Im Petersschulhaus in Basel gibt es ein sogenanntes
«Pullout-Zimmer». Es ist ein kleines Zimmer für eine besondere Klasse. Fünf
besonders begabte Kinder im Alter von neun und zehn Jahren können hier einen
Vormittag lang in ihrem Tempo auf ihrem Niveau an einem eigenen Thema arbeiten.
Jedes fünfte Schulkind ist unterfordert, SRF, 6.6. von Irène Dietschi
Eine tolle Sache für die Buben und Mädchen. «Ich
finde es mega», sagt ein Kind. «Schule macht Spass, aber das hier macht mehr
Spass, wir sind hier viel selbstständiger», sagt ein anderes.
Fehlende Regeln
Das Pullout-Programm ist ein Element eines
mehrstufigen Förderprogramms in Basel-Stadt. Der Stadtkanton tut viel, um
begabte Kinder zu fördern. Auch in der Stadt Zürich mit ihrem hohen Anteil an
bildungsbeflissenen Eltern kommen besonders kluge Kinder auf ihre Rechnung.
Doch Basel und Zürich sind bei weitem nicht die
Norm: «An vier von fünf Schulen hierzulande gibt es keine systematische
Förderung von Begabten», sagt Victor Müller-Oppliger, Professor an der
Pädagogischen Hochschule FHNW.
Der Schweiz fehlten verbindliche Regeln und
Strukturen, um den Bedürfnissen solcher Kinder zu entsprechen.
Förderung im Ausland
selbstverständlich
In den meisten hochentwickelten Bildungsnationen
ist die Begabtenförderung bildungspolitisch fest verankert. Österreich etwa
leistet sich ein grosses Zentrum für Begabungsförderung, das – so
Müller-Oppliger – mit Ressourcen ausgestattet sei, um «national wirksam» zu
sein.
Deutschland fördert «leistungsstarke und
leistungsfähige» Kinder in einem bundesweiten Projekt, dem sogenannten
Lemas-Projekt, dem 125 Millionen Euro zur Verfügung stehen.
Ganz zu schweigen von Ländern ausserhalb Europas:
«In Kanada und den USA, aber auch in Korea oder Japan ist Begabtenförderung
selbstverständlich, es geht ja um die klugen Köpfe von morgen», so
Müller-Oppliger.
Sich um kluge Kinder kümmern
In der Schweiz gibt es zwar eine Vielzahl von
Programmen, Projekten und Initiativen, die sich ums begabte Kind kümmern. Jeder
Kanton, der etwas auf sich hält, schreibt sich die Begabtenförderung auf die
Fahne beziehungsweise ins Leitbild seiner Volksschule.
Verbindlich aber ist dies alles nicht. Ein
beträchtlicher Anteil dieser Programme wird ausserdem von Stiftungen
finanziert. Der Staat sieht sich kaum in der Pflicht: «Begabte zu fördern gilt
als nice to have», bilanziert Victor Müller-Oppliger. «Die Schule ist überall
so gut, wie die Leute vor Ort kompetent sind und sich Mühe geben.»
Dabei wäre jedes fünfte Schulkind zu deutlich mehr
fähig, als es in der Schule tatsächlich leistet. Das zeigen zahlreiche Studien.
Doch: Machen besonders kluge Kinder nicht ohnehin ihren Weg? Ohne, dass sie
speziell gefördert werden?
Letizia Gauck, Expertin für Begabtenförderung an
der Universität Basel, verneint: «Dieses Vorurteil hat sich sehr lange
gehalten», sagt sie. «Heute wissen wir eindeutig: Potenzial setzt sich nicht
automatisch in Leistung um.»
Wenn talentierte Kinder sich schulisch nicht
abgeholt fühlen kann ihnen das schaden. Im schlimmsten Fall werden sie zu
Schulverweigerern. Deshalb gilt es zunächst, diese Kinder überhaupt zu
erkennen.
Talente nutzen
Denn sie fallen in der Klasse nicht ohne weiteres
auf, auch den Lehrpersonen nicht. Victor Müller-Oppliger geht davon aus, dass
mindestens ein Drittel der Kinder mit «Potenzialen» in der Klasse übersehen
werden.
Was also soll man tun? «Zunächst einmal die
Lehrerinnen und Lehrer sensibilisieren», sagt Müller-Oppliger. Die FHNW hat
unter anderem ein Screening entwickelt – ein Instrument, mit dem in Basel-Stadt
alle Schülerinnen und Schüler zu Beginn der 3. Klasse umfassend getestet
werden. Ziel ist herauszufinden, ob ein Kind möglicherweise nicht sein ganzes
Talent nutzt.
Doch über die Schulen hinaus wünscht sich
Müller-Oppliger mehr Rückenwind der nationalen Bildungspolitik. «Ein Land wie
die Schweiz ist auf Talente dringend angewiesen», sagt er.
Talente seien ein wesentliches Element des sozialen
und ökonomischen Kapitals. «So gesehen ist Begabtenförderung nicht einfach nice
to have, sondern verpflichtend», sagt Müller-Oppliger.
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