9. Juni 2019

Viele Vorurteile zum Home-Schooling


Elias Villiger und sein älterer Bruder haben es allen gezeigt. Die beiden jungen Aargauer waren bei den Abschlussprüfungen nach der neunten Klasse die Jahrgangsbesten. Und das war erst der Anfang. Scheinbar mühelos erarbeiteten sie sich weitgehend selbstorganisiert den Stoff für die Hochschulreife, um ein paar Jahre später auch bei der eidgenössischen Maturaprüfung zu brillieren. Die beiden Brüder belegten schweizweit die Plätze 1 und 3.
Nach einem Studienaufenthalt in den USA steht Elias Villiger heute im vierten Jahr seines Medizinstudiums an der Universität Zürich. Sein ein Jahr älterer Bruder war ebenfalls in Amerika und hat danach in Zürich einen Master in Mathematik erworben. Zurzeit absolviert er eine Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule. Ihre Berufsziele haben die beiden klar vor Augen: Elias Villiger will Hausarzt werden, sein Bruder möchte auf Gymnasialstufe Mathematik unterrichten.
Elias Villiger ging bei seinen Eltern zu Hause in die Schule - und wurde zum besten Maturanden seines Jahrgangs, NZZ, 6.6. von Claudia Wirz


Eltern gegen Behörden in Basel
Was auf den ersten Blick nach Musterschülern aussieht, passt bei genauerem Hinsehen so gar nicht ins Musterbuch der Bildungsbürokratie. Denn Elias Villiger und seine insgesamt neun Geschwister sind Home-Schooler: Sie gehören zu jener winzigen Bevölkerungsminderheit, die ihren Schulunterricht zu Hause unter der Anleitung der Eltern genossen hat oder noch geniesst.

Insgesamt werden in der Schweiz rund 2000 Kinder und Jugendliche auf diese Art unterrichtet. Die Kantone Waadt und Bern sind die Hochburgen des Home-Schooling mit rund 650 beziehungsweise 570 zu Hause unterrichteten Schülern. Der Aargau und Zürich folgen auf den Plätzen 3 und 4. Die Datenlage zum Home-Schooling ist allerdings dürftig. Und das Phänomen ist wenig beforscht, wodurch Vorurteile zu dieser Unterrichtsform leicht zu kultivieren sind.

Die genannten Zahlen stammen aus Umfragen aus den Kantonen, die den Heimunterricht mal liberaler, mal restriktiver regulieren. Home-Schooler machen zwar nur eine kleine Minderheit aus, ihre Anzahl nimmt aber stetig zu. Die Motive, die Eltern dazu bewegen, ihre Kinder selber zu unterrichten, sind unterschiedlich. Früher hätten oft freikirchliche Kreise den Privatunterricht zu Hause geprägt. Heute stammten typische Home-Schooling-Eltern eher aus dem links-grün-alternativen Milieu, sagt Elias Villigers Vater Willi ­Villiger, selber Lehrer auf Sekundarstufe und Präsident des Vereins Bildung zu Hause.

Auch Mobbing in der Schule kann Eltern dazu bewegen, ihr Kind selber zu unterrichten, wie ein Fall aus Basel zeigt, der zurzeit die Justiz beschäftigt. Die Basler Behörden haben den Eltern eines überdurchschnittlich begabten und mutmasslich gemobbten Kindes keine Bewilligung für Home-Schooling ­erteilt.

Zu viel Selbstbestimmung macht verdächtig
Selbstorganisiertes Lernen, kurz SOL, ist zwar ein in einschlägigen Kreisen vielgelobtes pädagogisches Konzept. Es soll den Schülern Werte wie Selbstbestimmung und Selbstmotivation beibringen. Doch zu viel der Selbstbestimmung ist dann auch wieder suspekt.

Und so ist Home-Schooling, die selbstorganisierte Art des Unterrichts par excellence, unter Beobachtung von Politik und Behörden. Der Berner SP-Nationalrat Adrian Wüthrich will mit dem Kantönligeist in dieser Frage aufräumen und regt eine schweizweit einheitliche Regulierung von Home-Schooling an. Schon im Berner Grossen Rat hatte der Präsident des Gewerkschaftsverbandes Travail­suisse einen Vorstoss zum Home-Schooling deponiert.
Wüthrich macht sich vor allem Sorgen um die sozialen Kompetenzen. Home-Schooling steht im Verdacht, diese Fertigkeiten zu wenig zu stärken. Ob Wüthrich konkreten Anlass für seine Befürchtungen hat, sei dahingestellt; auf wiederholte Anfragen dieser Zeitung hat er nicht reagiert.

«Wir wollen es mit der Volksschule probieren.»
Elias Villiger, einst von den Eltern zu Hause unterrichteter Schüler und heute zweifacher Familienvater

Elias Villiger, der bis zur dritten Klasse die öffentliche Schule besucht hatte, kann Wüthrichs Sorge nicht teilen, zumindest nicht in dieser grundsätzlichen Art. «Sozialisierung ist so ein magisches Wort», sagt er. Nicht jeder, der an der öffentlichen Schule sei, sei gut sozialisiert. Und nicht jeder, der zu Hause unterrichtet werde, sei schlecht sozialisiert. Eine gewisse strukturelle Gefahr gebe es im Home-Schooling durchaus, meint der angehende Arzt, aber dem könne man entgegenwirken. Villigers kannte man im Dorf, die Kinder waren in der Musikgesellschaft oder gingen sommers ins Lager. Und unter zehn Geschwistern hatte man gar keine andere Wahl, als sich zu sozialisieren.

Fast alle studieren
Gelernt wurde fast ausschliesslich selbstorganisiert. «Ich habe meinen Kindern keine einzige Stunde Unterricht erteilt», sagt Willi Villiger. Es habe einen fixen Stundenplan gegeben, und das tägliche Pflichtenheft habe man jeweils am Vorabend mit den Eltern besprochen, sagt Elias Villiger. Die Schulleistungen wurden vom Inspektorat kontrolliert und geprüft wie bei anderen Schülern auch. Die jährlichen behördlichen Kontrollen gaben nie Anlass zu Beanstandungen.

Alle Villiger-Geschwister, die die Schulzeit schon hinter sich haben, studieren; bis auf einen Sohn, der lieber eine Lehre als Automobilmechatroniker macht. Für Elias Villiger war Home-Schooling die bessere Variante. Er ist aber keineswegs ein Gegner der öffentlichen Schule. Selber bereits Vater zweier kleiner Töchter, steht für ihn schon jetzt fest: «Wir wollen es mit der Volksschule probieren.»


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