Digitalisierter Unterricht, Integration von leistungsschwachen und
hochbegabten Schülerinnen und Schülern in Regelklassen, Wegrationalisierung von
Kleinklassen. Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder in teure Privatschulen,
weil sie in der öffentlichen Schule «untergehen». Laut «Blick» hat sich die Zahl der Privatschülerinnen und
-schüler im Kanton Zürich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt.
Woran krankt unser Schulystem, Schweizer Illustrierte, Familienblog, 21.6. von Sandra C.
Noch mehr schockt mich allerdings eine andere Zahl: Laut «20 Minuten»
ist jedes fünfte Schulkind verhaltensauffällig. Kein Wunder ist eine einzelne
Lehrperson total überfordert und burnoutgefährdet.
Man stelle sich vor: eine Klasse mit 25 Kids, denen man in einer gewissen
Zeitspanne den Lehrplan verklickern muss. Und fünf stellen sich quer. Da
wunderts mich echt nicht, dass man als Lehrerin oder Lehrer so hilflos ist, wie
ich das zuweilen auch in meinem Umfeld beobachte.
Früher war alles einfacher
Nun ist es bei weitem nicht so, dass ich der «Früher war alles
besser»-Fraktion angehöre. Aber was die Schule betrifft, war früher zumindest
alles einfacher. Das heisst nicht zwingend, dass es besser war. Die Regeln
waren klar. Es gab verbindliche Stundenpläne, Hausaufgaben, Lernziele,
Prüfungen, Noten. Wer zu schlecht war, wiederholte eine Klasse. Für
Querschläger gabs Sanktionen. Wenn die nicht fruchteten, wurden sie aus der
Klasse genommen.
Heute gibt es Wochenpläne, individuelle Prüfungstermine, integrative
Förderung, Hausaufgaben auf Zeit und nach Wahl. Das ist nicht grundsätzlich
schlecht. Nur funktioniert es oft nicht so, wie es sollte.
Viele Wege, ein Ziel
Mir kommt unser Schulsystem ein bisschen so vor, als hätte man auf einem
Wanderweg den einen, klaren Wegweiser durch etwa fünf ersetzt, auf denen das
gleiche Ziel steht, die aber alle in verschiedene Richtungen zeigen. Und man
erwartet am Ende, dass alle Kinder zur gleichen Zeit am gleichen Ort
angelangen. Wie unrealistisch das ist, zeigt die Tatsache, dass heute ein guter
Teil der Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit den
vorgeschriebenen Stoff nicht intus haben.
Meine Tochter machte im Frühling die Gymiprüfung, um nach der zweiten
Sek ins dritte Gymi zu wechseln. Sie ist eine der Klassenbesten, hat in fast
jedem Fach gute Noten. Ich war lange Zeit der Meinung, wenn ich sie mit einem –
nicht gerade günstigen – Vorbereitungskurs auf die Prüfung ins Gymnasium pushen
muss, gehört sie dort schlicht und einfach nicht hin. Ich wurde eines Besseren
belehrt.
Schlussendlich besuchte sie doch so einen Kurs. Warum? Weil sie den für
die Prüfung geforderten Stoff im regulären Schulunterricht noch nicht
durchgenommen hatte, und ihn sich selbst aneignen musste. Man bietet in unserem
System also einen Stufenwechsel an, für den man die schulischen Voraussetzungen
gar nicht mehr schafft.
Wehe, die Lehrpersonen machen Fehler!
Nun ist es halt so: Je weniger Leitplanken das System setzt, desto mehr
davon müssen die Lehrpersonen bieten. Sie müssten die Kinder an der Hand nehmen
– manche mehr, manche weniger – und Ordnung in das Gewirr von Wegweisern
bringen. Und zwar jedes einzelne. 25. Zwei davon sprechen kaum die
Landessprache. Eines ist hochbegabt und jeden Weg schon drei mal gerannt und
ultimativ gelangweilt, und bleibt deshalb aus Trotz einfach mal an Ort und
Stelle sitzen.
Eines schafft den Weg nur, wenn man es die ganze Zeit an der Hand hält
und nicht loslässt. Und eines benimmt sich total daneben, und keiner hat eine
Ahnung, warum. Vermutlich stressen es unter anderem die vielen Wegweiser. Hätte
es nur den einen, wäre er gar nicht verhaltensauffällig. Und die Lehrpersonen –
im besten Fall sinds zwei, aber auch das ist meist Utopie – müssen alle 25 auf
verschiedenen Wegen zur gleichen Zeit an den gleichen Ort bringen. Und wehe,
sie machen dabei einen Fehler. Dann gibt’s aufs Dach. Von den Eltern. Und den
Vertretern des Systems, von denen die meisten noch gar nie eine solche Wanderung
absolvieren mussten.
Die Theorie klingt ja gar nicht so schlecht. Man begibt sich zusammen
auf diese Wanderung. Jeder wählt seinen eigenen Weg, sein eigenes Tempo. Wer
unterwegs Hilfe braucht, dem wird geholfen. Von einer Lehrperson, von anderen
Kindern und von einem Heilpädagogen, der sich um die «schwierigen» Fälle
kümmert. Der denen, die kein Deutsch sprechen, mit Händen und Füssen den Weg
erklärt. Der dem Hochbegabten eine Sonderaufgabe gibt und ihm die Hand zum
Aufstehen reicht.
Der dem, der mit den vielen Wegweisern überfordert ist, hilft, den für
ihn Passenden zu finden. Und dann den, der das braucht, an der Hand nimmt und
sie nicht mehr loslässt, solange das nötig ist. Die Realität ist anders. Es
fehlen nicht nur an allen Ecken und Enden Lehrpersonen, sondern vor allem auch
schulische Heilpädagoginnen und -pädagogen, die sich um die Kinder kümmern
sollen, die man auf Biegen und Brechen in den Regelklassen integrieren will.
Nicht richtig schlecht. Aber mühsam
Aber: Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es eben echt gut sein
kann, dieses System, wenn es denn funktioniert. Mein Sohn war von Anfang an
einer, der nicht so richtig zurechtkam mit all diesen Wegweisern. Nicht
vollkommen planlos, aber doch öfter überfordert. Kein Querschläger, aber halt
einer, der – auch aus Überforderung – nie so richtig Bock hatte. Nicht der, der
trotzend am Boden sass oder nach Aufmerksamkeit schrie, aber der, der öfter mal
im Kreis lief.
Kein richtig schlechter Schüler. Aber auch kein richtig guter. Einer,
dem man immer wieder mal nachlaufen musste. Mühsam, weil man dafür keine Zeit
hatte. Schliesslich gab es noch die, die vollkommen planlos waren. Und die, die
trotzten und schrien. Um die musste man sich zuerst kümmern.
Vor drei Jahren kam er in eine altersdurchmischte Klasse. Und traf dort
auf eine Lehrerin, einen Lehrer und einen schulischen Heilpädagogen, die ihn
nicht einfach in der «Mühsam-Schublade» stecken liessen, sondern sie – trotz
Widerstand seinerseits – öffneten und ihn rausholten. Die in ihm das sensible,
soziale Kind erkannten, das er ist – und auch erkannten, dass genau das seine
Stärken sind. Und mein Sohn, für den die Schule bis anhin immer mit einem
gewissen Versagensgefühl behaftet gewesen war, erlebte zum ersten Mal Erfolge.
Die waren anfangs nicht per se schulisch. Aber er erlebte sich selbst
erstmals als jemand, der anderen – jüngeren oder schwächeren in seiner Klasse –
helfen und etwas erklären konnte. Das steigerte sein Selbstbewusstsein.
Parallel dazu stiegen tatsächlich seine Noten. Vergangenes Jahr wurde er als
Vertreter seiner Klasse in den Klassenrat gewählt. Hätte mir das jemand vor
vier Jahren gesagt, hätte ich es für unmöglich gehalten. Jetzt steht er vor dem
Übertritt in die Oberstufe, hat Noten, die völlig in Ordnung sind, und vor
allem das Vertrauen in sich selbst, dass er etwas erreichen kann, wenn er will.
Braucht es wieder mehr Leitplanken?
Wir hatten das Glück, auf Lehrpersonen zu treffen, welche die Gabe
haben, sich einigermassen sicher in dem Wegweiser-Dschungel zu bewegen. Und das
auch noch mit Freude. Das ist offenbar eher selten der Fall. Schade. Vielleicht
sollte man sich doch überlegen, wieder ein paar Leitplanken mehr in dem System
zu verankern.
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