Elias Villiger und sein älterer Bruder haben es allen gezeigt. Die
beiden jungen Aargauer waren bei den Abschlussprüfungen nach der neunten Klasse
die Jahrgangsbesten. Und das war erst der Anfang. Scheinbar mühelos
erarbeiteten sie sich weitgehend selbstorganisiert den Stoff für die
Hochschulreife, um ein paar Jahre später auch bei der eidgenössischen
Maturaprüfung zu brillieren. Die beiden Brüder belegten schweizweit die Plätze
1 und 3.
Nach einem Studienaufenthalt in den USA steht Elias Villiger heute im
vierten Jahr seines Medizinstudiums an der Universität Zürich. Sein ein Jahr
älterer Bruder war ebenfalls in Amerika und hat danach in Zürich einen Master
in Mathematik erworben. Zurzeit absolviert er eine Ausbildung an der
Pädagogischen Hochschule. Ihre Berufsziele haben die beiden klar vor Augen:
Elias Villiger will Hausarzt werden, sein Bruder möchte auf Gymnasialstufe
Mathematik unterrichten.
Elias Villiger ging bei seinen Eltern zu Hause in die Schule - und wurde zum besten Maturanden seines Jahrgangs, NZZ, 6.6. von Claudia Wirz
Eltern gegen Behörden in Basel
Was auf den ersten Blick nach Musterschülern aussieht, passt bei
genauerem Hinsehen so gar nicht ins Musterbuch der Bildungsbürokratie. Denn
Elias Villiger und seine insgesamt neun Geschwister sind Home-Schooler: Sie
gehören zu jener winzigen Bevölkerungsminderheit, die ihren Schulunterricht zu
Hause unter der Anleitung der Eltern genossen hat oder noch geniesst.
Insgesamt werden in der Schweiz rund 2000 Kinder und Jugendliche auf
diese Art unterrichtet. Die Kantone Waadt und Bern sind die Hochburgen des
Home-Schooling mit rund 650 beziehungsweise 570 zu Hause unterrichteten
Schülern. Der Aargau und Zürich folgen auf den Plätzen 3 und 4. Die Datenlage
zum Home-Schooling ist allerdings dürftig. Und das Phänomen ist wenig
beforscht, wodurch Vorurteile zu dieser Unterrichtsform leicht zu kultivieren
sind.
Die genannten Zahlen stammen aus Umfragen aus den Kantonen, die den
Heimunterricht mal liberaler, mal restriktiver regulieren. Home-Schooler machen
zwar nur eine kleine Minderheit aus, ihre Anzahl nimmt aber stetig zu. Die
Motive, die Eltern dazu bewegen, ihre Kinder selber zu unterrichten, sind
unterschiedlich. Früher hätten oft freikirchliche Kreise den Privatunterricht
zu Hause geprägt. Heute stammten typische Home-Schooling-Eltern eher aus dem
links-grün-alternativen Milieu, sagt Elias Villigers Vater Willi Villiger,
selber Lehrer auf Sekundarstufe und Präsident des Vereins Bildung zu Hause.
Auch Mobbing in der Schule kann Eltern dazu bewegen, ihr Kind selber zu
unterrichten, wie ein Fall aus Basel zeigt, der zurzeit die Justiz beschäftigt.
Die Basler Behörden haben den Eltern eines überdurchschnittlich begabten und
mutmasslich gemobbten Kindes keine Bewilligung für Home-Schooling erteilt.
Zu viel Selbstbestimmung macht
verdächtig
Selbstorganisiertes Lernen, kurz SOL, ist zwar ein in einschlägigen
Kreisen vielgelobtes pädagogisches Konzept. Es soll den Schülern Werte wie
Selbstbestimmung und Selbstmotivation beibringen. Doch zu viel der
Selbstbestimmung ist dann auch wieder suspekt.
Und so ist Home-Schooling, die selbstorganisierte Art des Unterrichts
par excellence, unter Beobachtung von Politik und Behörden. Der Berner
SP-Nationalrat Adrian Wüthrich will mit dem Kantönligeist in dieser Frage
aufräumen und regt eine schweizweit einheitliche Regulierung von Home-Schooling
an. Schon im Berner Grossen Rat hatte der Präsident des Gewerkschaftsverbandes
Travailsuisse einen Vorstoss zum Home-Schooling deponiert.
Wüthrich macht sich vor allem Sorgen um die sozialen Kompetenzen.
Home-Schooling steht im Verdacht, diese Fertigkeiten zu wenig zu stärken. Ob
Wüthrich konkreten Anlass für seine Befürchtungen hat, sei dahingestellt; auf
wiederholte Anfragen dieser Zeitung hat er nicht reagiert.
«Wir wollen es mit der Volksschule probieren.»
Elias Villiger, einst von den Eltern zu Hause unterrichteter
Schüler und heute zweifacher Familienvater
Elias Villiger, der bis zur dritten Klasse die öffentliche Schule
besucht hatte, kann Wüthrichs Sorge nicht teilen, zumindest nicht in dieser
grundsätzlichen Art. «Sozialisierung ist so ein magisches Wort», sagt er. Nicht
jeder, der an der öffentlichen Schule sei, sei gut sozialisiert. Und nicht
jeder, der zu Hause unterrichtet werde, sei schlecht sozialisiert. Eine gewisse
strukturelle Gefahr gebe es im Home-Schooling durchaus, meint der angehende
Arzt, aber dem könne man entgegenwirken. Villigers kannte man im Dorf, die
Kinder waren in der Musikgesellschaft oder gingen sommers ins Lager. Und unter
zehn Geschwistern hatte man gar keine andere Wahl, als sich zu sozialisieren.
Fast alle studieren
Gelernt wurde fast ausschliesslich selbstorganisiert. «Ich habe meinen
Kindern keine einzige Stunde Unterricht erteilt», sagt Willi Villiger. Es habe
einen fixen Stundenplan gegeben, und das tägliche Pflichtenheft habe man jeweils
am Vorabend mit den Eltern besprochen, sagt Elias Villiger. Die Schulleistungen
wurden vom Inspektorat kontrolliert und geprüft wie bei anderen Schülern auch.
Die jährlichen behördlichen Kontrollen gaben nie Anlass zu Beanstandungen.
Alle Villiger-Geschwister, die die Schulzeit schon hinter sich haben,
studieren; bis auf einen Sohn, der lieber eine Lehre als Automobilmechatroniker
macht. Für Elias Villiger war Home-Schooling die bessere Variante. Er ist aber
keineswegs ein Gegner der öffentlichen Schule. Selber bereits Vater zweier
kleiner Töchter, steht für ihn schon jetzt fest: «Wir wollen es mit der
Volksschule probieren.»
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