Die
Telefone in den psychiatrischen Ambulatorien laufen seit Wochen heiss, wie «20
Minuten» unlängst berichtete: Vor den Sommerferien suchen verzweifelte Eltern
Hilfe, weil ihre Kinder Schwierigkeiten beim Lernen haben, weil sie wegen ihres
Verhaltens in der Schule kaum mehr tragbar sind, weil sie in eine Sonderschule
sollen. Recherchen des «Tages-Anzeigers» bestätigen das. Allein das kinder- und
jugendpsychiatrische Ambulatorium Zürich Nord der Psychiatrischen Uniklinik
verzeichnete im Mai 38 Anmeldungen, im März waren es noch 28. Noch deutlicher
war der Anstieg letztes Jahr: 12 Anmeldungen im März, 32 im Mai.
Vor den Ferien noch zum Psychiater, Tages Anzeiger, 29.6. von Liliane Minor
Es
ist ein Phänomen, das alle kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken kennen.
Droht der Schuljahreswechsel, geraten Eltern von Kindern, die Probleme machen,
in Panik. «Oft steht ein Wechsel in eine Sonderschulung an, die Eltern aber
sind skeptisch und wünschen, dass das Kind in der Regelklasse bleibt», sagt
Frederike Kienzle, Oberärztin am Ambulatorium Zürich Nord. «Dann erhoffen sie
sich von uns eine Abklärung und die Bestätigung, dass ihr Kind das nicht
braucht.» Denn mitunter zeige ein Kind nur in der Schule ein auffälliges
Verhalten, nicht aber daheim. Auch Schulen würden vermehrt Kinder und
Jugendliche, die Schwierigkeiten machen, für Abklärungen anmelden, weil sie
nichts übersehen wollen oder glauben, «da ist doch was, das Kind hat doch was».
Langer
Leidensweg
Fana
Asefaw, Leiterin des kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulatoriums der
Clienia in Winterthur, kennt das. Auch sie verzeichnet mehr Anmeldungen vor den
Sommerferien.
Neben
jenen Eltern, die eine Sonderschulung vermeiden wollen, gebe es aber auch
Mütter und Väter, die mithilfe der Psychiatrie einen Platz und die optimale
Förderung für ihr Kind erzwingen wollen: «Es gibt Eltern, die sagen mir, o
Gott, bald ist das Schuljahr zu Ende, und ich weiss noch immer nicht, wie es
mit meinem Kind weitergeht.» Andere haben Angst, dass es auch in der
Sonderschule versagt.
Meist
haben die Familien bis dahin schon einen langen Leidensweg hinter sich. Zum
Beispiel jene Eltern, die mit ihrem Kind unlängst bei Fana Asefaw im
Ambulatorium standen. Schon im Kindergarten zeigte sich das Kind renitent,
passte nicht auf, war ungehorsam, prügelte andere. Dennoch versuchte die
Schule, das Kind so gut wie möglich zu integrieren, so, wie es das Gesetz
verlangt. Doch die Lage spitzte sich über die Jahre immer mehr zu, bis das Kind
in der dritten Klasse begann, mit Stühlen nach Mitschülern und Lehrern zu
werfen.
Von
einem Tag auf den anderen musste das Kind zu Hause bleiben. Ohne Sonderschulung
sei das Kind nicht mehr tragbar, beschied die Schule den Eltern - und liess sie
dann wochenlang auf eine Abklärung warten, denn ohne Abklärung gibt es keine
Sonderschulung. Für die Eltern kam das völlig überraschend. «Zwar hatten sie
zuvor immer wieder Schulgespräche, und man sagte ihnen, ihr Kind sei
schwierig», sagt die Psychiaterin. «Aber niemand zeigte ihnen
Lösungsmöglichkeiten. Dabei waren die Eltern selbst überfordert.» Nach den
Sommerferien soll das Kind nun in eine Privatschule - die Eltern aber haben
Angst, dass auch das nicht geht und dass sich die Lage zu Hause nicht bessert.
Solche
Geschichten sehe sie immer wieder, sagt Asefaw: «Die Schulen versuchen über
Monate, teilweise Jahre, die Kinder mitzutragen, bis es irgendwann eskaliert.»
Das Problem ist aus ihrer Sicht häufig die Zusammenarbeit mit den Eltern, die
sich sehr schwierig gestalte: «Oft braucht es auch eine Veränderung bei den
Eltern, damit das Kind sein Verhalten ändert.» Dafür aber brauche es eine
Zusammenarbeit mit Fachleuten wie Familienhelfern oder Psychotherapeuten.
Asefaw betont, das sei keine pauschale Kritik an der integrativen Schulung.
Aber ihr falle auf, dass manche Schulpsychologischen Dienste nicht rechtzeitig
Hilfe anböten. Dann drohe die Situation auch zu Hause zu eskalieren: «Die Folge
kann sein, dass das Kind sein Verhalten immer mehr verinnerlicht und
intensiviert.» Ist die Krise dann akut, «wird alles an die Psychiatrie
delegiert».
Oberärztin
Kienzle beobachtet Ähnliches. Auch sie will die schulische Integration nicht
schlechtreden: «Aber sie kann wahnsinnig viel Stress verursachen, wenn Eltern
und Kind zum Beispiel immer wieder zu Gesprächen - teilweise mit
unterschiedlichen Fachpersonen - aufgeboten werden, aber keine spürbare Hilfe
erhalten.» Manchmal müssen Familien monatelang warten, bis sie vom
Schulpsychologen oder vom Ambulatorium einen Termin erhalten.
Auch
Eltern unterstützen
Nicht
selten seien Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern kein Ausdruck einer
psychischen Krankheit, sondern davon, dass die Verhältnisse in den Familien
desolat sind oder dass das Kind eine Lernbehinderung hat. Wenn nicht auch die
Eltern Unterstützung erhalten, könne sie als Psychiaterin in solchen Fällen
kaum helfen, sagt Kienzle: «Es bringt wenig, mit einem Kind einmal pro Woche
Psychotherapie zu machen, wenn es daheim zu wenig Struktur hat oder wenn sich
die Auffälligkeiten nur in der Schule zeigen.» Asefaw pflichtet dem bei: Es sei
Sache der Schulpsychologischen Dienste, hier frühzeitig aktiv zu werden und
eine Zusammenarbeit mit anderen Fachleuten anzustreben. Vor allem bei kleineren
Diensten passiere das oft zu langsam und zu wenig konsequent.
Bigna
Bernet ist Schulpsychologin und Co-Präsidentin der Vereinigten
Schulpsychologinnen und Schulpsychologen des Kantons Zürich. Sie sagt, der
Ansturm vor den Sommerferien betreffe keineswegs nur die psychiatrischen
Ambulatorien: «Auch die Schulpsychologischen Dienste haben vor den Sommerferien
mit mehr Notfällen und Krisen zu tun.» Und auch hier ist der Schuljahreswechsel
spürbar, vor allem dann, wenn gleich zeitig ein Wechsel in die nächsthöhere
Schulstufe ansteht oder die Frage nach einer Sonderschulung im Raum steht.
Die
Kritik der Psychiaterinnen ist für Bernet zu einseitig und zu pauschal, in
Einzelfällen aber nicht völlig unberechtigt: «Schulpsychologen und Schulpsychologinnen
können viel dazu beitragen, dass es nicht zu Notfallübungen kommt. Aber dafür
braucht es einen einfachen, schnellen Zugang und eine gute Zusammenarbeit mit
den Schulen. Und das ist nicht überall der Fall.» Ein Problem liegt aus ihrer
Sicht in der Gemeindeautonomie: Im Kanton Zürich sind die Gemeinden für die
Schulpsychologischen Dienste zuständig, und es sei nicht gewährleistet, dass
überall das umgesetzt wird, was den Familien und der Schule am meisten dient.
Das erschwere auch die Zusammenarbeit mit den kinder- und jugendpsychiatrischen
Diensten: «Wir sind von unserer Seite her aber daran, diese zu verbessern.»
Roland
Käser, ein erfahrener Schulpsychologe, der in den letzten Jahren in
verschiedenen Gemeinden als Springer im Einsatz war, teilt diese Einschätzung:
«Die Möglichkeiten der Schulpsychologischen Dienste sind sehr unterschiedlich.»
Budgets und Stellenpläne der Schulen seien eng: «Viele müssen zusehen, was mit
den geschrumpften Angeboten überhaupt noch machbar ist.» Dem stehe der verständliche
Anspruch der Eltern auf eine bestmögliche Förderung gegenüber: «Eltern und
Kinder leiden manchmal absurd, wenn das Kind keine oder nicht genügend
Therapien erhält.»
Vermisste
Kleinklassen
Was
die Sache aus Sicht von Käser und Bernet erschwert: Mit der integrativen
Schulung sind die bisherigen Kleinklassen für Kinder mit Verhaltensproblemen
oder Lernschwierigkeiten verschwunden. Heute erhalten die betroffenen Kinder
während des normalen Unterrichts zwei bis drei Lektionen Unterstützung von
einer heilpädagogischen Fachperson. Reicht das nicht, kommt als nächsthöhere
Stufe die integrierte Sonderschulung zum Zug: Das Kind wird beispielsweise
während sechs bis neun Lektionen in einer kleinen Gruppe gezielt gefördert.
Führt auch das nicht zum Ziel, kann eine externe Sonderschule die einzige
verbleibende Option sein.
Zwar
sei es grundsätzlich richtig, dass die Schulen alles probierten, um jeden Buben
und jedes Mädchen zu integrieren, sagt Bernet: «Aber wir würden uns mehr
Handlungsspielraum und Zwischenformen wünschen.» Ohne Kleinklassen fehle zum
Beispiel eine Möglichkeit, Kinder für eine gewisse Zeit ganztags in einer
kleinen Gruppe innerhalb der Schule zu fördern. Käser sieht es ähnlich: «Manche
Kinder fallen buchstäblich zwischen Stuhl und Bank, weil kein Angebot für sie
passt.»
Solche
Kinder sind es, die dann schliesslich in den psychiatrischen Ambulatorien
landen.
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