefgreifenden Reformen der
vergangenen 30 Jahre begleitet–und in deren Sinne geprägt. Es gibt
heute neue Fächer, überarbeitete Lehrpläne,harmonisierte Schulzyklen, integrativ
geschulte Kinder, pädagogische Hochschulen, gemanagte Schulhäuser.
Dass die 130000 Lehrerinnen und Lehrer im Land bei all den folgenreichen
Umbrüchen stets mit dieser einen Stimme sprachen, dass auch die Behörden stets diese eine Ansprechperson hatten:
Das ist Zemps jahrzehntelanger Konstanz geschuldet.
Diese Konstanz–Kritiker nennen es Dominanz – wurde ihm allerdings
zuweilen auch vorgehalten.Geradewegen
seiner
langen Amtsdauer stehe er den Behörden allzu nahe, Reformentscheide der
kantonalen Erziehungsdirektoren trage er gehorsam mit, hiess es in manchen
Lehrerkreisen hinter vorgehaltener Hand. Von Bildungspolitikern ist denn auch
nur Lob zu hören:«Beat Zemp hat in der breiten Bevölkerung das Bewusstsein geschärft,
dass Unterrichten einer der Berufe ist, die am meisten vom gesellschaftlichen
Wandel betroffen sind», sagt Christoph Eymann, ehemaliger
Basler Erziehungsdirektor. Der LDPNationalrat weiss, dass sein Lob heikel ist, «weil es
Zemp dem Verdacht aussetzt, als Gewerkschafter nicht hart genug aufgetreten zu
sein». Aber wenn es in der Summe nichts zu kritisieren gebe, wenn er ihn über
die Jahre hinweg als fairen Verhandlungspartner erlebt habe, dann sei das eben
so. Auch Silvia Steiner(CVP), Präsidentin der Erziehungsdirektorenkonferenz, zieht
eine positive Bilanz:«Beat Zemp hat die Bildungslandschaft nachhaltig geprägt.» Sie
verweist etwa auf die massgebliche
Unterstützung
des Lehrerverbands für die interkantonal harmonisierten Schulzyklen oder für den
Sprachenkompromiss, wonach ab der dritten Klasse die erste und ab der fünften Klasse die zweite
Fremdsprache unterrichtet wird.
Kritik an Personenkult
Nicht nur Zemps Rolle bei der Aushandlung von Reformen sorgte für Gesprächsstoff.
Auch sein langjähriges Kleinstpensum am Gymnasium Liestal
war umstritten: Er kenne die Sorgen von Klassenlehrern nur noch vom
Hörensagen, monierten Kritiker aus der Lehrerschaft.Als er seine Lehrtätigkeit vor
sechs Jahren ganz aufgab,sahen sie sich bestätigt: Fortan würde er sie nur noch
aus theoretischer Perspektive vertreten.
Und weil er als Person viel Raum beanspruche,stünden andere Vorstandsmitglieder in
seinem Schatten,
kolportierten die Medien verschiedentlich anonyme Stimmen. Die Zentrierung auf Zemp: Sie
grenze an Personenkult. Doch mehrheitlich sah sich gerade auch die jüngere
Generation, jene Lehrer, die
gerne im Kapuzenpulli unterrichten oder mit ihren Schülern eine
Spotify-Playlist austauschen, gut von Zemp vertreten.So schätzt etwa Philippe
Wampfler,41-jähriger-Gymnasiallehrer
in-Zürich, dessen hervorragende Öffentlichkeitsarbeit–auch wenn sich der bekannte Experte für digitale Bildung teils
pointiertere Auftritte und noch mehr Reformfreude von Zemp gewünscht hätte. «Wir
leben in einer Kultur der
Digitalität,und Kinder lernen in der Primarschule immer noch jahrelang, mit Bleistift in
Hefte zu schreiben. Die Alltagserfahrungen und schulisches Lernen klaffen heute weit auseinander»,
sagt Wampfler.Der Lehrerverband müsse diesen Wandel aktiver vorantreiben. Das Thema
habe für den LCH Priorität,
kontert Zemp mit Verweis auf die «BaslerErklärung zu digitalen Technologien an Schulen»,
die er jüngst mit den Vorsitzenden der Lehrerverbände aus Deutschland und
Österreich unterschrieben hat.Darin fordern sie bessere Rahmenbedingungen,um
die Schülerauf die digitale Weltvorzubereiten.
Die diffuse Angst der Basis
Mit den
Vorwürfen mag sich jedoch in der Basis niemand mehr befassen.Jedenfalls nicht im
Hotel Murten,wo sich der Lehrerverband zu seiner jährlichen
Delegiertenversammlung trifft. Es ist ein sonniger Juni-Samstag, Lehrer aus der
ganzen Schweiz sind in die Freiburger Seegemeinde gereist,um Beat Zemp offiziell
zu verabschieden.«Er ist mit seiner raschen Auffassungsgabe eine der
intelligentesten Personen, die ich kenne», sagt etwa Pino Mangiarratti vom
Berner Lehrerverband.«Eine beeindruckende,charismatische Persönlichkeit» nennen
ihn die Vertreter aus St. Gallen unisono. Und die Luzerner loben seine «herausragende Leistung als bestens vernetzter Gewerkschafter».
Im allgemeinen Lob, es ist von der Ost bis in die Westschweiz spürbar,
schwingt aber auch eine Angst mit: Was, wenn mit Zemps Abgang die Bedeutung des Verbands
schwindet? Wenn die Medienpräsenz abnimmt? Wenn also die Deutungsmacht des LCH
doch zu stark an diese eine Person geknüpft war?
Als wollteZemp die diffusen Befürchtungen zerstreuen, widmet er seine
allerletzte Delegiertenversammlungder Verbandskommunikation. Auf dem Podium
spricht er von Gratwanderungen («Wir müssen Missstände anprangern, dürfen aber
nicht permanent jammern»),Gelegenheiten («Überall,wo ein Mikrofon steht, reden
wir einfach rein»)–und dem Ende einer Ära.Seiner Ära. «Wenn es sein muss, schneide
ich den Schnauz am 31.Juli ab, dann ist die Marke weg», sagt erlachend. 29
Jahre am Puls des Bildungssystems:Anfragen bis in die Nachtstunden
beantworten, Strategiepläne entwickeln, an Podien teilnehmen, Bildungspolitiker
beeinflussen – immer gefragt sein.Und dann die plötzliche Bedeutungslosigkeit
in der Pension.Wird das die schwierigste Herausforderung? «Keineswegs! Ich
freue mich:auf Konzerte, Kunst, Kulinarik und KörperWellness»,sagt Zemp.Mit
Veränderung habe er, der Konstante, ausreichend Erfahrung: «Ich habe schon
zwei Leben aufgegeben: eines als Lehrer und eines als Musiker.»Und wäre Zemp nun der Profimusiker, der er als Jugendlicher werden wollte, dann wäre dies sein
Abschiedskonzert. Wie er mit grosser Geste von der Bühne in den Saal des Hotels Murten
spricht. Wie ihm dabei das Licht effektvoll seitlich ins Gesicht fällt. Wie er
routiniert das Publikum einschwört. In diesen letzten Momenten an
der Verbandsspitze spielt Zemp eine Ballade.Etwas Wehmut, ein eingängiger Refrain.Sie
handeltvom Loslassen.
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