Ein
weisses Hemd, ein exakter Scheitel und ein Zeigefinger, der sich streckt und lang
wird wie ein Satz auf Juristendeutsch. «Die Schule», erklärt Didier Kipfer,
«muss wie jede andere staatliche Behörde auf ihr Handeln überprüft werden können.»
Wenn in der Steuerbehörde, im Verkehrsamt oder bei der Polizei ein Fehler
passiere, dann leuchte es jedem ein, dass dieser aufgedeckt werden soll. Warum
nicht auch in der Schule?
Der Mann, der Schulen verklagt, Basler Zeitung, 7.6. von Linus Schöpfer
Die reine
juristische Lehre, das ist bereits jetzt klar, hat der Zürcher Anwalt auf
seiner Seite. Dennoch sagt Kipfer: «Dieses Schulthema ist schon ziemlich
undankbar.» Müsste er – zum Beispiel–über gleiche Löhne für Frauen und Männer reden,
wäre das eine deutlich angenehmere Angelegenheit.
Dann legt
sich der 45-Jährige trotzdem ins Zeug: für die anwaltschaftliche Perspektive,
für die Prämissen der Jurisprudenz, für seine Arbeit. «Jeder hat in der Schweiz
einen Rechtsanspruch, wenn es rechtliche Fragen zu klären gibt.» Während viele
einen Autoritätsverfall der Lehrer beklagen, erkennt Kipfer eine unnötige Hierarchiegläubigkeit:
«Dem Lehrer am Zeug zu flicken, das geht bei uns nicht. Damit haben die
Schweizer Mühe.»
Lieber die alten Meister
Didier
Kipfer sitzt am langen Konferenztisch seiner Kanzlei an der Zürcher
Rämistrasse. Wenn er aus seinem Büro tritt, sieht er das Schauspiel- und das
Kunsthaus. Im selben Gebäude wie er arbeitet die Stiftung von Emil G. Bührle,
dem Industriellen und Kunstmäzen. Deshalb die vielen, oft abstrakten Bilder an
den Wänden. Er persönlich habe die alten Meister ja lieber, sagt der Jurist,
der in Zollikon an der Goldküste wohnt.
Kipfer hat
sich vor drei Jahren selbstständig gemacht. Als Neuling sei man etwas unsicher,
ob man sich etablieren könne im umkämpften Markt der Anwälte. Da habe er sich aufs
Arbeitsrecht und Verkehrsdelikte spezialisiert –und die Schule als Betätigungsfeld
entdeckt. Heute kann sich Kipfer vor Anfragen kaum retten. «Ich habe mir einen
Namen gemacht.» Fast hundert Prüfungen hat er mittlerweile angefochten, an
Schulen in der ganzen Deutschschweiz.
Auf dem Tisch
vor ihm liegen zwei Blätter, auf einem steht «Verfahrensfehler», auf dem
anderen «Ermessensentscheide». Am liebsten sind Kipfer die Verfahrensfehler.
Etwa, wenn die Prüfungsordnung bei der mündlichen Klausur drei Experten
vorsieht, aber nur ein einziger auftaucht. «In solchen Fällen erreiche ich in
der Regel eine Annullierung oder Wiederholung der Prüfung. »Oder wenn im Vorfeld
drei Prüfungsblöcke angekündigt werden, dann aber nur zwei Blöcke geprüft werden.
Grundsätzlich
gilt: Je detaillierter das Reglement einer Schule ist, desto anfälliger wird es
für Klagen. Desto eher wird es zum Juristenfutter.
Eine Chance
sieht Kipfer auch dann, wenn Lehrpersonen den sogenannten Ermessensspielraum
überreizen. Ein Beispiel aus Kipfers Praxis: Ein Lehrer fragte nach dem «grössten
Kanton der Schweiz». Kipfers Mandant antwortete mit «Zürich». Dafür gabs null Punkte,
weil der Lehrer den flächenmässig grössten Kanton gesucht hatte, also
Graubünden. Weil Zürich aber nun mal bevölkerungsmässig der grösste Kanton ist und
die Frage unklar gestellt war, war Kipfers Anfechtung erfolgreich.
Eine Güterabwägung
In erster
Instanz gelangt Kipfer meist an das SBFI, das Schweizerische Staatssekretariat für
Bildung, Forschung und Innovation. Unter Umständen würde er eine Prüfung hinauf
bis zum Bundesverwaltungsgericht anfechten. «Dort ist der Handlungsspielraum
aber deutlich enger», sagt Kipfer. «Ein Bundesrichter wird sich die Prüfung
nicht mehr selber anschauen.» Es gehe um eine Güterabwägung, erklärt der Anwalt
und rechnet vor: «Falls wir keinen Erfolg haben, verliert mein Mandant maximal 2000
Franken mit Gebühren und Anwaltskosten. Falls wir gewinnen, darf er ins
Berufsleben einsteigen.»
Machen
Eltern und Schüler bloss ihr gutes Recht geltend, wenn sie sich einen Anwalt nehmen?
Oderverfügen nur Reiche über das Geld, das Wissen und die Zeit, sich einen
Anwalt nehmen zu können? Lässt sich Bildungserfolg kaufen? Eine Frage, die sich
dieser Tage wieder stellt. Ein Bildungsskandal in den USA macht Schlagzeilen: Prominente
haben Prüfungsexperten geschmiert, um ihre Kinder an einer Elite-Uni wie Stanford
oder Yale unterzubringen. Unsportliche Schülerinnen verwandelten sich auf dem
Papier in Athletinnen und nahmen so die Zulassungshürde. Felicity Huffman,
bekannt als «Desperate Housewive», ist geständig.
Sicher, die
Causa Huffman ist ein Extremfall. Aber der Kult um Diplome, deren Erlangung
fast alle Zwecke heiligt, das ausserschulische Wettrüsten – sie finden auch bei
uns statt.
Bei Didier
Kipfer melden sich vor allem Eltern von Schülerinnen und Schülern, die durch die
Lehrabschlussprüfung gefallen sind. Angehende Detailhändler, Coiffeusen, Bauzeichner.Der
Anteil klagender Gymischüler nehme derweil markant zu, stellt der Anwalt fest. Er
hatte auch schon mit dem Gymnasium Rämibühl zu tun, das nur ein paar Meter von seiner
Kanzlei entfernt liegt: «Eltern wollten alle Prüfungen anfechten und so ihr Kind
durch die Matura boxen, obwohl sie offensichtlich keine Chance auf Erfolg
hatten.»
Bis zu acht Klagen pro Jahr
Und wie sehen
die Gymnasiumsvertreter die Angelegenheit? Das Realgymnasium Rämibühl muss sich
nach der Aufnahmeprüfung regelmässig mit Rekursen auseinandersetzen. Pro Jahr sind
es bis zu acht Klagen. Der Rechtsweg müsse selbstverständlich offen stehen,
beteuert Prorektor Philipp Wettstein.
Eltern dürften
Einsicht in die Prüfung und deren Korrekturen nehmen. Mit einer «sehr sorgfältigen»
Prüfung nach den reglementarischen Vorgaben wolle man Klagen möglichst
verhindern, sagt Wettstein. Das Einschalten eines Anwalts könne auch eine nichtjuristische
Wirkung haben, erklärt Kipfer. «Manchmal schauen sich die Lehrer eine Prüfung
nochmals an, wenn ich mich melde. Obwohl sie das, rein juristisch gesehen,
nicht tun müssten.» So könne es durchausvorkommen, dass tatsächlich noch ein,
zwei Punkte zugunsten des Schülers entdeckt werden.«Die wissen ja auch, wie viel
für meine Mandanten an der Sache hängt.» Ob er, der Zürcher Arztsohn, sich als
Schüler auch mal einen Anwalt gewünscht habe? Nein, sagt Kipfer, er habe nie
Probleme gehabt. Als Anwalt hat er für Schulversager keine Zeit, aussichtslose Fälle
lehnt er ab. Wenn es ums Erreichen einer genügenden Note gehe, sei ein
Mindestnotenschnitt von 3,8notwendig. «Damit kann ich arbeiten.» Auch müsse an einer
Prüfung sehr viel hängen – «Matura ja oder nein?», «Lehrabschluss jetzt oder
nie?». Wegen einer einzelnen Mathematikprüfung, die im Verlauf des Schuljahres vermasselt
wurde, käme niemand zu ihm, sagt Didier Kipfer. Er hält inne. «Noch nicht.»
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